# taz.de -- Start der Berlinale: Kino für alle, aber ohne Profil | |
> Dieter Kosslick hat die Berlinale massenwirksam gemacht, aber das | |
> Programm aus den Augen verloren. Künstlerische Höhepunkte sind versteckt. | |
Bild: Ganz schön konturlos kommt die Berlinale dieses Jahr daher. | |
Wenn Dieter Kosslicks Vertrag im Jahr 2019 ausläuft, wird er 70 Jahre alt | |
sein und 18 Jahre lang die Internationalen Filmfestspiele von Berlin | |
geleitet haben. Seine Amtszeit wird dann zwar nicht so lang gedauert haben | |
wie die seines Vorgängers Moritz de Hadeln, aber länger, als Helmut Kohl | |
Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war. Schon heute fühlt es sich | |
ähnlich bleiern an. Andere Filmfestivals von internationaler Bedeutung, | |
etwa die von Locarno und Venedig, tauschen ihr Führungspersonal von Zeit zu | |
Zeit aus. | |
Manchmal haben sie dabei Glück, manchmal nicht; im Tessin zum Beispiel | |
macht Carlo Chatrian, seit er 2012 sein Amt antrat, vor, wie ein Festival | |
Profil gewinnt, indem es mit Inbrunst den avancierten Autorenfilm umarmt; | |
in Venedig gibt sich das Festival seit Marco Müllers Weggang zahmer, es | |
verschreibt sich ein wenig zu offensiv dem Qualitäts-Arthouse-Kino und | |
verzichtet auf Müllers beliebte Abstecher in die Gebiete des Genres und des | |
spröden Kunstfilms. In Berlin dagegen herrscht Stillstand, was auch daran | |
liegen mag, dass es auf den ersten Blick wenig Grund dafür gibt, etwas zu | |
ändern. | |
Denn die Zuschauerzahlen, der Publikumszuspruch, der florierende Filmmarkt | |
und die Einnahmen aus dem Ticketverkauf, der anders als Cannes oder in | |
Venedig fürs Gesamtbudget von mehr als 20 Millionen Euro eine Rolle spielt | |
(im letzten Jahr wurden rund 325.000 Karten verkauft), stimmen. Warum | |
sollte die Bundeskulturministerin Monika Grütters (CDU) also an ihrer im | |
Herbst bekannt gewordenen Entscheidung, Kosslicks Vertrag bis 2019 | |
fortzuführen, zweifeln? | |
## Ein konturloser Anblick | |
Weil die Haltung nicht stimmt. Die Berlinale mag zwar in den Details | |
großartig sein, aber im Ganzen bietet sie einen konturlosen Anblick. Das | |
Festival verschreibt sich einem Anything goes, die Entscheidungen scheinen | |
Umständen und Zufällen geschuldet, nur am Rande wird nach der gegenwärtigen | |
Lage des Kinos gefragt oder offensiv die künstlerische Herausforderung | |
gesucht. | |
Ein entschiedenes Plädoyer für das Kino als einer Kunstform, die sich | |
mitten in einschneidenden Neuerungen und Veränderungen sieht, weil sie von | |
der digitalen Bildproliferation auf die Probe gestellt wird, bleibt aus, | |
Liebeserklärungen richten sich vornehmlich an die Köche, die im Spiegelzelt | |
beim Martin-Gropius-Bau auftischen. | |
Nichts ist gegen deren Kunst einzuwenden. Aber stellen Sie sich bitte | |
einmal vor, die künstlerische Leiterin einer Documenta würde die Frage nach | |
der gegenwärtigen Lage der Kunst ganz hintanstellen und stattdessen einen | |
großen Zirkus in Szene setzen, mit Kochkursen, Sportveranstaltungen, | |
Exkursionen in den Bergpark Wilhelmshöhe und einem munteren Mix aller | |
möglichen künstlerischen Positionen, je mehr dabei von Jeff Koons stammt, | |
umso besser? | |
## Spaß für die Massen | |
Die einzige Erklärung, warum die Entscheider in der Kulturpolitik ein | |
solches Potpourri bei einem Filmfestival tolerieren, liegt vermutlich | |
darin, dass sie einem falsch verstandenen Begriff von Populärkultur | |
