# taz.de -- Patricio Guzmán über Indígenas: „Ein Land voller Verbrechen“ | |
> Der Film „El botón de nácar“ veranschaulicht die Grausamkeit der | |
> Pinochet-Diktatur. Regisseur Patricio Guzmán erklärt die Bedeutung des | |
> Perlmuttknopfs. | |
Bild: Chilenische Landschaftsaufnahme aus dem Film „El boton de nacar“. | |
Ein kleiner schmuckloser Raum im fünften Stock des Berlinale-Palasts, ganz | |
am Ende eines langen Ganges. Patricio Guzmán und die Produzentin Renate | |
Sachse sitzen auf Sesseln. Es ist das letzte Gespräch an diesem Nachmittag; | |
Guzmán, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, wirkt ein wenig erschöpft. | |
Es ist schön, seiner klaren, hellen Stimme zu lauschen, die vertraut | |
erscheint, weil sie aus dem Off auch den Film „El botón de nácar“ (Der | |
Perlmuttknopf) begleitet. | |
taz: Herr Guzmán, dachten Sie schon an „El botón de nácar“, als Sie an | |
„Nostalgia de la luz“ arbeiteten? Ich frage, weil „Nostalgia …“ in ei… | |
trockenen Landschaft angesiedelt ist, der neue Film dagegen in einer sehr | |
wasserreichen Gegend. War dieser Kontrast geplant? | |
Patricio Guzmán: Nein, das kam später. Es begann mit dem Buch „Das sensible | |
Chaos“ von einem Deutschen, Theodor Schwenk. Er schrieb viel über Wasser, | |
zum Beispiel, dass Wasser, wenn es sich bewegt, von den Planeten | |
beeinflusst sei, nicht nur vom Mond. Und von den Bewegungen des Wassers | |
seien wiederum wir alle beeinflusst. Das Wasser ist ein Mittler zwischen | |
uns und dem Kosmos. Wenn ich an Chile mit seiner 4.000 Kilometer langen | |
Küstenlinie denke, erscheint mir das besonders interessant. | |
Das heißt, der Kontrast von Trockenheit und Feuchtigkeit kommt … | |
… nachträglich. | |
Aber Sie arbeiten damit? | |
Vor allem habe ich drei Jahre daran gearbeitet, die Geschichte zu finden. | |
Denn Wasser ist etwas Abstraktes, man muss eine Geschichte erzählen. Also | |
bin ich nach Patagonien gefahren, was wirklich ein außergewöhnlicher Ort | |
ist. So leer! Wir haben Indígenas kennengelernt, etwa Gabriela Paterito, | |
die auch im Film vorkommt, eine sehr kluge Frau. Aber das reichte noch | |
nicht für einen Film. Dann stieß ich auf die Geschichte von Jemmy Button … | |
… einem Indígena, der 1830 mit Fitz Roy nach England reiste … | |
Fitz Roy war Humanist, ein aufgeklärter Geist. Aber er hatte die absurde | |
Idee, vier Indígenas mit nach London zu nehmen. Eine Zeitreise, die von der | |
Steinzeit Tausende von Jahren in die Zukunft führte. Einer der Indígenas | |
ging an Bord, weil ihm die Perlmuttknöpfe der Matrosen gefielen. Deswegen | |
nannten sie ihn Jemmy Button. Doch die Geschichte eines Toten zu erzählen | |
ist schwierig. Erst als ich in einem Gefängnis aus der Pinochet-Zeit ein | |
Schienenstück fand, an dem ein Knopf haftete, wusste ich: Das ist die | |
Geschichte. Ein Knopf erzählt die Geschichte der Indigenen, der andere die | |
Geschichte einer politischen Auslöschung. | |
In „Nostalgia de la luz“ gestatten Sie sich viele Abschweifungen, etwa auf | |
das Feld der Archäologie. Diesmal kommen Sie schneller zur Sache. Warum? | |
Weil es so viele Elemente gibt. Meine eigene Geschichte, die Landschaft, | |
die Indígenas, Jemmy Button, die Repression der Pinochet-Diktatur. Das muss | |
