# taz.de -- Schiff mit Foltergeschichte: Die Schatten der „Weißen Dame“ | |
> Der chilenische Segler „Esmeralda“ besucht die Sail. Unter der | |
> Pinochet-Diktatur diente das Schiff Folterknechten. Beim Marineevent ist | |
> das kein Thema. | |
Bild: Hat Leichen im sprichwörtlichen Keller: das Schiff „Esmeralda“. | |
BREMEN taz | Du traust es ihr gar nicht recht zu. So elegant, wie sie | |
aussieht, die „Esmeralda“. Ein Viermaster von bildbandartiger Schönheit: | |
weiße Segel, weißer Rumpf, und dann das ganze Holz an Deck. Alles strahlt. | |
Beeindruckend! „Weiße Dame“ nennen sie das Segelschulschiff ehrfürchtig, | |
und mit ihren über 60 Jahren ist sie heute einer der ältesten aktiven | |
Großegler der Welt. | |
Fast ein Wunder, dass die „Esmeralda“ aus Chile jetzt das erste Mal zur | |
Sail nach Bremerhaven kommt; immerhin eines der größten | |
Windjammer-Festivals, ja: der Welt. Bundespräsident Joachim Gauck wird auch | |
da sein, und „unsere blauen Jungs“, so schrieb die Bild stolz, „unsere | |
deutsche Marine“ also, hat mitgeholfen, sodass die „Esmeralda“ nun bei | |
„unserer Sail“ dabei ist. | |
1973 lag sie noch im schönen Valparaíso, ihrem Heimathafen. Das chilenische | |
Militär hatte gerade, mit Unterstützung aus den USA, die Macht im Lande | |
übernommen und Salvador Allende, drei Jahre zuvor als Präsident des Landes | |
demokratisch gewählt, war tot. Es war der Beginn einer Diktatur, die erst | |
1990 enden sollte. Auch die „Esmeralda“ diente seinerzeit treu der | |
Militärjunta Augusto Pinochets – als Folterschiff. | |
## Drei Wochen lang jede Nacht verhört | |
Als Maria Elina Comené 1973 auf das Schiff kommt, ist sie noch Studentin an | |
der katholischen Universität. An Bord des Schiffes stößt man sie als erstes | |
die Treppe hinunter, sie muss sich nackt ausziehen, damit junge Soldaten | |
mit geschwärzten Gesichtern alle Körperöffnungen untersuchen können. | |
Im Duschbad folgen weitere sexuelle Übergriffe, Demütigungen. Von nun wird | |
Frau Comené drei Wochen jede Nacht vom Militär verhört werden, dabei mit | |
elektrischem Strom gequält, mit Zigaretten verbrannt, vergewaltigt. Auch | |
Prügel, Schlafentzug und absolute Dunkelheit gehören hier zu den | |
Haftbedingungen. | |
Aufgearbeitet hat diese Geschichte nun Walter Mülich, der selbst aus | |
Bremerhaven kommt, und früher mal Studiendirektor in Hambergen bei Bremen | |
war. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Kreuzende Kurse“, das die | |
Geschichte gleich mehrerer Schiffe behandelt, deutscher wie chilenischer. | |
Auch das „Gespensterschiff“ ist darunter, die „FM 21“: Sie wurde einst … | |
der Marine-SA in Bremerhaven als Verhörschiff benutzt. | |
Unweit jener Stelle, an der die „FM 21“ lag, machte 2003 schon einmal die | |
„Esmeralda“ fest. Auch Walter Mülich war seinerzeit an Bord, wo damals | |
nichts an die Vergangenheit der „Weißen Dame“ erinnerte: „Der Kapitän�… | |
hieß es, „wünscht keine Fragen zur Vergangenheit.“ Die | |
Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) protestierte gegen | |
den Besuch der „Esmeralda“, die daraufhin geplante Aufenthalte in den | |
Niederlanden und Schweden absagte. | |
In Bremerhaven empfing der damalige Oberbürgermeister Jörg Schulz (SPD) die | |
chilenische Marine freundschaftlich. An den Vorwürfen von AI habe er | |
„keinen ernsthaften Zweifel“, sagte er, aber auch, dass das „kein | |
Hinderungsgrund“ sei für ein herzliches Willkommen. | |
„Das Schiff repräsentiert heute einen demokratischen Staat“, so Schulz, und | |
die Besatzung habe mit der alten Marine ja nichts zu tun. Ohnehin gebe es | |
doch gerade in Deutschland auch „Anlass zur Zurückhaltung“, fand der | |
Politiker – man dürfe „nicht vergessen, dass es auch in Deutschland nach | |
1945 versäumt wurde, das dunkelste Kapitel der Geschichte umfassend | |
aufzuarbeiten“. | |
Bei der Sail will man von der Vergangenheit der „Esmeralda“ heute nichts | |
wissen. „Wie lange ist das jetzt her?“, fragt der Pressesprecher des | |
Schiffsevents. Über 40 Jahre. „Und warum sollten wir uns 2015 damit | |
beschäftigen?“ Na ja, aber die Nazi-Zeit ...? „Das ist was anderes“, sagt | |
der Sprecher. Dass sich die Sail mit den chilenischen Vorgängen befasst, | |
dafür sehe er „keine Veranlassung“. | |
## „Aufarbeitung, nicht Konfrontation“ | |
Walter Mülich schon. Der Putsch in Chile hat ihn politisiert, damals, da | |
war er 23. Er beschäftigt ihn noch immer. Also organisiert er eine Lesung | |
