# taz.de -- Chilenischer Dokumentarfilm: Mit dem Wasser erzählen | |
> Patricio Guzmán verbindet in „Der Perlmuttknopf“ fasziniertes Staunen und | |
> großartige Landschaftsbilder mit Fragen der Geschichte Chiles. | |
Bild: Paradiesischer Lebensort der Ureinwohner Chiles – und Massengrab der Di… | |
Nach dem blutigen Putsch von Militär und CIA gegen den chilenischen | |
Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 war auch der | |
Dokumentarfilmer Patricio Guzmán zwei Wochen im Stadion von Santiago | |
interniert und wurde von Erschießungskommandos mit dem Tod bedroht. Doch er | |
kam frei und emigrierte erst nach Kuba und Spanien und dann nach | |
Frankreich. Tausende anderer Chilenen überlebten die Verfolgungen nicht, | |
viele auch wurden vom Regime heimlich beiseite geschafft und gelten bis | |
heute offiziell als „verschwunden“. | |
Diese selbst erlebte Vergangenheit prägt Guzmán nach eigener Auskunft bis | |
heute als alltäglich gegenwärtiges Lebenstrauma. Und auch, wenn er heute | |
(immer noch) in Paris lebt, ist es doch das Schicksal der chilenischen | |
Folteropfer und Desaparecidos, um die seine Filme seit dem fast schon | |
monumentalen Dreiteiler „La Batalla de Chile“ kreisen. | |
Dabei hat der Filmemacher im Lauf der Jahre seinen Erkundungshorizont von | |
der Dokumentation der Ereignisse selbst auf umfassendere historische und | |
philosophische Zusammenhänge erweitert. Beeindruckend, wie er 2010 in | |
„Nostalgia de la luz“ wie selbstverständlich den Bogen schlug von den | |
gigantischen Teleskopen in der chilenischen Atacama-Wüste in die Weiten des | |
Kosmos und dann zu den Ruinen eines ehemaligen Folterlagers nebenbei, wo | |
Angehörige nach Überresten verscharrter Regimeopfer suchen. | |
Sein neuer, letztes Jahr im Wettbewerb der Berlinale uraufgeführter Film | |
knüpft hier an, führt dann aber von der an Chiles Nordgrenze gelegenen | |
Atacama ganz in den Süden des über 4.300 Längenkilometer gestreckten | |
Landes. Und die Reise geht vom „trockensten Ort der Erde“ in eine | |
(faszinierend schön gefilmte) Welt, wo unzählige fjorddurchfurchte Inseln | |
aller Größen und Formen unter Eisschwarten und Nebelschwaden mit dem Ozean | |
zu verschmelzen scheinen. Sein Stoff ist diesmal das Wasser selbst, das als | |
im Weltraum geborene Grundlage alles Lebendigen unsere kleine irdische | |
Existenz mit dem Kosmos verbindet. | |
## Ohne Gott und Polizei | |
Dafür reist Guzmán zu den letzten Vertretern der wassernomadischen Völker, | |
die einst die Ufer und Wasserstraßen des patagonischen Südens mit ihren | |
Kanus bevölkerten, bevor sie den neuen Siedlern weichen mussten. Heute | |
leben nur noch wenige von ihnen vor Ort: meist betagte Frauen und Männer, | |
die für den Film nach ihren Erfahrungen und Erlebnissen (und ihrem | |
Vokabular: die Begriffe „Gott“ und „Polizei“ gibt es bei uns nicht, sagt | |
eine alte Dame) befragt werden. | |
Dazu kommen eindrückliche historische Fotos von Paz Errázuriz aus den | |
1990er Jahren und von Martin Gusinde, der Anfang des 20. Jahrhunderts zwei | |
Jahre auf Feuerland bei den Selk’nam lebte. Die malten sich heute kaum mehr | |
zu entziffernde Himmelmuster auf ihre Körper, weil sie nach dem Tod als | |
Sterne weiterzuleben glaubten. | |
Als Kolonisten das Land für sich und ihre Rinder- und Schafweiden | |
reklamierten, wurden die Eingeborenen gezielt ermordet und ungezielt in die | |
