| # taz.de -- Ehrenbär der Berlinale für Wim Wenders: Die Schönheit des Randst… | |
| > Heute hat er den Hang zur großen Geste. Doch einst war Wenders ein | |
| > Entdecker der Poesie unbesetzter Räume und der erzählerischen | |
| > Langsamkeit. | |
| Bild: Wim Wenders, fotografiert von seiner Frau Donata. | |
| Ohne Frage wird Wim Wenders eine stehende Ovation bekommen, wenn er am | |
| Donnerstagabend seinen Ehrenbären entgegennimmt. Aber man muss einmal | |
| erlebt haben, wie der deutsche Autorenfilmer noch heute in Cannes gefeiert | |
| wird, um ein wahres Bild von seinem Weltruhm zu erhalten. Auch wenn es | |
| mittlerweile gut 30 Jahre her ist, dass er mit „Paris, Texas“ die Goldene | |
| Palme gewann, schlägt dem 69-Jährigen – der Person, weniger seinen Filmen �… | |
| besonders in Cannes noch heute ein Enthusiasmus entgegen, in dem der lange | |
| Schatten einer untergegangenen, einst aber großen Ära sichtbar wird. | |
| Die Epoche, als sich der europäische Autorenfilm noch unangefochten als | |
| Krönung der Kinokunst verstand und darin sonnte, auch ohne Kassenerfolge | |
| das zu sein, was zählt. Und wie lässig es sich von diesem Thron der | |
| Diskurshegemonie herab mit Dingen wie Genrekino, Fernsehserien, | |
| Comic-Helden und dergleichen spielte! | |
| Wim Wenders war und ist einer der letzten großen glamourösen Vertreter | |
| dieser Ära, der die Rolle des Autorenfilmers perfekt verkörpert: Als Person | |
| zurückhaltend und introvertiert, dabei aber stets vorzeigbar, wenn er | |
| schüchtern und gleichzeitig beharrlich auf sein Werk verweist, das doch für | |
| sich spreche. Seine Filme aus seiner einflussreichsten Zeit heute wieder zu | |
| sehen stellt oft eine zwiespältige, aber deshalb auch reiche Erfahrung dar. | |
| Der Abstand zur Entstehungszeit bewirkt einen Röntgenbrilleneffekt: Man | |
| sieht gewissermaßen durch bis zum Skelett und meint unterscheiden zu | |
| können, was damals die Mode der Zeit war und worin die eigentliche | |
| Originalität besteht. | |
| ## Dichte und Offenheit | |
| Zuallererst ist da die berühmte Langsamkeit. Von „Alice in den Städten“ | |
| über „Der amerikanische Freund“ und „Paris Texas“ bis hin zu „Der Hi… | |
| über Berlin“ – der Rhythmus der Filme gleicht stets dem langen Atem eines | |
| schlafenden Giganten. Dem Zuschauer verlangt diese Sorte Kino in erster | |
| Linie ein gewisses Maß an Geduld ab, die aber auch oft belohnt wird: Mit | |
| unvergleichlich atmosphärischen Sequenzen, die poetische Dichte und | |
| interpretatorische Offenheit auf geradezu beglückende Weise miteinander | |
| verbinden. | |
| In „Alice in den Städten“ und „Im Lauf der Zeit“ lässt sich auf diese… | |
| jenes Land namens BRD wiederentdecken, das mit dem Mauerfall so viel | |
| geräuschloser als sein Konterpart DDR unterging, gerade weil es sich auf | |
| der überlebenden Seite wähnte. In Wenders’ Schwarzweißregie (hinter der | |
| Kamera sein langjähriger Vertrauter Robby Müller) tritt neben den in | |
| betonter Beiläufigkeit agierenden Figuren dieses seltsame Gebilde hervor: | |
| ein Land, in dem die kahlen und armen Ecken noch nicht ganz von Wohlstand | |
| überdeckt sind, das randständig und provinziell ist, wo niemand Englisch | |
| spricht und in das keine Touristen kamen. Ein Land aber auch der Brachen, | |
| die man auch als unstrukturierte Freiräume für Kreativität und kritisches | |
