| # taz.de -- Filmfestival von Locarno: Gespenstische Bilder | |
| > Die auf dem Festival von Locarno prämierten Filme erzählen von | |
| > marginalisierten Kulturen und traumatischen Erinnerungen. | |
| Bild: Szene aus „From What Is Before“ von Lav Diaz. Der Film wurde mit dem … | |
| Auf den Regen war dieses Jahr in Locarno Verlass. Meistens schlich er sich | |
| nachts heran, dann goss es in Strömen und hörte bis in den Vormittag hinein | |
| nicht mehr auf. Festivaldirektor Carlo Chatrian sprach allerdings nicht | |
| angesichts des Wetters, sondern wegen der Absage von Roman Polanski von | |
| einem schwarzen Tag. Die im Vorfeld des Festivals geäußerte Kritik an der | |
| Auszeichnung des Regisseurs hatte diesen kurzfristig dazu bewogen, daheim | |
| zu bleiben. | |
| Eine Blamage für das Festival, das sich gern weltoffen positioniert – | |
| Polanski wurde wieder einmal zum Politikum. Gekommen sind aber viele andere | |
| Altstars wie Agnès Varda, Mia Farrow oder Melanie Griffith – jeden Tag wird | |
| ein gesponserter Ehrenpreis vergeben. Der ebenfalls geehrte Armin | |
| Müller-Stahl musste deshalb auf der Bühne einen Vergleich seiner Karriere | |
| mit einem Uhrwerk erdulden. | |
| Im Wettbewerb tickte man anders. Hier herrscht schon eine bewährte | |
| Diversität an Formen und Zugangsweisen. Die Auffassungen, welche Stile das | |
| zeitgenössische Kino bestimmen, scheinen im Tessin breiter gefasst zu sein | |
| als auf anderen Festivals: Mit „The Iron Ministry“ lief ein weiterer | |
| starker Dokumentarfilm aus dem Umfeld des Harvard Sensory Lab im | |
| Wettbewerb. | |
| Der amerikanische Anthropologe J. P. Sniadecki porträtiert darin den Riesen | |
| China, indem er Zug fährt – in verschiedenste Richtungen und in diversen | |
| Klassen, was zu mannigfaltigen Begegnungen führt. Im Endschnitt wurde | |
| daraus ein einziger Zug – ein Fortbewegungsmittel, das einmal für das Bild | |
| des „Fortschritts“ stand; bei Sniadecki gibt es dieses unbedingte | |
| Vorwärtsmotiv nicht mehr, er hält die Mutationen des Landes genauso fest | |
| wie dessen Renitenz gegen Veränderungen. | |
| ## Cinéma pauvre mit Formbewusstsein | |
| Lav Diaz, dessen Film schon zu Beginn des Festivals lief, wurde von der | |
| Jury (der auch Thomas Arslan angehörte) mit dem Goldenen Leoparden | |
| prämiert. Das ist schon deshalb eine erfreuliche Wahl, weil es dem mit fast | |
| sechs Stunden Länge schwierig verwertbaren Film zu mehr Aufmerksamkeit | |
| verhelfen wird. In „From What Is Before“ rekonstruiert Diaz Erinnerungen an | |
| die eigene Kindheit in einem Dorf in Mindanao. | |
| Mit viel Beobachtungssinn lässt er eine Kultur auferstehen, die unter der | |
| Gewaltherrschaft von General Marcos (und davor schon durch die | |
| Kolonialmächte) marginalisiert, fast ausgelöscht wurde. Diaz’ Epos ist das | |
| Gegenteil von Ausstattungskino, Cinéma pauvre mit Formbewusstsein, ein | |
| bitterer Film in regennassen Bildern, dem auch etwas Gespenstisches eignet | |
| in der Art, wie die Angst der Menschen noch vor den eigentlichen Taten | |
| greifbar wird. | |
| Der Portugiese Pedro Costa war der zweite Liebling der Cinephilen im | |
