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# taz.de -- Filmfestspiele Locarno: Die Verteidigung der Demokratie
> Die 75. Filmfestspiele in Locarno boten mutige Filme aus queerer
> Perspektive. Das Mainstreamangebot war durchwachsen.
Bild: Experimente auf hoher See: Szene aus „Human Flowers of the Flesh“ von…
Der Siegerfilm des 75. Locarno Filmfestivals beginnt mit einer Provokation.
Eine junge PoC-Frau sitzt nackt vor einer Webcam und begrüßt ihre Fans, die
sie masturbierend zu virtuellen Geldbeträgen animiert. Eine Peepshow
online, wie sie weltweit tausendfach stattfindet.
Am Ende zieht sie sich aber einen Blazer an und verkündet mit einem
Lächeln: „Das ist kein Kostüm, Leute. Ich habe bestanden. Danke euch allen,
die mich bis hierher unterstützt zu haben.“ Die 23-jährige Simona (Sol
Miranda) studiert Jura, um Frauen zu verteidigen, die Opfer häuslicher
Gewalt wurden. Nebenbei verdient sie online Geld als Sexworkerin und
entdeckt dabei ihren Kink für härtere Spielarten.
Mit „Regra 34“, der am Samstag in [1][Locarno] mit dem Goldenen Leopard für
den besten Film ausgezeichnet wurde, fordert die brasilianische Regisseurin
Júlia Murat gleich auf mehreren Ebenen heraus. Etwa wie sie die
BDSM-Kultur, in der spielerisch und einvernehmlich sexuelle Fantasien um
Macht und Unterwerfung ausgelebt werden, direkt neben Aussagen
missbrauchter Frauen stellt.
## Der Körper ist politisch
Der Körper ist politisch in „Regra 34“ und Murats Film ist ein anarchisches
und mutiges Zeichen des Widerstands im rechtsextrem regierten Brasilien und
dessen extrem hoher Femizidrate. Bei aller Explizität verhandelt Murat klug
Debatten über Gender, Rassismus und Dekolonialisierung, die in ihrer Heimat
maßgeblich von der schwarzen Community vorangetrieben werden.
Bei der Preisverleihung am Samstag forderte die Filmemacherin angesichts
der im Herbst anstehenden Wahlen, die das Ende von Jair Bolsonaros Regime
bedeuten könnten: „Verteidigen wir die Demokratie, die Differenz und den
Dialog!“
„Regra 34“ steht exemplarisch für eine Reihe von Filmen, die radikal
weibliche und queere Perspektiven formulierten, oft mit geringen Mitteln,
und damit zu den interessantesten Beiträgen einer sehr durchwachsenen
Programmauswahl zählten. In „Human Flowers of Flesh“ erzählt die Hamburger
Regisseurin Helena Wittmann von Ida (Angeliki Papoulia), die mit ihrem
Segelschiff und einer Besatzung von fünf Männern durch das Mittelmeer
fährt, sie machen mal hier, mal dort Halt.
## Interesse für Kolonialgeschichte
Ein Interesse für den Mythos der Fremdenlegion als Männerbastion wie als
Kolonialgeschichte zieht sich in Andeutungen durch den Film, der sich mehr
aus sinnlichen Aufmerksamkeiten zusammenfügt, denn einem klassischen
Narrativ zu folgen. Damit spaltete er das sonst für seine cinephile
Offenheit bekannte Publikum. Viele verließen die Vorstellung vorschnell.
Wer jedoch blieb, wurde in diesem kontemplativ-mäandernden Nachspüren von
Marseille über Korsika nach Algerien mit einigen der betörendsten Momente
des Festivals belohnt.
Das Filmfest im Schweizer Tessin wagt seit Langem den Spagat zwischen
großen Publikumsfilmen, die auf der 8.000 Plätze fassenden Piazza Grande
unter freiem Himmel aufgeführt werden, und formal wie inhaltlich
herausfordernder Filmkunst in den Wettbewerben. Es waren vor allem
Beiträge, die mit kinematografischen Ausdrucksformen und deren Herstellung
experimentierten, die aus dem Programm herausstachen. Filme wie der
hochartifizielle „Piaffe“, der in Tel Aviv aufgewachsenen, inzwischen in
Berlin lebenden Videokünstlerin Ann Oren, in der sich eine junge Frau in
ein Pferdewesen verwandelt und so selbstbestimmt ihre Sexualität entdeckt.
Oder „De noche los gatos son pardos“ des Schweizers Valentin Merz: eine
queere Fantasie, die mit großer Teilhabe des ganzen Teams und möglichst
wenig hierarchischen Strukturen entstanden ist und auch in seiner Form,
zwischen Genres, Perspektiven und Metaebenen changierend, wild und
unberechenbar ist.
