| # taz.de -- Das Filmfestival Locarno ist brutal: Gewalt im Paradies | |
| > Filme aus den USA, Österreich, Argentinien und Iran stören brachial die | |
| > Schweizer Idylle - nicht zuletzt mit einer Lehrerin aus Teheran. | |
| Bild: Eine junge Lehrerin in Teheran gibt die Repressionen, die sie erfährt, a… | |
| Manchmal kommt sie aus dem Nichts. Ein anderes Mal macht sie sich langsam | |
| bemerkbar. Wir kennen im Kino die explosionsartige Gewaltorgie so gut wie | |
| den nervenaufreibenden Psychoterror. Es mag anlässlich der Retrospektive, | |
| die das Filmfestival von Locarno heuer Sam Peckinpah widmet, also | |
| naheliegen, auf die Darstellung von Gewalt im Kino besonders acht zu geben. | |
| Peckinpah schrieb sich immerhin mit Filmen wie „The Wild Bunch“ und „Straw | |
| Dogs“ mit einer einzigartigen Stilisierung von Gewalt in die Kinogeschichte | |
| ein. | |
| Bei aller Anerkennung und mancher Ächtung, die dem vor über dreißig Jahren | |
| verstorbenen US-amerikanischen Regisseur entgegengebracht wird, gilt es | |
| nicht zu übersehen: Die Gewalt in diesen Filmen ist nicht die eines | |
| Einzelnen, der Rache übt. Sondern sie existiert als bloße Möglichkeit – | |
| weil der Mensch zu ihr fähig ist. | |
| Wenn man nach der Ankunft in diesem malerischen Schweizer Ort am Lago | |
| Maggiore in der ersten Szene der ersten Pressevorführung zu sehen bekommt, | |
| wie einem Mann mit einer Kanone der Kopf weggeschossen wird, befindet man | |
| sich dennoch nicht im amerikanischen Westen (Peckinpah begnügte sich mit | |
| einem Zielschießen auf Hühnerköpfe), sondern in der argentinischen Pampa in | |
| der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. | |
| Die marodierenden Banden, die durchs Land streifen und den Armen ihr | |
| allerletztes Hab und Gut rauben, sind in „El Movimiento“ (“The Movement�… | |
| plötzlich einfach da. In der endlosen Weite der Landschaft, durch die hin | |
| und wieder Kanonenschüsse hallen, verlieren sich die Figuren wie auf einer | |
| leeren Bühne des absurden Theaters; Rebellen, Soldaten und Bauern werden | |
| auf ihre nackte Existenz heruntergebrochen. | |
| ## Jede Minute ist eine Reise in eine neue Gefahr | |
| Nur knapp mehr als eine Stunde dauert der zweite Spielfilm des jungen | |
| argentinischen Filmemachers Benjamín Naishtat (der vergangenes Jahr mit | |
| „Historia del miedo“ bei der Berlinale debütierte), doch jede Minute | |
| erweist sich als Reise in eine neue Gefahr. Ein gebildeter Mann namens | |
| Señor (Pablo Cedrón), der von Getreuen begleitet und hofiert wird, bildet | |
| dabei das Zentrum dieses schwarz-weißen Neowestern. | |
| Er setzt brachiale Gewalt als Mittel ein, um dem mysteriösen „Movimiento“ | |
| zum Sieg zu verhelfen. Dass sich Señors Methoden dabei nicht von jenen der | |
| im Dienste der Diktatur mordenden Soldaten unterscheiden, ist in diesem | |
| Film Bedingung: Irgendwann bilden Gewalt und Gegengewalt einen nicht mehr | |
| zu durchbrechenden Kreislauf, der sich als die Geschichte eines ganzes | |
| Landes erweist. | |
| Am Abend auf der Piazza Grande, dem mit rund 8.000 Plätzen gefüllten | |
| historischen Marktplatz (wo der künstlerische Leiter Carlo Chatrian | |
| traditionell eher Publikumsträchtiges präsentiert und Ehrungen an Edward | |
| Norton oder Michael Cimino vergibt), läuft dann „Jack“ – das mit einigen | |
| fiktionalen Freiheiten angereicherte Porträt der Österreicherin Elisabeth | |
