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# taz.de -- Russlandbild aus zwei Film-Perspektiven: Der Yogi und der Offizier
> Andrei Kontschalowski und Nikita Michalkow sind Brüder. Die russischen
> Filmemacher liefern sehr unterschiedliche Bilder von ihrem Land.
Bild: Der eine malt das Leben in Putins Reich rosarot, der andere pflegt seinen…
„Jeden Morgen verließen sie Seite an Seite das alte, ihnen von den Eltern
überlassene Haus. Zusammen strebten sie zum Tor, zum obligatorischen
morgendlichen Dauerlauf. Tata stand traurig neben ihrem Küchenfenster und
sagte: ’Androntschik und Nikitotschek denken, dass ich nichts sehe. Aber
gleich hinter dem Tor werden sie sich trennen. Dann läuft einer nach rechts
und der andere nach links.‘“
So zerstritten waren die Brüder Andrei Kontschalowski, 77, und Nikita
Michalkow, 69, schon im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Eine
Verwandte erinnert sich hier an sie, und mit „Tata“ meint sie Natalja
Kontschalowskaja (1903–1988), Schriftstellerin und Mutter der beiden. Ihre
Söhne hatte sie früher oft aus Moskau auf die Datscha zum Großvater
gebracht, dem Maler Pjotr Kontschalowski. Bei diesem verkehrte der Pionier
der sowjetischen Filmkunst, Sergei Eisenstein, Regisseur von „Panzerkreuzer
Potemkin“.
Aus den beiden Jungen von damals sind selbst Kinoregisseure geworden. Die
Holzwände der großväterlichen Datscha wurden ihnen zu Kulissen. Beide haben
um die 30 Filme gedreht und zahlreiche internationale Preise erhalten.
Nikita Michalkow bekam den Oskar für sein in der Stalinzeit spielendes
Drama „Die Sonne, die uns täuscht“. Beide leiten je eine Filmakademie in
Moskau. Bei alledem trennten sich ihre Wege immer mehr. Als lebenslange
Rivalen sind sie inzwischen auch ideologische Gegner.
In der Presse beliebt ist das Klischee, sie reproduzierten einen russischen
Konflikt aus dem 19. Jahrhundert: zwischen den sogenannten Westlern und den
Slawophilen. Die Slawophilen betonten Russlands Nähe zu Asien. Statt im
Individuum erblickten sie das Gegegenüber zu Staat und Regierung in
Kleinkollektiven. Während die „Westler“ sich wünschten, Russland möge si…
schleunigst demokratisieren.
## Hollywood und zurück
Schon seinen zweiten Film, „Asjas Glück“, hatte Andrei Kontschalowski 1967
nicht durch die Sowjetzensur bringen können. Nach vielen Konflikten verließ
er Anfang der 80er Jahre Russland – wie er glaubte, für immer. Er setzte
sich in Hollywood durch, drehte mit Stars wie Sylvester Stallone und
Nastassja Kinski – anspruchsvolle Filme mit halbslawischem Flair ebenso wie
kommerzielle Filme.
Nach dem Ende der Sowjetunion kehrte er zum Drehen zurück. Zum „Westler“
entwickelte er sich dabei nicht. „In Russland liebt man kompromisslose
Menschen“, sagt er heute: „Die übrigen gelten als Schlappschwänze. In
diesem Sinne ist die russische Mentalität nicht demokratisch.“ Und weiter:
„Die Zeiten, in denen Europa ideologischer Trendsetter war, sind vorbei.“
Eher schon passt das Etikett „slawophil“ auf Bruder Nikita. Der flehte im
Jahre 2009 Wladimir Putin als damaligen Präsidenten Russlands in einem
offenen Brief an, entgegen der Verfassung noch ein drittes Mal zu
kandidieren. Als Vorsitzender des Verbandes der Filmschaffenden macht
Michalkow sich zunehmend zum Sprecher einer Kulturpolitik, die Russland vor
den Auswüchsen westlicher Toleranz und Verdorbenheit bewahren soll. In der
Praxis bedeutet dies heute Zensur.
## Die Zarentreuen sind die Guten
Michalkow bewerkstelligte einst international finanzierte und erfolgreiche
Produktionen. In den letzten Jahren wirkte er als Hofregisseur des
staatlich gesponserten nationalrussischen Kinos. Sein letzter Film, „Der
Sonnenstich“, ein dreistündiges Melodrama, spielt gegen Ende des russischen
Bürgerkrieges unter weißen, von den Roten eingekesselten Offizieren. Die
zarentreuen Junker sind in diesem Film die Guten, die Bolschewiki die
Bösen. Sozialrevolutionäre sind Wladimir Putin unheimlich.
Als Vorsitzender des Verbandes der Filmschaffenden verfolgt Michalkow
unerbittlich alle, die die restriktive offizielle Kulturpolitik
kritisieren. Im Jahre 2009 abgewählt, berief er bald darauf einen
Parallelkongress ein, der ihn wieder ins Amt hievte. Der Verband ist heute
verarmt, seine Immobilien wurden verschleudert, teils an unbekannt.