| Wettbewerb. Entsprechend große Erwartungen wurden an „Cavalo Dinheiro“ | |
| („Horse Money“) geknüpft: Costa kehrt darin zurück zu Ventura, dem | |
| kapverdischen Mann aus seinem letzten Film „Juventude Em Marcha“. Ventura | |
| wird mittlerweile in einer verlassen Klinik an einem Nervenleiden | |
| behandelt. Der Schauplatz ist freilich nicht ganz von dieser Welt, für den | |
| unter Gedächtnislücken leidenden Mann kommt er einem fantastischen Raum | |
| gleich, in dem die Geschichte stillsteht. Der einst aus Fontainhas von | |
| Soldaten Vertriebene wird von traumatischen Erinnerungen heimgesucht. | |
| ## Vergessene der Geschichte | |
| Costa setzt in „Cavalo Dinheiro“ einiges an Vorwissen voraus. Radikal ist | |
| auch die Langsamkeit des Films. Die statuarischen Bilder werden in einer | |
| Musiksequenz einmal motivisch verknüpft. Kompositorisch sind diese Szenen | |
| durchweg beeindruckend, sie gleichen nachtdunklen Gemälden; Lichtkegel | |
| schälen die Gesichter heraus, während sich die restliche Welt in Weitwinkel | |
| krümmt. Beklemmend ist auch jenes längere Stück, in dem Ventura in einem | |
| Lift auf eine Soldatenfigur trifft, die wie aus einem Denkmal herausgelöst | |
| wirkt – zwei Vergessene der Geschichte, die Costa hier miteinander ins | |
| Gespräch bringt. | |
| Die Jury würdigte Costa mit dem Regiepreis. Von den jüngeren Autoren | |
| schafft es der US-Amerikaner Alex Ross Perry aufs Podest (Spezialpreis der | |
| Jury), der mit „Listen Up Philip“ schon in Sundance viel Anerkennung | |
| erhielt. Der Film ist eine so ambitionierte wie vielschichtige | |
| Auseinandersetzung des erst 30-Jährigen mit den Ansprüchen schöpferisch | |
| tätiger Menschen, ihrer Egomanie und den Erfordernissen eines immer | |
| dreister werdenden Marktes. | |
| Jason Schwartzman spielt den aufstrebenden Schriftsteller Philip Lewis | |
| Friedman, keine wirklich sympathische, sondern eine obsessiv um sich selbst | |
| kreisende Figur. Kritik an seinen Mitmenschen äußert er am liebsten direkt | |
| – und oft. Immerhin weigert er sich, sein Buch zu promoten und nimmt | |
| stattdessen die Einladung von Ike Zimmerman an, ihn auf seinem Landhaus zu | |
| besuchen; Zimmerman, ein an Philip Roth und Norman Mailer erinnernder | |
| Starautor, großartig von Jonathan Pryce verkörpert, wirkt wiederum wie eine | |
| ältere, ähnlich selbstsüchtige Ausgabe von Friedman. | |
| Literarisch ist nicht nur das Milieu von „Listen Up Philip“, sondern auch | |
| die Erzählweise. Alex Ross Perry leistet sich einen von Eric Bogosian | |
| gesprochenen Off-Erzähler und unterschiedliche Perspektiven, die den Film | |
| wie Kapitel strukturieren. Eine davon widmet sich etwa Ashley (Elizabeth | |
| Moss), der Freundin des Jungdichters, die sich seinen Allüren immer mehr zu | |
| entziehen beginnt. Der Tonfall des Films bleibt indes beständig der einer | |
| klugen, mit sarkastisch-pointierten Dialogen versetzten Komödie – der | |
| Stoff, aus dem Romane sind, ist bei Alex Ross Perry eine Fundgrube für | |
| menschliche Eitelkeiten. | |
| 17 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominik Kamalzadeh | |
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