| Scharang über Jack Unterweger. | |
| Dieser wurde 1976 für einen Mord an einer jungen Frau zu lebenslanger Haft | |
| verurteilt, nach fünfzehn Jahren entlassen und in der Folge als „Häfnpoet“ | |
| (er schrieb im Gefängnis mehrere Gedichtbände sowie autobiografische | |
| Romane) zum Liebkind eines Zirkels der Wiener Kulturszene. Als Unterweger | |
| schließlich für eine Mordserie an Prostituierten in erster Instanz schuldig | |
| gesprochen wurde, erhängte er sich 1994 in seiner Zelle. | |
| ## Das Charisma des Dandy-Mörders | |
| Es ist eine ganz andere Form der Gewalt, die in diesem Film spürbar ist und | |
| die von diesem Mann ausgeht. Johannes Krisch als Unterweger erzeugt vor | |
| allem zu Beginn eine Atmosphäre der Angst, die einer unkontrollierbaren Wut | |
| entspringt. „Jack“ ist weder psychologische Studie noch Justizthriller, | |
| sondern ein Film, der von Abhängigkeiten erzählt. | |
| „Dein Kapital ist deine Vergangenheit“, bekommt Jack zu hören, obwohl er | |
| doch selbst Kapital für andere ist. Scharang interessiert sich für das | |
| Charisma des Mörders, präsentiert ihn als Dandy, der so schnell | |
| fallengelassen wird, wie er hofiert wurde. Die wiederkehrenden Bilder von | |
| Waldtieren bekommen symbolische Kraft: Sie sind die möglichen stummen | |
| Zeugen des Schreckens. | |
| Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden fiel „Ma dar Behesht“ („Paradise�… | |
| des iranischen Filmemachers Sina Ataeian Dena besonders auf: Die Geschichte | |
| der Lehrerin Hanieh (Dorna Dibaj), die bei den Behörden vergeblich um ihre | |
| Versetzung in einen anderen Stadtteil Teherans bittet, lässt die Gewalt | |
| eines Systems an alltäglichen Repressionen erkennen, mit denen die junge | |
| Frau konfrontiert wird – und die an ihre Schülerinnen weiterzugeben sie | |
| gleichsam gezwungen ist. | |
| Wie eine Schlafwandlerin gehorcht sie der staatlichen und religiösen | |
| Ordnung, während sie bei ihren heimlichen Ausbruchsversuchen zum Leben | |
| erwacht. So zeigt der Film eine Möglichkeit auf, der institutionellen | |
| Gewalt persönliche Momente der Freiheit entgegenzusetzen. | |
| 9 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Pekler | |
| ## TAGS | |
| Filmfestival | |
| Filmfestival Locarno | |
| Schweiz | |
| Kino | |
| Film | |
| Gewalt | |
| Filmfestival | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Filmfestspiele Locarno: Die Verteidigung der Demokratie | |
| Die 75. Filmfestspiele in Locarno boten mutige Filme aus queerer | |
| Perspektive. Das Mainstreamangebot war durchwachsen. | |
| Regisseur über Film „Jauja“: „Ein Gedicht in meinem Kopf“ | |
| Die Langsamkeit, die Farben, das Licht – mit allem baut der argentinische | |
| Regisseur Lisandro Alonso eine andere, eine vormoderne Welt. | |
| Filmfestival von Locarno: „Goldener Leopard“ geht an Südkorea | |
| Das „Festival del film“ von Locarno ist zu Ende. Neben dem sehenswerten | |
| Gewinnerfilm gab es auch noch andere Highlights. | |
| Filmfestival von Locarno: Klebrige, fettige Eskalation der Gewalt | |
| Beim Versuch, dem PR-Chef von Warner Brothers die Zähne auszuschlagen, | |
| brach sich der Regisseur Sam Peckinpah die Hand. Eine Retrospektive. | |
| Filmfestival von Locarno: Gespenstische Bilder | |
| Die auf dem Festival von Locarno prämierten Filme erzählen von | |
| marginalisierten Kulturen und traumatischen Erinnerungen. |