# taz.de -- Regisseur über Film „Sieniawka“: „Nur Beobachtung ist zu wen… | |
> Aus dem Innern einer polnischen Nervenheilanstalt: Ein Gespräch mit | |
> Marcin Malaszczak über sein berückendes Langfilmdebüt „Sieniawka“. | |
Bild: Filmstill aus Marcin Malaszczaks Debütfilm „Sieniawka“. | |
taz: Herr Malaszczak, „Sieniawka“ lief im letzten Jahr beim | |
Dokumentarfilmfestival in Duisburg, wird im Begleittext aber als Spielfilm | |
bezeichnet. Worum handelt es sich? | |
Marcin Malaszczak: Ich würde das gar nicht kategorisieren wollen. Für den | |
Filmemacher, für die Arbeit ist die Unterscheidung egal. Die braucht man | |
nur, wenn man Förderung beantragt, im System arbeiten will. Dann muss man | |
alles benennen. Das gilt später auch für die meisten Festivals. | |
Wie sieht die Arbeit denn aus? Wie lange haben Sie etwa im „Krankenhaus für | |
die Behandlung von Geistes- und Nervenkrankheiten und Alkoholismus“ in dem | |
kleinen Ort gleich hinter der Grenze bei Zittau recherchiert? | |
Ich kenne das Krankenhaus seit meiner Kindheit. Meine Tante hat dort | |
gearbeitet, mein Großvater auch. Ich habe eine Zeit lang als Kind in | |
Sieniawka verbracht und bin dort immer wieder zu Besuch gewesen. Bestimmte | |
Patienten konnten sich an mich erinnern, als ich ein Kind war. Das ist | |
aufregend: Ich war in deren Wahrnehmung, bevor die in meiner waren. | |
Wo hat denn Ihre Tante gewohnt? | |
Auf dem Gelände. Die Hälfte der Siedlung wird vom Krankenhaus in Anspruch | |
genommen, die andere Hälfte ist Wohnraum. Lange war es so, dass die Leute, | |
die im Krankenhaus gearbeitet haben, in der anderen Hälfte gewohnt haben. | |
Wie meine Tante. Eine Gemeinschaft, alle kannten sich untereinander. Jetzt | |
untersteht das Krankenhaus einer Klinik in Görlitz, die Wohnhälfte wird von | |
der Stadt verwaltet. Das bedeutet eine Spaltung. Es ziehen Leute dorthin, | |
die mit dem Krankenhaus nicht verbunden sind. | |
Wie geht das Drehen dann vor sich? | |
Ich hatte ein kleines Team. Meine vorherigen Filme waren streng | |
durchkonzipiert. Das war das erste Projekt, bei dem ich an den Ort gefahren | |
bin und nicht wusste, was passieren wird. Erst bei der Arbeit hat sich die | |
Form herausgestellt, die der Film dann haben sollte. Dass ich irgendwann | |
angefangen habe, die Plansequenzen zu drehen und im Raum zu | |
choreografieren. Das war sehr organisch. Bei der Arbeit habe ich | |
festgestellt, dass mir die reine Beobachtung einfach zu wenig ist, weil | |
durch die Beobachtung das Material eine Tendenz ins Fiktionale zeigt. Das | |
wollte ich weiter ausreizen und verfolgen. Und das führt dann zu den | |
Verwirrungen mit den Kategorien. | |
Dabei ist „Sieniawka“ ein Entwirrer: Der Film erinnert einen beim Sehen | |
daran, dass es um die Formatierungen, die man aus dem Fernsehen gewöhnt | |
ist, nicht geht. | |
Die erste Plansequenz mit dem Klavierspieler, das ist für mich der Moment, | |
in dem man einen Weg einschlägt in dem Film. Manche Leute gehen nicht mit, | |
die verlassen das Kino nach dieser Einstellung. Aber die, die bleiben, | |
bleiben bis zum Schluss. Das ist für mich wichtig, das ästhetisch so zu | |
setzen. Man verliert die Orientierung in Zeit und Raum und vergisst beim | |