man rasch angehen – tut man es nicht, wird der Film zwei Stunden lang. Und | |
ich muss die Elemente einander gegenüberstellen. Würde ich sie ausdehnen, | |
würde der Film langweilig. | |
Sie vermitteln auch Aspekte indigener Kosmovision, Dinge, die unserer | |
Weltwahrnehmung, unserer Rationalität erst einmal fremd sind. Wie sind Sie | |
darauf zugegangen? | |
Wer Mythen und Legenden vermitteln möchte, landet schnell in der Pädagogik. | |
Das wollte ich nicht. Ich wollte andeuten, poetisch sein, Metaphern finden | |
und keinen ethnografischen Dokumentarfilm drehen. Deshalb gibt es viele | |
Details, die ich auslasse. Etwa, dass die Indígenas, um sich in ihren Kanus | |
zu bewegen, in der Lage sein mussten, das Wetter vorherzusagen. Vermutlich | |
machten sie das, indem sie sich ein Haar ausrissen und schauten, ob es sich | |
kräuselte oder glatt blieb. Solche Informationen fehlen, damit der Film | |
nicht ethnografisch wird. Die Indígenas sollten stattdessen zu einem Symbol | |
der Auslöschung werden. Als die Viehzüchter kamen, standen ihnen die Indios | |
im Wege. Sie töteten sie einfach so. Oder die Linien, mit denen sich die | |
Indios bemalten. Niemand weiß, was sie bedeuteten. | |
Aber Sie schneiden von den Schwarz-Weiß-Fotografien der kunstvoll bemalten | |
Indígenas auf den Nachthimmel mit funkelnden Sternen. Damit legen Sie eine | |
Interpretation nahe. | |
Ja. Sie dachten, sie würden nicht sterben, sondern sich in Sterne | |
verwandeln. | |
Ich würde gerne noch auf die politischen Häftlinge zu sprechen kommen, die | |
während der Pinochet-Diktatur getötet und über dem Meer abgeworfen wurden. | |
Sie stellen einen solchen Flug und das, was ihm vorausging, nach. Warum die | |
Rekonstruktion? | |
Als man mir das erzählte, konnte ich nicht glauben, dass es diese | |
Organisation gab, mit den Hubschraubern, mit Leuten, die Leichen in Säcke | |
einwickelten, mit Folterern, mit Mechanikern. Das war eine große, teure | |
Operation. Ich wollte die Brutalität anschaulich machen und das Verbrechen | |
als eine Arbeit, als eine Industrie zeigen. Außerdem interessierte mich der | |
Fall von Marta Ugarte – die Frau, die mit offenen Augen an einem Strand | |
angespült wurde. All dies erschien mir so böse. Man muss darüber sprechen, | |
damit man es in Chile weiß. | |
Das weiß niemand? | |
Sehr wenige. Eine Minderheit. | |
Kaum zu glauben. | |
Die Leute wissen, dass politische Häftlinge über dem Meer abgeworfen | |
wurden. Aber sie wissen nicht, dass sie zuvor mit einem Schienenstück | |
beschwert, mit Draht umwickelt, in einen Plastik- und einen Stoffsack | |
gesteckt wurden. Oder dass man ihnen Zyanid oder Penthonal verabreicht hat. | |
Es kommt mir fast so vor, als würden Sie eine forensische Arbeit leisten. | |
Oder klingt das in Ihren Ohren seltsam? | |
Ich weiß nicht. Vielleicht. Mir geht es vor allem darum, die | |
Tötungsmethoden zu beschreiben. Und ich sehe einen Bezug zu Jemmy Button. | |
Die Indígenas und die politischen Häftlinge erlitten das gleiche Schicksal, | |
was bedeutet, dass Chile ein Land voller Ungerechtigkeit ist, voller | |
Verbrechen, die nie vor Gericht verhandelt wurden. | |
11 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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