anhängen. Wer Kino als Spaß für die Massen betrachtet und die spezifische, | |
reiche Geschichte des Films ignoriert, dem fällt es vermutlich nicht auf, | |
wenn das wichtigste deutsche Filmfestival kein künstlerisches Profil hat. | |
Das heißt nicht, dass sich unter den 441 Lang- und Kurzfilmen, aus denen | |
sich das Programm in diesem Jahr zusammensetzt, nicht genug finden, die | |
neugierig stimmen. Im Wettbewerbsprogramm etwa kann man sich auf neue Filme | |
von Jafar Panahi, Werner Herzog, Patricio Guzmán, Terrence Malick, Benoît | |
Jacquot und Alexei German jr. freuen; im Vergleich zu vorangegangenen | |
Jahren ist das ein guter Schnitt. | |
Auch die Nebenreihen haben einiges zu bieten, neue Arbeiten von Vincent | |
Dieutre, Jan Soldat oder Marcin Malaszczak zum Beispiel, und dass | |
ausgerechnet im von der Krise geschüttelten Spanien ein so verschrobenes | |
Debüt wie „Der Geldkomplex“ (Regie: Juan Rodrigáñez) entsteht, lässt ho… | |
– auch deshalb, weil Rodrigáñez’ Film in Erinnerung ruft, dass es nicht | |
zwingend eine saturierte Förderlandschaft braucht, damit Bemerkenswertes | |
produziert wird. Vielleicht sind die Fördergremien mit ihren auf | |
Verwertbarkeit abgestellten Auswahlkriterien bisweilen sogar ein Hindernis, | |
weil sie mit Improvisation, Nonsens und Gagaismus wenig anfangen können. | |
## Farbrausch und Kostbarkeiten | |
Die Retrospektive, in diesem Jahr dem Technicolor-Verfahren gewidmet, wird | |
das Publikum in einen Farbrausch versetzen, und dazu gesellen sich noch | |
echte Kostbarkeiten wie ein bis vor kurzem unvollendeter Film des | |
US-amerikanischen Avantgardisten Ken Jacobs, „Orchard Street“, eine | |
neugierige, 1955 mit einer 16-mm-Kamera gedrehte Erkundung der | |
gleichnamigen Straße in der Lower East Side von New York. | |
27 Minuten lang sieht man Passanten, Händler, Kunden, Ware, spielende | |
Kinder in Kleidungsstücken, in die sie noch hineinwachsen müssen, über der | |
Straße zum Trocknen aufgespannte Wäsche, Tauben im Himmel, ein sich | |
küssendes Paar, Werbetafeln und -schriftzüge an Häuserwänden: ein | |
wunderbares, in der Zeit ausgedehntes Wimmelbild. 1955 hätte Jacobs die | |
Möglichkeit gehabt, eine zwölf Minuten dauernde Fassung ans Fernsehen zu | |
verkaufen, er ließ es bleiben: „Also kürzte ich – mittelloser und hungrig… | |
junger Künstler, der ich war – den Film herunter. Doch es gab kein Gramm | |
Fett zu viel an ihm, und so stießen die Schnitte tief in Muskeln und | |
Knochen. Danach, als die grausame Tat vollbracht war, hasste ich mich dafür | |
und tat nichts mit dem Film“, erinnert er sich. | |
Zusammen mit seiner Tochter Nini hat er das Material nun neu bearbeitet, | |
und der Effekt ist großartig. Wer die Lower East Side von heute kennt, | |
reibt sich verdutzt die Augen: So viel war damals auf der Straße los? So | |
viele Menschen waren dort tagein, tagaus unterwegs? So durcheinander, | |
wuselig, quirlig sah New York aus? En passant gelingt Jacobs kleiner | |
Alltagsbeobachtung etwas Grundlegendes: Sie versetzt ihr Publikum in die | |
Lage, eine Differenz wahrzunehmen und dadurch zu begreifen, dass der Status | |
quo nicht das Maß aller Dinge ist. | |
## Politischer Anspruch | |
Auch das Diskursive kommt nicht zu kurz, Werkstattgespräche und | |
Paneldiskussion gibt es zuhauf. Am Dienstag zum Beispiel unterhalten sich | |
die Filmemacher Joshua Oppenheimer („The Act of Killing“) und Marcel Ophüls | |
(„Hotel Terminus“) im Rahmen der „Berlinale Talents“ darüber, wie man … | |
