# taz.de -- Russischer Filmexperte Naum Kleiman: „Das Kino lehrt mitzufühlen… | |
> In Moskau hat Naum Kleiman ein Filmmuseum gegründet, leiten darf er es | |
> nicht. Er kämpft für Geschichtsbewusstsein – und wird auf der Berlinale | |
> geehrt. | |
Bild: Multitalent: Naum Kleiman. | |
Naum Kleiman empfängt seit zehn Uhr früh JournalistInnen im Halbdunkel | |
seines Hofzimmers im Hotel Savoy in der Berliner Fasanenstraße. Alles ist | |
aufgeräumt wie er selbst. Vor den goldenen Lampenschirmen glänzen seine | |
feinen, dichten Haare und das Brillengestell silbern. Allein heute gibt er | |
fünf Interviews. Die Medien reißen sich um ihn. Dazu kommen offizielle | |
Termine, Treffen mit Eisenstein-Experten aus aller Welt und einfach | |
Freunden. Kleiman spricht hervorragend Deutsch und ist oft im Lande. Auf | |
dem Couchtischchen vor ihm liegt eine taz. Er sagt: „Die kaufe ich jedes | |
Mal, wenn ich herkomme.“ | |
taz: Herr Kleiman, herzlichen Glückwunsch zur Berlinale Kamera! | |
Naum Kleiman: Der Preis ist eine Geste zur Unterstützung für unser Museum. | |
Er ist nicht nur eine große Ehre für mich persönlich, sondern gibt mir auch | |
große Hoffnung. | |
Sie waren in letzter Zeit schweren Angriffen ausgesetzt. Donnerstagabend | |
und am Sonntag zeigt die Berlinale Tatjana Brandrups Dokumentarfilm „Cinema | |
– A Public Affair“ über Sie und das Moskauer Filmmuseum. Darin sprechen Sie | |
über Ihr „elftes Gebot“: Du darfst keine Angst haben! Können Sie sich dar… | |
halten? | |
Hat man nichts verbrochen, braucht man auch keine Angst zu haben. | |
Ihr Museum, einst Teil des Verbandes der Filmschaffenden, untersteht | |
inzwischen dem Kultusministerium. Als Hauptopponent Ihrer Mannschaft tritt | |
der Regisseur Nikita Michalkow auf, als Vorsitzender des Verbandes. Hatte | |
der ihn nicht schon einmal abgewählt? | |
Ja, aber er organisierte damals irgendeinen Parallelkongress und ließ sich | |
wiederwählen. Faktisch leitet er heute den Verband. | |
Ende 2005 wurden Sie gezwungen, das eigens um Ihr Museum herum erbaute | |
Kinozentrum im Stadtteil Krasnaja Presnja zu verlassen; seitdem kämpfen Sie | |
um einen neuen Standort. In Russland gibt es heute viele Fälle von | |
sogenanntem Rejderstvo [von engl.: raider = Plünderer]: Unternehmen und | |
Institutionen werden mithilfe von Banditen, durch Erpressung und | |
Gerichtsurteile zwangsenteignet und von Günstlingen hochgestellter Leute | |
übernommen. War das solch ein Fall? | |
Reinsten Wassers. Michalkow hat es angeblich verkauft. Jedenfalls betreibt | |
dort ein Unternehmer ein Multiplex. Sein Name bleibt ein Geheimnis. | |
Unter derartigen gewaltsamen Übernahmen leiden heute in Russland besonders | |
kulturelle Institutionen, aber auch wissenschaftliche Einrichtungen. | |
Es gibt den Begriff „Konjunkturritter“. Solche Leute wissen, dass sie nur | |
für eine kurze Zeit über Macht verfügen. Sie sind weder fachlich | |
legitimiert noch vom Volk gewählt, sondern auf undurchsichtige Weise an die | |
Macht gekommen. Sie hassen die Beschäftigung mit der Geschichte. Jeder | |
wissenschaftliche Beweis für bestimmte gesetzmäßige Weiterentwicklungen von | |
der Industrie bis zur Kunst zeigt ja, wann es Fortschritte gab. Diese | |
Konjunkturritter können es nicht gebrauchen, dass die Leute in ihnen eine | |
kranke Tendenz erkennen. Deshalb würgen sie, rein instinktiv, alles ab, was | |
für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den | |
verschiedensten Gebieten steht. | |
Russland hat seine Vergangenheit noch nicht verdaut. | |
Wir haben uns noch nicht einmal die Traditionen unseres eigenen Kinos | |
angeeignet. Die Methoden großer Regisseure wie Eisenstein, Wertow oder | |
Pudowkin hat man im Westen sehr viel besser auf als bei uns aufgearbeitet. | |
Hier heißt es entweder: „Wir haben nur Fehler begangen“, oder: „Früher … | |
alles besser!“ Einmal, nach einer Vorführung von Marlen Chuzijews Film „Ich | |