## Drei Preise für einen Film
Gleich drei Preise erhielt am Ende Valentina Maurels „Tengo sueños
eléctricos“ aus Costa Rica, für die beste Regie sowie die besten
Schauspielleistungen, Daniela Marín Navarro und Reinaldo Amien Gutiérrez.
Sie spielen in diesem subtil-komplexem Familiendrama über die
dysfunktionale Beziehung einer Jugendlichen zu ihrem neurotischen, an
seinen Träumen gescheiterten Vater. Ruth Maders in kühler Strenge
inszenierter Psychothriller „Serviam – Ich will dienen“ über eine
religiös-fanatische Schülerin in einem katholischen Mädcheninternat ging
dagegen leer aus.
Weitere wichtige Auszeichnungen erhielten Frauen in der zweiten
Wettbewerbssektion, dem Concorso Cineasti del presente. Das
slowakisch-tschechische Missbrauchsdrama „Svetlonoc“ wurde als bester Film
der Sektion ausgezeichnet und den Jurypries erhielt das ukrainische
Sozialdrama „Yak tam Katia?“ von Christina Tynkevych über eine
alleinerziehende Mutter, die sich gezwungen sieht, ihren moralischen
Kompass infrage zu stellen.
Auf der Piazza dagegen liefen so manche Belanglosigkeiten und vermeintliche
Publikumshits, vom actiontrunkenen Eröffnungsfilm „Bullet Train“ über das
klischeetriefende Rachedrama „Une femme de notre temps“ mit Sophie Marceau
bis zur öden Bestsellerverfilmung „Der Gesang der Flusskrebse“. Eine rare
Ausnahme, wie klassisch erzähltes Kino berührt, wenn es seine Figuren und
deren Traumata ernst nimmt, war Kilian Riedhofs subtil inszeniertes Drama
„Meinen Hass bekommt ihr nicht“.
Die Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Antoine Leiris, der beim
Attentat auf den Pariser [2][Bataclan-Club] im November 2015 seine Frau
verlor, bleibt ganz in der Perspektive des Hinterbliebenen, verweigert jede
spekulative Darstellung des Anschlags, macht die Trauer und Ohnmacht
spürbar und wirkt gerade deshalb so zwingend.
Einen der merkwürdigsten Beiträge stammte von Alexander Sokurow, der in
„Skazka“ eine allegorische Vorhölle inszeniert, in der verstorbene
Diktatoren wie Hitler, Stalin und Mussolini aufeinandertreffen, auch in
diversen Reinkarnationen mit sich selbst. Entstanden sind diese bizarren
Szenen durch Archivbilder, die mithilfe einer Software animiert wurden,
unterlegt mit fiktiven, oft kaum verständlichen Dialogen, während die
Menschenmassen, die ihnen zujubeln, gesichtslos bleiben.
Der Deep-Fake-Effekt nutzt sich allerdings rasch ab, Sokurows Experiment
hätte als immersive Installation womöglich besser funktioniert. So global
gestreut die Jurys am Ende entschieden, gingen die [3][Ehrenpreise] in
dieser Jubiläumsausgabe vor allem an US-Filmemacher*innen, an
Indieregisseurin Kelly Reichardt, Multimedia- und Performancekünstlerin
Laurie Anderson, den Horror-Produzenten Jason Blum und den Schauspieler
Matt Dillon.
Mit dem 89-jährigen griechisch-französischen Regiealtmeister Costa-Gavras
(„Z“, „Der unsichtbare Aufstand“) wurde auch das europäische Erzählki…
gewürdigt. Júlia Murat bezog sich in ihrer Dankesrede direkt auf ihn und
sein politisch engagiertes Filmemachen und schloss damit den Kreis zur
Gegenwart.
## Zurück zu Douglas Sirk
Der Blick zurück lohnt in Locarno ohnehin. Die exzellent kuratierte
Retrospektive mit den Filmen von Douglas Sirk wiederum bot die seltene
Gelegenheit, nicht nur dessen berühmte Technicolor-Melodramen der 1950er
Jahre wie „Imitation of Life“ oder „All That Heaven Allows“ auf der gro…
Leinwand in all ihrer Farbpracht zu erleben und dabei sowohl seiner
Präzision in kleinsten Details nachzuspüren.
Zu entdecken gab es auch weniger bekannte Filme vor seinem kalifornischen
Exil, als der gebürtige Hamburger noch unter seinem ursprünglichen Namen
Detlef Sierck inszenierte, etwa die Ibsen-Adaption „Stützen der
Gesellschaft“ von 1934, in der er bereits seinen subversiven Sinn für
doppelte Lesarten und Ironie entwickelte. Eine Praktik, die in unserer
prekären Gegenwart nichts von ihrer Relevanz verloren hat.
14 Aug 2022
## LINKS
[1] /Locarno/!5196760
[2] /Urteil-im-Bataclan-Prozess-in-Frankreich/!5864726
[3] /Cukor-Ehrung-in-Locarno/!5061840
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Schweiz
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Abschlussbericht
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Kino
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