den Mitteln des Kinos Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren | |
kann, ohne dabei in die Falle naiven Abbildens zu tappen. Das ist ein | |
Pflichttermin für alle, die sich für Positionen des dokumentarischen | |
Filmemachens interessieren, und wenn der so oft betonte politische Anspruch | |
der Berlinale Sinn ergibt, dann in solchen Momenten und weniger in den | |
allgemein gehaltenen Bekenntnissen zur Kunstfreiheit. | |
Monika Grütters etwa jubelte gestern: „Was für eine Freude also, dem Echo | |
eines millionenfachen ’Je suis Charlie!‘ mit der Berlinale ein Fest | |
künstlerischer Freiheit folgen lassen zu können!“ Die künstlerische | |
Freiheit aber sollte in Berlin – anders als in Teheran oder im Norden von | |
Nigeria – eine Selbstverständlichkeit sein. Wer sie hervorhebt, läuft | |
Gefahr, zu den Bekehrten zu predigen. | |
Was im Nebeneinander von kulinarischem und indigenem Kino, von Rotem | |
Teppich, Solidaritätsbekundungen, leicht wohlfeilem (weil niemanden vor den | |
Kopf stoßenden) politischen Bewusstsein, deutschem Goldkantenkino im | |
Berlinale Special, einigen verstreuten cinephilen pockets of resistance und | |
der Bestsellerverfilmung „Fifty Shades of Grey“, die vor ihrem weltweiten | |
Kinostart in Berlin Premiere feiert, vollkommen fehlt, das ist die | |
kuratorische Idee. Anders formuliert, die Abwesenheit eines kuratorischen | |
Willens gehört zum Selbstverständnis. Kein Programm zu haben ist das | |
Programm. | |
Dies zu betrauern, ist nicht neu. Je häufiger man es tut, umso reflexhafter | |
wird es, so dass man sich allmählich ein bisschen stur und uneinsichtig | |
vorkommt, so ähnlich, wie wenn man sich 2015 immer noch darüber aufregt, | |
dass die Deutsche Filmakademie die Deutschen Filmpreise vergibt, die | |
Branche also Fördergelder des Bundeskulturministeriums an sich selbst | |
verteilt. Doch wenn ein Problem anhält, heißt dies ja nicht | |
notwendigerweise, dass man irgendwann einfach aufhört, es als Problem zu | |
sehen. | |
Schön ist in diesem Zusammenhang, dass junge Filmkritiker sich | |
zusammengetan haben, um das Klagen und die Ratlosigkeit hinter sich zu | |
lassen; sie haben mit der [1][Woche der Kritik eine Gegenveranstaltung] ins | |
Leben gerufen, die vom 5. bis zum 12. Februar in einem Kino ein cinephile | |
Interessen berücksichtigendes Programm präsentiert. Wer weiß, vielleicht | |
ist das ja ein Ausweg aus der Beliebigkeit. | |
4 Feb 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://wochederkritik.de/de_DE/ | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Monika Grütters | |
Dieter Kosslick | |
Filmfestival | |
Kinokultur | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Filmfestival | |
Film | |
Filmfest Bremen | |
Gewalt | |
Jafar Panahi | |
Filmpreis | |
Kolonialismus | |
Militärdiktatur | |
Filmemacher | |
Kino | |
Jury | |
Filmfestival | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Durch die Nacht: Das Kino in Zeiten der Glutenfrage | |
Die Aufwertung der schnöden Nahrungszufuhr zum Kulturevent: mit dem | |
Kulinarischen Kino bei der Berlinale wird das wieder aufgetischt. | |
Neue Führung der Berlinale: Doppelspitze mit Machtgefälle | |
Mariette Rissenbeek sollte die neue Führung der Berlinale finden – nun wird | |
sie selbst Geschäftsführerin. Carlo Chatrian wird künstlerischer Direktor. | |
Filmfestival Max-Ophüls-Preis: Reiche Europäer wollen raus | |