seines Buches in Bremerhaven, dazu eine Kundgebung direkt vor der | |
„Esmeralda“ im Kaiserhafen. | |
Es gehe ihm „nicht um Konfrontation“, sagt Mülich, nur um eine „offensive | |
gesellschaftliche Aufarbeitung“. Und darum, auf den militärischen Auftrag | |
von solchen Segelschiffen hinzuweisen, Großseglern im Dienste der Marine. | |
Bei der Sail habe man es aber lieber „so störungsfrei und bunt wie | |
möglich“, sagt Mülich. | |
Mittlerweile hat die chilenische Marine zugegeben, dass die „Esmeralda“ | |
1973 zwölf Tage lang ein geheimes Gefangenenlager sowie ein Verhör- und | |
Folterzentrum beherbergte. Auch Staatsanwalt Luis Vega Contreras wurde | |
damals hier gefoltert, unter anderem von Mitgliedern einer faschistischen | |
Organisation. Vega wurde vorgeworfen, 900 Terroristen befehligt zu haben. | |
Er berichtete von Scheinerschießungen und Elektroschocks, von Wunden, die | |
mit Salzwassser begossen wurden, von Schlägen mit Gewehren und Peitschen, | |
von Todesdrohungen oder Misshandlungen mit Meerwasser, mit Hochdruck aus | |
einer Pumpe geschossen. Frauen wurden Insekten in die Vagina eingeführt, | |
Schwangere so lange geschlagen, bis sie Fehlgeburten hatten. Andere | |
Gefangene wurden stundenlang in eiskaltes Wasser getaucht, mussten nackt in | |
der Sonne stehen. Und so weiter. | |
Die Gesamtzahl der Opfer sei schwer zu erfassen, sagt Mülich, sein gut | |
recherchiertes Buch geht von mindestens 112 Gefangenen auf der „Esmeralda“ | |
aus. 1991 weist ein Bericht der Ära Pinochet mindestens 2.279 politisch | |
motivierte Morde nach. Strafrechtliche Konsequenzen hatte er keine. | |
2004 wurden nochmals mehr als 27.000 Opfer des Militärregimes befragt, ab | |
2010 – unter der heutigen Präsidentin Michelle Bachelet – über 32.000 neue | |
Fälle untersucht, dazu fast 10.000 weitere Folterungen. Pinochet starb | |
2006, die Aufarbeitung seines politischen Erbes aber ist noch immer nicht | |
beendet. Für die „Esmeralda“ ist es das erste Mal seit 2003, immerhin, dass | |
sie sich wieder nach Nordeuropa traut. | |
Mehr über den maritimen Feelgood-Terror bei der Sail in Bremerhaven lesen | |
Sie in der gedruckten Norddeutschland-Ausgabe der taz.nord oder [1][hier] | |
8 Aug 2015 | |
## LINKS | |
[1] /e-kiosk/!114771/ | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
## TAGS | |
Folter | |
Augusto Pinochet | |
Diktatur | |
Bremerhaven | |
Chile | |
Bremerhaven | |
Bremerhaven | |
Chile | |
Affäre | |
Militärdiktatur | |
Militärdiktatur | |
Nachruf | |
Augusto Pinochet | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Deutsch-chilenischer Liebesroman: Die Welt ist in Aufruhr | |
Linksploitation bei Sascha Reh: Studentenrevolten, Revolutionsromantik und | |
Computerexperimente unter Allende – bunt und spannend erzählt. | |
Maritimes Volksfest: Jubel für den Kanonendonner | |
Die Sail kombiniert unkritische Seglerromantik mit etwas Kommerz-Allerlei. | |
Die Verluste zahlt der Staat. Das Konzept läuft. | |
Warum Sail: Wo der Weltgeist anlegt | |
Sail, da wird Bremerhaven zur Hölle, oder? Von wegen: Echte | |
Hardcore-Bremerhavener messen nicht in Jahren, wie die Zeit vergeht, | |
sondern in – Sails. | |
Nachruf Manuel Contreras: Pinochets Mann fürs Grobe | |
Chiles Ex-Geheimdienstchef war für Mord, Folter und Entführung zu 549 | |
Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nun starb er im Alter von 86 Jahren. | |
Korruptionsskandal um Ultrarechte: Chiles Justiz räumt auf | |
Die Getreuen des Exdiktators Pinochet verwickeln sich in einen Steuer- und | |
Korruptionsskandal. Erstaunlich für viele Chilenen: Ihre Justiz | |
funktioniert. | |
Patricio Guzmán über Indígenas: „Ein Land voller Verbrechen“ | |
Der Film „El botón de nácar“ veranschaulicht die Grausamkeit der | |
Pinochet-Diktatur. Regisseur Patricio Guzmán erklärt die Bedeutung des | |
Perlmuttknopfs. | |
Wettbewerb Berlinale 2015: Zerrbilder der eigenen Barbarei | |
Regisseur Patricio Guzmán begibt sich in „El botón de nácar“ auf die Suc… | |
nach den Verbrechen der Militärdiktatur in Chile. | |
Nachruf auf Pedro Lemebel: Chronist des marginalen Chile | |
„Träume aus Plüsch“ – zum Tod des legendären Künstlers und Schriftste… | |
Pedro Lemebel, dem enfant terrible der chilenischen Gesellschaft. | |
Wahlrechtsreform in Chile: Etwas mehr Demokratie | |
Chile hat das Wahlgesetz aus der Zeit der Pinochet-Diktatur abgeschafft. | |
Jetzt können auch kleine Parteien oder Unabhängige einen Sitz erringen. |