bin zwanzig Jahre alt“ aus dem Jahr 1965, kam eine Frau zu mir und sagte: | |
„Danke! Ich verstehe jetzt meine Mutter viel besser.“ Filme zeigen, wie | |
Menschen sich inmitten tragischer Umstände heldenhaft gehalten haben. Das | |
Kino liefert uns keine Rezepte, aber es lehrt uns, mitzufühlen und | |
mitzudenken. Es ist eine hervorragende Schule. Es hilft unseren Zuschauern, | |
sich aus Schräubchen und Rädchen in mündige Bürger zu verwandeln. | |
Der russische Regisseur Alexander Kontschalowski meint, die russische | |
Bevölkerung in der Provinz sei in der Entwicklung zur Civil Society | |
vierhundert Jahre hinter den Bewohnern der westlichen Welt zurück. | |
(Kleiman lacht) Wir haben in der Bevölkerung sehr viele unterschiedliche | |
Niveaus, und die Menschen bei uns lernen manchmal sehr schnell. In meinem | |
Leben hat es mehrere historische Sprünge gegeben. Der polnische Satiriker | |
Stanislaw Jerzy Lec sagte einmal: „Jedes Jahrhundet hat sein eigenes | |
Mittelalter.“ Die Stalinzeit war unser Mittelalter im 20. Jahrhundert. Dann | |
begann mit dem Tauwetter unter Chruschtschow eine Zeit der Aufklärung. Die | |
brach dann wieder ab. Aber sie setzte sich fort wie ein Fluss, der eine | |
Weile unterirdisch verläuft. Das habe ich einige Male miterlebt: Für eine | |
Zeit kommt der Fluss hervor, dann taucht er wieder unter. Und dort unten | |
finden natürliche Umgruppierungen statt. | |
Was tut sich jetzt in dem unsichtbaren Fluss? | |
Ich bin in letzter Zeit viel in Russland herumgereist und treffe überall | |
sehr viele arbeitsfreudige Menschen. Sie packen an, ohne zu klagen. Ich war | |
gerade in Perm im Ural, kommuniziere mit sibirischen Städten, mit Leuten im | |
Altai-Gebirge. Zunehmend sehe ich Menschen, die in allen möglichen | |
Projekten viel Eigeninitiative an den Tag legen. Das hält Russland im | |
Moment über Wasser und lässt für die Zukunft Gutes erwarten. Gebe Gott, | |
dass da nicht wieder Gegentendenzen die Oberhand gewinnen, zum Beispiel | |
infolge eines provozierten Krieges. | |
12 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
## TAGS | |
Moskau | |
Russland | |
Film | |
Russland | |
Biografie | |
Russland | |
Film | |
Wim Wenders | |
Militärdiktatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Russlandbild aus zwei Film-Perspektiven: Der Yogi und der Offizier | |
Andrei Kontschalowski und Nikita Michalkow sind Brüder. Die russischen | |
Filmemacher liefern sehr unterschiedliche Bilder von ihrem Land. | |
„Elser“ auf der Berlinale: Der „kleine Schorsch“, ein Attentäter | |
Die Bombe war da, am 8. November 1938. Aber Hitler ging zu früh. Oliver | |
Hirschbiegel setzt dem Attentäter Georg Elser ein filmisches Denkmal. | |
Im Wettbewerb der Berlinale: Die Streichhölzer waren feucht | |
Einen Überschuss an schönem Quatsch und an symbolischem Theater bietet der | |
russische Film „Pod elektricheskimi oblakami“. | |
Amira Casar über dunkle Charaktere: „Schauspieler sind sehr einsam“ | |
Schmerz in Schönheit suchen ist eine Leidenschaft von Schauspielerin Amira | |
Casar. „Der Letzte Sommer der Reichen“ läuft auf der Berlinale als Panorama | |
Special. | |
Ehrenbär der Berlinale für Wim Wenders: Die Schönheit des Randständigen | |
Heute hat er den Hang zur großen Geste. Doch einst war Wenders ein | |
Entdecker der Poesie unbesetzter Räume und der erzählerischen Langsamkeit. | |
Patricio Guzmán über Indígenas: „Ein Land voller Verbrechen“ | |
Der Film „El botón de nácar“ veranschaulicht die Grausamkeit der | |
Pinochet-Diktatur. Regisseur Patricio Guzmán erklärt die Bedeutung des | |
Perlmuttknopfs. | |
Brasilianisches Kino auf der Berlinale: Der fürsorgliche Sohn | |
Filme von Anna Muylaert und Chico Teixeira erzählen im Panorama über | |
Heranwachsende und ihre emotional abwesenden Eltern. | |
Berlinale – was bisher geschah (5): Der Filmbasar | |
Der European Film Market ist der Branchentreff der Berlinale. Hier werden | |
die Filmdeals ausgehandelt. Nur wo bleibt der Champagner? |