Sehen fast, wer man selber ist. Ich denke, dass Zuschauer das aushalten. | |
Die halten noch viel mehr aus. | |
Das Aushalten betrifft auch ethische Fragen. Der westlich Zuschauer, der | |
von seinem Wohlstand nicht abstrahieren kann, wird in „Sieniawka“ | |
vermutlich immer nur Elend und Verfall sehen, was dann mit Mitleid bekämpft | |
werden muss. Dabei geht es Ihnen doch gar nicht um Journalismus, es geht | |
Ihnen noch nicht einmal um Psychiatrie. | |
Es gibt Leute, die mir Voyeurismus vorwerfen, aber ich sehe das nicht so. | |
Natürlich hat der Film etwas Elegisches, Melancholisches, das muss auch da | |
sein. Es gibt aber auch Szenen, da wird getanzt, etwas Kakofonisches | |
gezeigt. Ich mag die Bewegung hin zur Abstraktion, zur Öffnung der | |
Konstruktion und dann wieder ins Gegenständliche, fast Naturalistische. | |
Wie wappnet man sich denn gegen den falschen Blick von außen? | |
Durch den Blick zurück, den Blick der Patienten in die Kamera. Ich hätte | |
das unterbinden können. Mir war aber wichtig, dass es die Konfrontation der | |
Blicke gibt, dass auch wir beobachtet werden beim Beobachten. Wenn man sich | |
fragt, wo die Grenze ist, heißt das vielleicht, dass man die Grenze | |
manchmal überschreiten muss, damit man sie überhaupt sieht. | |
Man muss bei „Sieniawka“ genau hinschauen. Vieles erfährt man aus den | |
Beitexten zum Film. Etwa dass das Krankenhaus ursprünglich eine deutsche | |
Kasernensiedlung, im Zweiten Weltkrieg ein Arbeitslager war. | |
Es gibt durchaus einen Hinweis in dem Film darauf: die Tordurchfahrt, die | |
wiederholt wird. Jeder, der ein wenig Kenntnis von Architektur hat, sieht, | |
dass das ein Lager ist. Da fehlt nur noch der Turm, der abgetragen wurde. | |
Aber ich wollte das im Hintergrund lassen, darum geht es letztendlich | |
nicht. Ich fange immer bei der Gegenwart an. Von dieser Perspektive aus | |
operiere ich. Die Gegenwart in Sieniawka ist ziemlich chaotisch, | |
undurchdringlich. Für mich ist der Film auch Dokumentation eines | |
Wahrnehmungsprozesses, wie sich die Dinge in der Zeit herausschälen. | |
Die Gegenwart Polens, das aktuelle polnische Kino wird in deutschen | |
Kritiken immer mit der Vokabel „postkommunistisch“ beschrieben. Das klingt | |
so, als würde man dem Sozialismus Probleme von heute in Rechnung stellen. | |
Dabei ist damit doch die kapitalistisch organisierte Zeit heute gemeint. | |
Darauf verweist Ihr Protagonist, wenn er sagt, dass die Demokratie die | |
Ruinen besorgt hat. | |
Für mich findet in Polen keine Auseinandersetzung mit der Gegenwart statt. | |
Wenn ich mir polnische Filme anschaue, etwa Małgorzata Szumowskas „Im Namen | |
des …“, da werden Reizthemen hergenommen wie der schwule Priester, es geht | |
aber nie darum, was heute interessant ist. Nämlich: Wie sich die Landschaft | |
verändert. In jeder kleinen Stadt haben Sie diese ahistorischen | |
Einkaufsmärkte und Supermärkte, Räume, die man aus dem Westen kennt. Der | |
Neoliberalismus ist in Polen viel drastischer als in Deutschland. Es ist | |
völlig klar, dass bestimmte Leute der Entwicklung geopfert werden. Dazu | |
gehören auch die Leute aus Sieniawka. | |
5 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Mattias Dell | |
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