| Denken begreifen konnte. | |
| Nirgendwo gab es mehr Brachen als in Westberlin, dem Wenders mit „Der | |
| Himmel über Berlin“ 1987 ein einmaliges Denkmal setzte. „Irgendwo war hier | |
| doch der Potsdamer Platz“, flüstert der greise Curt Bois, während er in | |
| einem sandigen, leeren Gebiet umherirrt. Und dann schaute auf einmal alles | |
| nach Berlin – und der Potsdamer Platz wurde „gefunden“ und bebaut, unter | |
| anderem mit genau jenem „Berlinale-Palast“, in dem Wenders nun seinen | |
| Ehrenbären entgegennimmt. Aus heutiger Sicht erscheint „Der Himmel über | |
| Berlin“ wie eine Art kinematografischer Entsprechung zum Scorpions-Hit | |
| „Wind of Change“. | |
| ## Vergängliche Poesie | |
| In heutiger Sicht will es aber auch so scheinen, als ob mit „Der Himmel | |
| über Berlin“ der berühmte lange Atem der Wender’schen Filme mit ihrer | |
| schönen Offenheit schon umschlägt in ein Geraune mit Bildern, untermalt mit | |
| Textpretiosen aus der Feder von Peter Handke: „Als das Kind Kind war …“ | |
| Vielleicht ist man auch ungerecht, wenn man heute Kitsch sieht, wo früher | |
| Poesie stand. | |
| Zunehmend aber schlich sich in Wenders’ Filme der Hang zur großen Geste | |
| ein, zur symbolischen Überfrachtung, zum Gutgemeinten. Das gilt seither für | |
| seine Spielfilme wieder und wieder: Sie werden Mal um Mal mit Spannung | |
| erwartet – um dann wirkungslos zu verpuffen. | |
| Die Kritik kann nachsichtig sein und vorsichtig loben wie 2004 im Fall von | |
| Wenders’ Westernabgesang „Don’t Come Knocking“, mit einem wunderbar | |
| gealterten Sam Shepherd. Sie kann aber auch böse und fast höhnisch | |
| zuschlagen wie bei „Palermo Shooting“ 2008, in dem Tote-Hosen-Sänger | |
| Campino als Fotograf in Lebenskrise ein Übermaß an symbolischen Begegnungen | |
| hat, wie etwa mit Udo Samel als Schafe hütendem Banker und Dennis Hopper | |
| als Todesengel. | |
| Dass Wenders seine drei Oscar-Nominierungen allesamt nicht für Spiel-, | |
| sondern für Dokumentarfilme erhalten hat, verwundert vor diesem Hintergrund | |
| wenig. Was sich in den Spielfilmen als Betulichkeit niederschlägt, kommt | |
| den Dokumentationen als interessierte Empathie zugute. Mit „Salt of the | |
| Earth“, seiner Dokumentation über den brasilianischen Fotografen Sebastião | |
| Salgado, gilt Wenders vielen aktuell als Oscar-Favorit, obwohl die | |
| „Indienststellung“ seines visuellen Erfindungsreichtums Wenders diesmal | |
| auch viel Kritik einbrachte, weil er die „Elendsästhetisierung“ von Salgado | |
| so noch einmal verdopple. | |
| 1999 begründete Wenders mit Buena Vista Social Club eine neue Ära der | |
| Kuba-Schwärmerei, aber er überließ auch den alten Herren seines Films auf | |
| unvergleichlich generöse Weise das Podium. Ähnliches gilt für „Pina“ 201… | |
| wo Wenders die 3-D-Technologie ganz in den Dienst von Pina Bauschs | |
| Tanztheater setzte und damit einem Weltpublikum die Augen dafür öffnete, | |
| dass 3-D mehr sein kann als nur Spektakelkino. Weshalb man auf sein | |
| neuestes Werk, „Every Thing Will Be Fine“, einem „intimen | |
| 3-D-Personendrama“ mit Charlotte Gainsbourg und James Franco, das auf der | |
| Berlinale außer Konkurrenz präsentiert wird, doch wieder sehr gespannt ist. | |
| 12 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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