# taz.de -- Filmfestival von Locarno: Klebrige, fettige Eskalation der Gewalt | |
> Beim Versuch, dem PR-Chef von Warner Brothers die Zähne auszuschlagen, | |
> brach sich der Regisseur Sam Peckinpah die Hand. Eine Retrospektive. | |
Bild: Keine Sieger. Keine Verlierer. Nur Tote. Hier eine Szene aus „Sacrament… | |
Manchmal würde man gerne die Reset-Taste drücken, um sich einem filmischen | |
Oeuvre neu und in aller Unschuld zu stellen. Warum nicht schauen, was uns | |
das Werk heute zu erzählen hat, welche Geschichten von einst noch heutig | |
sind? Das hieße, einen Film einfach als Film zu nehmen. Und etwa einen | |
Regisseur wie Sam Peckinpah (1925–1984) nicht umgehend auf seine Bedeutung | |
als Auteur im Genrekino zu untersuchen. | |
In der filmhistorischen Literatur steht Peckinpah für die große | |
Americana-Vision, die er in seinen Western entwarf. Für ein düsteres | |
Leitmotiv – eine Handvoll Männer bei ihrer Reise ohne Wiederkehr –, dem er | |
auch in Kriegsfilmen oder Thrillern treu blieb. Und für einen | |
schonungslosen Blick: „Ich halte den unerfreulichen und oft widerwärtigen | |
Anblick des Lebens für heilsam.“ | |
„Straw Dogs – Wer die Gewalt sät“ ist der Titel eines Films von 1971, und | |
im Rückblick erscheint der Regisseur, der den Set mit Cowboystiefeln, | |
Stetson, verspiegelter Sonnenbrille und einem geladenen Revolver betrat, | |
selbst wie ein streunender Hund in Hollywood, der die Gewalt auf der | |
Leinwand säte. | |
Und es sind ja auch die Bilder einer unvermittelten, geradezu physisch | |
erfahrbaren Brutalität, mit denen sich seine Filme, die beim am Mittwoch | |
beginnenden Filmfestival im schweizerischen Locarno neu zu entdecken sind, | |
ins Gedächtnis brennen: Körper, aus denen im Zeitlupentempo das Leben | |
weicht, faustgroße Einschusslöcher in Bäuchen und Rücken, Blut, das in | |
Fontänen aus zerfetzten Leibern spritzt. „The impact of screaming bullets“ | |
lautet ein Slogan für seinen zweiten Film „Sacramento“ (1962). Diese Kugeln | |
schreien ohrenbetäubend, wenn sich Dustin Hoffmans unbedarfter Mathematiker | |
in „Straw Dogs“ in eine Killermaschine verwandelt. | |
## Grausamkeit und Gewaltpornografie | |
Filmgeschichte haben auch die sadistischen Kinderspiele zu Beginn von „The | |
Wild Bunch“ (1969) geschrieben: In Großaufnahme fängt die Kamera das | |
unschuldige Lachen der Jungen und Mädchen ein, schneidet dann abrupt auf | |
das, was sie anrichten. Mit Stöckchen rollen sie Skorpione auf den Rücken, | |
damit rote Ameisen über sie herfallen können. Später lassen sie die | |
krabbelnde Tierwelt in Flammen aufgehen. Die Szene ist eine Ouvertüre für | |
all das, was sich in den kommenden zwei Stunden auf der Leinwand entladen | |
wird. | |
Bis heute tobt eine Debatte um „The Wild Bunch“. Die einen feiern ihn als | |
blutige Ballade und Abgesang auf Amerika, so wie die New York Times, die zu | |
seiner Premiere schrieb: „Eine passende Antwort auf die Italo-Western, weil | |
er deren Grausamkeit mit Hollywood-Perfektion zu verbinden weiß.“ Andere | |
werfen ihm Zynismus, Machismo, die Ästhetisierung des Sterbens und | |
Gewaltpornografie vor. | |
So weit, so gut. Aber vielleicht kommt man Peckinpahs Kino auf andere Weise | |
näher, wenn man sich auf die Assoziationen einlässt, die seine Bilder | |
auslösen. Etwa die gewaltige Eröffnungssequenz von „The Wild Bunch“. Das | |
Westernstädtchen wird zu einem zeitlosen Ort. Im Spiel geben die Kinder die | |
Gewalt weiter, mit der sie aufwachsen sind. Und plötzlich sind der Irak und | |
Syrien einem Ende der sechziger Jahre in der texanischen Einöde gedrehten | |
Western genauso nahe wie Vietnam. | |
## Kleine blöde Kontingenz eines Sandhaufens | |
Schon reiten Pike Bischop (William Holden) und seine Bande über die | |
Hauptstraße ein. Sie wollen eine Eisenbahngesellschaft überfallen und | |
geraten in einen Hinterhalt von Kopfgeldjägern, die Stellung auf dem | |
gegenüberliegenden Dach bezogen haben. Der Gottesdienst ist gerade zu Ende | |
gegangen, und ein Prozessionszug bildet sich. Diese unbeteiligten Menschen | |
nehmen nun die Bildmitte ein. Sie behindern die Sicht, sind im Weg, dennoch | |
greifen die Kopfgeldjäger die Banditen an. | |
Das Geschrei der Menschen vermischt sich mit dem Geräusch der Projektile. | |
In Zeitlupe wird das letzte Zucken von Sterbenden festgehalten. Plötzlich | |
verharrt die Kamera auf einem Jungen und einem Mädchen, die sich umklammern | |