Die Abschlussgala am Wochenende war zugleich der Abschied der | |
künstlerischen Leiterin Gabriella Bandel. Wer die Lücke schließen soll, ist | |
ungewiss. | |
Neuer Dokumentarfilm von Oppenheimer: „Genau das ist Reflexion“ | |
Regisseur Joshua Oppenheimer hat einen neuen Film gedreht. In „The Look of | |
Silence“ sind die Angehörigen von Massaker-Opfern im Fokus. | |
Filmfest in Venedig: Der Goldene Löwe verblasst | |
Die Filmfestspiele von Venedig setzten dieses Jahr besonders auf | |
essayistische Formate. Insgesamt war der Wettbewerb aber eher schwach. | |
Filmfestival von Locarno: Klebrige, fettige Eskalation der Gewalt | |
Beim Versuch, dem PR-Chef von Warner Brothers die Zähne auszuschlagen, | |
brach sich der Regisseur Sam Peckinpah die Hand. Eine Retrospektive. | |
Filmstart „Taxi Teheran“: Eine Irrfahrt ohne Abspann | |
„Taxi Teheran“ ist der dritte Film, den der Regisseur Jafar Panahi dreht, | |
obwohl ihm das Arbeiten im Iran gerichtlich verboten ist. | |
Proteste an der DFFB: Verfahren wie im Vatikan | |
In Berlin wird der Posten des Direktors der Deutschen Film- und | |
Fernsehakademie neu besetzt. Studenten und Dozenten fühlen sich übergangen. | |
Zum Abschluss der Berlinale: Grenzenlose Bilder | |
Der Preis für „Taxi“ ist verdient. Regisseur Panahis Film findet | |
Trampelpfade zu anderen Berlinalebeiträgen – ein Netz der Metaerzählungen | |
entsteht. | |
Softporno bei der Berlinale: Ohne Sex keine Sextoys | |
Sam Taylor-Johnson verfilmt den Weltbestseller „Fifty Shades of Grey“. | |
Sadomaso ist der Film nur auf eine bestimmte Art und Weise | |
Patricio Guzmán über Indígenas: „Ein Land voller Verbrechen“ | |
Der Film „El botón de nácar“ veranschaulicht die Grausamkeit der | |
Pinochet-Diktatur. Regisseur Patricio Guzmán erklärt die Bedeutung des | |
Perlmuttknopfs. | |
Proteste an Film- und Fernsehakademie: Protest und Haltung | |
Studierende der Deutschen Film- und Fernsehakademie kämpfen um | |
Mitbestimmung bei der Direktorenbesetzung. Für sie geht es um die Zukunft | |
der Schule. | |
Berlinale – was bisher geschah (2): Ein Skandal ersten Ranges | |
Die „Woche der Kritik“ ist die Alternative zur Berlinale. Hier begegnet man | |
sich noch. Und auch die Filmkritik ist konkreter als am Potsdamer Platz. | |
Berlinale – was bisher geschah (1): Nicken in der Jury-Runde | |
Die Vorstellrunde der Berlinale-Jury ist ein alljährlicher, sehr | |
erwartbarer Pflichttermin. Doch diesmal gibt es zumindest eine Veränderung. | |
Eröffnungsfilm der Berlinale: „Mensche müsse helfe Mensche“ | |
Es ist Liebesdrama im ewigen Eis: „Nadie quiere la noche“ von Isabel | |
Coixet. Wir haben immerhin ein wenig empathisch mitgefroren. | |
Berlinale 2015: Als die Filme magisch wurden | |
Das Filmfestival feiert den 100. Geburtstag von Technicolor. Während der | |
Berlinale wird eine Auswahl der zum Teil restaurierten Filmkunstwerke | |
gezeigt. | |
Berlinale 2015: Serien auf der Leinwand | |
Bei den Filmfestspielen werden die Fernsehserien dem Kinofilm den Rang | |
ablaufen. Zudem sitzt „Mad Men“-Autor Matthew Weiner in der Jury. | |
Berlins Kinos trotzen der Berlinale: Licht im Schatten des Festivals | |
Nächste Woche startet wieder mal die Berlinale. Aber auch jenseits des | |
Festivals ist gerade die beste Kinozeit - sagen die Betreiber der Berliner | |
Kinos. | |
Berlinale 2015: Wrestler und Schwäne | |
Regisseur Darren Aronofsky und sein Blick für Ästhetik wurden vielfach | |
ausgezeichnet. Nun wird er Jury-Präsident der Berlinale 2015. |