Verelendung getrieben, ihre innig mit dem Meer verschmolzene Lebensweise | |
Ende des 19. Jahrhunderts durch gesteuerte militärische und ökonomische | |
Expansion des noch jungen chilenischen Nationalstaats vernichtet. Und es | |
entstand die paradoxe Situation, dass Kultur und Wirtschaft des Landes mit | |
der wohl längsten Küstenlinie der Erde sich fast ganz von dieser abwandten. | |
Ein Jahrhundert später musste dann der Pazifik – wie auch die Wüste – unt… | |
dem Militärregime als anonymer Massenfriedhof für die möglichst diskrete | |
Entsorgung ermordeter Opfer des staatlichen Terrors herhalten. Dabei wurden | |
die betäubten Opfer an Eisenbahnschienen gebunden und mit dem Hubschrauber | |
aufs Meer hinausgeflogen, wie ein Zeuge im Film berichtet. Dann begleitet | |
die Kamera die Taucher, die die im Lauf der Jahre von Muscheln und Rost | |
überformten Eisenstangen als einziges Zeugnis des damaligen Geschehens vom | |
Meeresgrund bergen. Und Guzmán wagt das grausige Experiment, für den Film | |
das Einpacken eines menschlichen Körpers mit den angeschnallten Schienen | |
und zwei von Kopf- und Fußende übergezogenen großen Tüten als | |
Rekonstruktion mit fast forensischem Charakter nachzustellen. | |
## Symbolisches Bindeglied | |
Das gelingt eindrucksvoll und ohne Sensationalismus. Auch sonst bedient | |
sich der erfahrene und zu Recht verehrte und gefeierte Dokumentarist in der | |
dicht und vielschichtig gebauten Arbeit sehr souverän unterschiedlichster | |
filmisch-erzählerischer Methoden: Da gibt es einen selbst gesprochenen | |
Kommentar aus dem Off mit persönlichen Assoziationen und – korrespondierend | |
zu den häufigen visuellen Dissolvenzen – raffinierten verbalen | |
Überblendungen und Raffungen. | |
Es gibt Statements von Wissenschaftlern oder dem Schriftsteller Raúl Zurita | |
und eine mit dem Klang des Wassers spielende | |
experimentell-traditionalistische Musikeinlage. Eine klug eingesetzte | |
Requisite ist die von einer befreundeten Künstlerin gebastelte 15 Meter | |
lange Pappversion der chilenischen Karte, deren Ausrollen auf dem Fußboden | |
das „Verpacken“ der Häftlinge spiegelt. | |
Immer wieder zielen Narration und Montage auf solche Vergegenwärtigung | |
problematischer nationaler Identität und Geschichte: Komplexe, die in der | |
chilenischen Öffentlichkeit bisher wenig bearbeitet wurden und gerade in | |
dieser Verdrängung das kollektive Unbewusste bestimmen. Doch die | |
Erzählungen des Films gehen weit über solche Regionalismen hinaus – und | |
treffen im Spannungsverhältnis zwischen Nahsicht und Teleskopblick so | |
überzeugend ins Wesentliche menschlicher Existenz, dass man auch das | |
manchmal etwas übertriebene Pathos im Klang von Worten und musikalischer | |
Begleitung gern verzeiht. | |
So verbindet „Der Perlmuttknopf“ fasziniertes Staunen mit praktischem | |
Erkenntnisgewinn und Genuss an der eleganten Konstruktion des ästhetischen | |
Ganzen. Dabei kommt der titelgebende Perlmuttknopf übrigens als anschaulich | |
konkretes und symbolisches Bindeglied zwischen einem Verbrechen der (noch) | |
kolonialen Vergangenheit und denen aus den siebziger Jahren des letzten | |
Jahrhunderts gleich in doppelter Funktion vor. Doch am Ende von Guzmáns | |
Film verwandelt sich – hübscher Kunstgriff! – auch dieses inkriminierende | |
Accessoire in einen fernen leuchtenden Stern. | |
9 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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