– und nimmt ihre Perspektive ein. Bei Peckinpah wird klar, was ein | |
sogenannter Kollateralschaden ist. Dass es Opfer gibt, die weder zur einen | |
noch zur anderen Seite gehören. Und dass es kein Wegschauen, kein Entkommen | |
gibt. Auch und erst recht nicht für Kinder. | |
Ein banaler Sandhaufen wird Pike Bischops Pferd in „The Wild Bunch“ zum | |
Straucheln bringen. Unter dem höhnischen Gelächter seiner Mannen versucht | |
er, wieder in den Sattel zu steigen. Man kann das als Dekonstruktion der | |
heroisierenden Mechanismen des Western-Genres lesen. Aber es bleibt auch | |
einfach ein Sandhaufen, der seine kleine blöde Kontingenz in den Weg eines | |
Mannes legt, der der Gewalt müde ist. | |
Wie eine Todeslandschaft sieht der Westen bei Peckinpah aus. In seinen | |
Panoramen blicken die Männer nicht in eine Weite, die neue Horizonte | |
eröffnet. Mit ihren müden Gäulen, verschmutzten Klamotten, zerkratzten | |
Waffen wirken sie verloren in einer Umgebung, in der sie nichts zu suchen | |
haben. Obwohl sie das auch zu ahnen scheinen, ziehen und schießen sie doch | |
weiter, reißen auch andere mit in den Tod. Bis heute. | |
## Physisch ins Hier und Jetzt gerammt | |
Peckinpahs Filme können nur so zeitlos sein, weil sie gleichzeitig so | |
konkret sind, physisch ins Hier und Jetzt gerammt. In „The Wild Bunch“ gibt | |
es immer wieder dokumentarisch wirkende Szenen und Details, die auf eine | |
Leerstelle verweisen. Das Alltägliche fehlt im Western meistens, bei | |
Peckinpah hat es Platz: eine stillende Indio-Frau, die Feste der | |
mexikanischen Bevölkerung, Brillen tragende Western-Helden. | |
In „Abgerechnet wird zum Schluss“ (1970) eröffnet die Hauptfigur Cable | |
Hogue mitten in der Wüste eine Art Pionierraststätte und Pferdetränke. | |
Besucht wird sie aber von den ersten Automobilen, deren Fahrer Benzin | |
verlangen, das Hogue nicht hat. In „The Getaway“ (1972) bewerfen sich die | |
Insassen eines Autos mit Rippchen, es ist eine klebrige, fettige Eskalation | |
der Gewalt. Und wohl niemand wird das Müllauto vergessen, in dem sich das | |
von Steve McQueen und Ali McGraw gespielte Gangsterpaar am Ende des Films | |
versteckt. Ihre Flucht führt mitten in den stinkenden Abfall einer auch | |
innerlich verrotteten und vermüllten Gesellschaft. | |
Letztlich sind alle Filme Peckinpahs Fluchtbewegungen, egal welchem Genre | |
sie angehören. Fluchten nach vorne, die in den Tod, den Abgrund, in brutale | |
Showdowns führen. Man könnte von einem geradezu neurotischen | |
Wiederholungszwang sprechen, der sich in einer pervertierten Form Ausdruck | |
verschafft. „Ich möchte das Publikum mit der Nase auf die Gewalt in der | |
Welt stoßen“, hat Peckinpah einmal gesagt. | |
Und vielleicht braucht es diese Totentänze, Blutorgien, | |
Gewaltchoreografien, um zu verstehen, was er uns auf ehrliche Weise und | |
ohne jedes symbolische Tamtam mitteilen will: Dass es in der Welt, so wie | |
sie ist, keine Sieger und keine Verlierer gibt, sondern Tote und bald noch | |
mehr Tote. | |
## Exzentrisches Neurosenmonster | |
Das ist keine schöne Botschaft, und sie kann den, der sie überbringt, nicht | |
befriedigen. Dieses Gefühl der Aussichtslosigkeit überführt Peckinpah am | |
Ende von „The Wild Bunch“ und von „Pat Garett jagt Billy the Kid“ in | |
absurde Spiegelfechtereien. Die Helden schießen auf ihr eigenes Bild im | |
Spiegel. | |
Wen wundert es, dass der Schöpfer dieses Werks kein einfacher Regisseur | |
war, ein exzentrisches Neurosenmonster, das in den Drehpausen mit | |
Wurfmessern trainierte und dabei einen Produzenten nur um Haaresbreite | |
verfehlte. Beim Versuch, dem PR-Chef von Warner Brothers die Zähne | |
auszuschlagen, brach sich Peckinpah die Hand, im Kokswahn schlief er neben | |
einer geladenen Schrotflinte, seine Schauspieler beschimpfte er als | |
ignorante Schwanzlutscher. Steve McQueen wehrte sich, indem er versuchte, | |
ihm mit einer Flasche Champagner den Schädel einzuschlagen. | |
Ein Gutteil von Peckinpahs Wut mag auch damit zusammenhängen, dass seine | |
Angst und Schrecken hinterlassenden Filme immer wieder gekürzt, | |
umgeschnitten, verstümmelt wurden. Zum Glück ist immer noch genug übrig. | |
5 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
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Gewalt | |
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