# taz.de -- Debatte Politische Sprache: Falsches Metaphernspiel | |
> Bei der Ukraine-Berichterstattung wird gerne in die historische | |
> Bilderkiste gegriffen. Der letzte Streich: Putins Politik sei mit der | |
> „Reconquista“ vergleichbar. | |
Bild: Die Burg Alhambra von Granada: Die Iberische Halbinsel wurde ab 711 zurü… | |
Gleich mehrmals findet sich jüngst in Leitartikeln der FAZ der Begriff | |
„Reconquista“, um Putins Politik zu umschreiben. Ein exemplarischer Fall, | |
der doch verwundert. Die historische „Reconquista“ war ein sich über 700 | |
Jahre hinziehender Prozess der Rückgewinnung der ab 711 von Arabern und | |
Berbern eroberten Iberischen Halbinsel. | |
Die Rückeroberung begann 718 und endete 1492 mit dem Sieg über die letzte | |
Bastion Granada und der Ermordung, Zwangstaufe oder Vertreibung von | |
Muslimen und Juden aus dem Spanien der beiden „katholischen Könige“ | |
Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Asturien. | |
Die sieben Jahrhunderte wurden nicht nur von kriegerischen | |
Auseinandersetzungen geprägt, sondern waren während langer Phasen auch | |
kulturelle Blütezeiten, in denen die – gegenüber dem fast | |
analphabetisch-halbbarbarischen Frankenreich – weit fortgeschrittene | |
arabische Wissenschaft (Astronomie, Mathematik, Medizin) und Kultur | |
(Architektur) in Europa Fuß fassten. | |
Was aber hat dieser lange, wellenförmig verlaufene Prozess von politisch | |
und religiös motivierter Gewalt, Entvölkerung und Zivilisierung mit Putins | |
Politik gegenüber der Ukraine gemeinsam? Nichts. Warum wird „Reconquista“ | |
in Leitartikeln trotzdem als historische Metapher bemüht – zusammen mit | |
anderen historischen Schlagwörtern, die ebenso unpassend sind | |
(„Heimführung“, „Sterben für Danzig“, „Appeasement“, „Friedensp… | |
der Ideologie der Roten Khmer“)? | |
## Klugheit unterschätzt | |
Wer es sich einfach macht, erklärt die Beliebtheit des Herzitierens von | |
historischen Metaphern aus der Eitelkeit von Autoren, die Leserschaft mit | |
bildungsbürgerlichen Wissensbeständen zu beeindrucken und sich selbst | |
intellektuell in Positur zu stürzen. Aber damit unterschätzt man die | |
Klugheit der Autoren, die mit historischen Versatzstücken hantieren, ebenso | |
wie jene der Leserschaft. | |
Denn wenn aktuelle politische Ereignisse und Prozesse in der | |
Leitartikelprosa mit historischen Metaphern aufgeputzt werden, geht es um | |
andere Zwecke und Wirkungen, die mit dem anachronistischen Geschichts- und | |
Politikverständnis der Autoren zu tun haben. | |
In einem Aufsatz mit dem Titel „Historia magistra vitae. Über die Auflösung | |
des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“ (1967) hat der | |
Historiker Reinhart Koselleck unterschieden zwischen traditionellen und | |
modernen Gesellschaften. In traditionellen Gesellschaften verstand man | |
Geschichte als „eine Art Sammelbecken multiplizierter Fremderfahrungen, die | |
wir uns erlernend aneignen“ (Koselleck), um daraus Normen für unser Handeln | |
in der Gegenwart abzuleiten. „Geschichte“ wird während mehr als zweitausend | |
Jahren – von Herodot bis ins 18. Jahrhundert – als „Lehrmeisterin des | |
Lebens“ verstanden, wie die deutsche Übersetzung des Satzes von Cicero in | |
Kosellecks Titel lautet. | |
## Die machbare Geschichte | |
Erst im Zeitalter der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen von 1776 | |
in Nordamerika und 1789 in Frankreich geraten die traditionellen | |
Gesellschaften unter den Druck politischer, sozialer und ökonomischer | |
Dynamik: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse (?), alles Ständische und | |
Stehende (?), alles Heilige“ (Karl Marx) und mithin auch die Geschichte | |
selbst kommen in einen Bewegungstaumel. | |
Die Orientierung des Handelns an Traditionen und Vorbildern, an dem also, | |
„was die Geschichte“ bislang „lehrte“, wird zuerst brüchig und dann re… | |
suspekt, denn die eigenen Erfahrungen und parallel dazu auch die | |
überlieferten Erfahrungen der Alten sind nicht mehr zu vermitteln mit den | |
Herausforderungen der in Bewegung versetzten Gesellschaften und deren | |
jüngster Geschichte. Diese ist nicht mehr verstehbar als Wiederholung oder | |
Modell dessen, was sich immer schon ereignete und ereignen musste. | |
Geschichte wird jetzt als machbare verstanden. | |
An die Stelle der Beispielhaftigkeit und Vorbildlichkeit der Vergangenheit | |
tritt die Einmaligkeit des als gemacht begriffenen Ereignisses sowie die | |
Möglichkeit, Geschichte in Zukunft selbst und anders zu gestalten als die | |
bisherige. Mit dem Übergang vom traditionellen zum modernen | |
Geschichtsverständnis wird die Alternative „Fortschritt oder Rückschritt?“ | |
denkbar und verdrängt die herkömmlichen zyklischen Vorstellungen vom | |
Geschichtsverlauf als einem schicksalbestimmtem Aufstieg und Niedergang. | |
Mit der Machbarkeit der Geschichte verlieren die Vorbild- und | |
Beispielhaftigkeit der Ahnen ihre Bedeutung. | |
Aufklärung und Erziehung zur Bewältigung von Gegenwart und Zukunft gewinnen | |
Vorrang vor dem Lernen aus Vergangenem. Historische Aufklärung wird zu | |
einer wissenschaftlichen und pädagogischen Veranstaltung, ohne politisches | |
Potenzial. | |
## Sinnfreie Analogien | |
Dass der Geschichtsstudent aus dem Geschichtsstudium etwas lernt, ist nicht | |
zu verwechseln damit, was traditionale Gesellschaften aus der Geschichte an | |
Lehren für Handeln bezogen, was in dynamisierten Gesellschaften nur | |
ausnahmsweise noch möglich ist. Der Jahrhunderte währende Normalfall ist | |
seit dem 18. Jahrhundert zum Ausnahmefall geworden. | |
In dem Maße, wie Leitartikler sich historischer Metaphern bedienen, um die | |
Gegenwart zu interpretieren, erweisen sie sich als Anhänger eines | |
vormodernen Politik- und Geschichtsverständnisses, das sich noch auf die | |
Vorbildfunktion von Tradition und Vergangenheit stützt, obwohl sich diese | |
erledigt hat. Was immer Putin mit seiner Ukraine-Politik für Ziele | |
verfolgt, an der historischen Reconquista hat er sich sicher nicht | |
orientiert. | |
Das ist kein Plädoyer gegen die Beschäftigung mit Geschichte und auch keine | |
grundsätzliche Verdammung von historischen Metaphern. Sie müssen sich aber | |
aus der Sache ergeben – nämlich aus der objektiven Vergleichbarkeit | |
historischer Ereignisse, Prozesse und Resultate. Meistens zehren jedoch | |
historische Metaphern nur von rhetorischen Floskeln und verkommen zu | |
grobianisch-umgangssprachlichen Allegorien („mein innerer | |
Reichsparteitag“), ohne sachhaltigen Kern. | |
19 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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