Etwa vierzehntäglich verhalbdunkelt sich der Bildschirm des Senders Rossija
24 für die Sendung „Der Dämonenjäger“. Darin begegnet Michalkow der
„globalen Lüge“ über Russland. Vor schimmernden Utensilien im
Astrologenstil zitiert er, in Offiziershaltung, mit feschem Schnurbart und
schwarzer Lederjacke, einen Zuschauerbrief: „Wenn man zum Beispiel daran
denkt, dass in den französischen Schulen verlangt wird, dass die Jungen in
Mädchen- und die Mädchen in Jungenkleidern kommen, damit es
Gleichberechtigung gibt“ - hier stockt ihm der Atem vor Empörung: „Das
passt zum Titel unserer Sendung - reinster Dämonenspuk!“
Ein andermal lässt sich der Dämonenjäger verärgert über jene aus, die das
„Schiff verlassen“, also aus Russland emigrieren. „Reisefreiheit ist für
mich die Grundvoraussetzung für Patriotismus“, sagte sein Bruder Andrei
Kontschalowski kürzlich in einem Interview. Er hat eine doppelte
Staatsbürgerschaft und lebt mit seiner Familie teils in Frankreich, wie
schon Mutter Natalja als junges Mädchen. „Nebenan war immer die Welt meines
Großvaters, wo französisch gesprochen wurde“, erinnert er sich an seine
Kindheit.
## Der unangrifbare Clan
Dass diese Insel der Seligen zu Zeiten des Archipels Gulag unangetastet
blieb, verdankte Kontschalowskaja ihrem Ehemann, dem Kinderbuchautor Sergei
Michalkow (1913–2009). Dessen adlige Vorfahren waren Hofschranzen beim
Zaren gewesen, er blieb es auch unter den folgenden Regimen.
1943 hatte der 30-Jährige den Auftrag erhalten, den Text für die
sowjetische Staatshymne zu dichten: „Uns erzog Stalin zur Treue am Volk“.
Noch zweimal, das letzte Mal unter Putin, sollte Michalkow als Senior die
Hymne an die politischen Gegebenheiten anpassen. In den 1970er Jahren wurde
er Präsident des Schriftstellerverbandes der Russischen Föderation. Dieser
Schulterschluss machte den Clan unangreifbar.
Momente, in denen sein Vater zu Stalin gerufen wurde, auch ein persönliches
Zusammentreffen mit dem einstigen Filmvorführer des Diktators inspirierten
Andrei Kontschalowski zu seinem Film „Im inneren Kreis“ (1991). Wie
Michalkow senior glaubt dessen Held, der junge Operateur Iwan, an seinen
Führer. Für Kontschalowski bleibt kein Zweifel – ohne das Wegschauen der
Iwans wäre Stalins Terror nicht möglich gewesen.
Als „Iwanismus“ bezeichnet er einen vorindustriellen Mangel an bürgerlichem
Verantwortungsgefühl. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung, meint er,
achte die Interessen ihrer Mitmenschen nur, wenn man ihr auf die Finger
schaut. Auch wenn der Westen Kontschalowski im Leben näher ist, ideologisch
unterscheiden sich die Brüder darin, wie sie die russische Historie und die
Realität sehen.
## Russland-Statistiken
Während Michalkow das Leben in Putins Reich rosarot malt, pflegt
Kontschalowski seinen YouTube-Blog. Schmal, fast meditierend, vor den
Holzbalken einer Mansarde, in T-Shirt und Pullover verkündet er
Russland-Statistik: trauert über die vielen obdachlosen Kinder, den hohen
Alkoholverbrauch (15,8 Liter pro Jahr und Kopf laut WHO), den Rekordplatz
im Korruptionsrating (aufsteigend Platz 127 nach Transparency
International).
Die russische Mentalität wandeln, meint Weltbürger Kontschalowski, könne
nur eine Art aufgeklärter Erziehungsdiktatur. Das Ziel seines eigenen
Kampfes ist beschränkter: einen Weg für Kameras freizuhalten, damit sie den
Zuschauern zeigen, was im Lande Sache ist.
Sein letzter Film, „Die weißen Nächte des Postboten Alexei Trjapizyn“,
spielt im hohen Norden, in einer verfallenen Siedlung am Kensee bei
Archangelsk. Kontschalowski wollte ursprünglich einen Dokumentarfilm über
den Postboten Andrei Trjapizyn drehen, der mit seinem Boot die
Dorfgemeinschaft mit der Kreisstadt verband. Trjapizyn gab vor zwei Jahren
das Trinken auf und hielt durch. Die EinwohnerInnen spielten sich, und auch
alles andere entwickelte sich von selbst.
## Die Magie des Sees
Dass dem Postboten plötzlich der Außenbordmotor seines Bootes gestohlen
wurde, damit hatte der Regisseur gar nicht gerechnet. Eingeplant hatte er
nur den türkisblauen See. Wenn hier die dunklen Laichkräuter im Wasser ihre
Schirme öffnen, schleicht sich Magie ein. Aus der Ruine der alten Schule
hört Trjapizyn Kinderstimmen, die die sowjetische Staatshymne singen.
Die Einwohner von Kenozersk hat der Verlust des Postboots noch stärker von
der Außenwelt abgeschnitten. Aber es kümmert sie nicht sehr. Sie leben
ohnehin außerhalb des Weltgeschehens. Kontschalowski war begeistert von der
Widerstandskraft dieser kleinen Gemeinde: „Russland ist noch nicht so tot,
dass man nur gut über es reden dürfte.“
Der Film erhielt 2014 auf der Biennale von Venedig den Silbernen Löwen. Aus
diesem Anlass rief die Abendzeitung Wetschernjaja Moskwa den Postboten
Alexei Trjapizyn auf seinem Handy an und fragte nach seinen Gefühlen.
„Keine besonderen“, lachte Trjapizyn: „Ich fahre gerade Kartoffeln
ausbuddeln.“ Dann aber freute er sich doch: „Der Silberne Löwe, verstehe
ich richtig, das ist eine große Belohnung?“
15 Mar 2015
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## TAGS
Russland
Ukraine
Waffenkontrolle
Moskau
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
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