# taz.de -- Locarno: Meister der totalitären Totalen | |
> Ein Treffen mit Hou Hsiao-hsien, einem der wichtigsten Filmregisseure | |
> Asiens. Beim Filmfest von Locarno hat er den Ehrenleoparden für sein | |
> Lebenswerk bekommen. | |
Bild: Ehrenpreisträger des 60. Filmfests: Hou Hsiao-hsien | |
In Begleitung einer kleinen Entourage und mit einem Basecap auf dem Kopf | |
erscheint er zum Interview. Hou Hsiao-hsien ist außer Atem, weil er zu Fuß | |
zum Treffpunkt im Kino Babylon gekommen ist, um noch ein bisschen von | |
Berlin mitzukriegen. Als Regisseur ist er gewohnt, alles unter Kontrolle zu | |
haben: Automatisch wirft er einen Blick auf mein Aufnahmegerät und rückt | |
das Mikrofon zurecht. Nervös stelle ich unter seinen Argusaugen den | |
Tonpegel ein, und wir reden über das gerade stattfindende Filmfestival von | |
Locarno. Hou Hsiao-hsien erzählt von der Hitze und von der angenehmen Lage | |
seines Hotels am Tessiner Berghang. Angesprochen auf den Ehrenleoparden, | |
mit dem er für sein Gesamtwerk ausgezeichnet wurde, beginnt er die perfekte | |
technische Ausstattung des Festivals zu loben, den hervorragenden Ton und | |
die enorme Bildqualität der Freiluftvorführungen. Und seine Ehrung? Hat ihn | |
bei der Verleihung nicht auch die Kulisse von über 5.000 Zuschauern auf der | |
Piazza Grande beeindruckt? Erst auf erneutes Nachfragen kommt ein | |
verhaltenes "Ja, doch". | |
Da sitzt er also, der große Taiwanese. Hou Hsiao-hsien, ein Regisseur, der, | |
wann immer es Umfragen unter Kritikern gibt, als einer der zehn | |
Einflussreichsten unserer Zeit genannt wird. Der von Jim Jarmusch, Martin | |
Scorsese und Quentin Tarantino verehrt wird und auf den Festivals von | |
Cannes und Venedig die großen Preise abräumte. | |
"Ja, doch." Man könnte jetzt von Bescheidenheit reden, von fernöstlichem | |
Understatement. Vielleicht sollte man eine Bemerkung wie die folgende aber | |
auch einfach für sich stehen lassen: "Jeder Regisseur erstürmt einmal den | |
Gipfel, aber dann muss er wieder durch ein Tal laufen", sagt Hou | |
Hsiao-hsien und lacht. "Wichtig ist dabei, dass man die Kraft behält, auch | |
die körperliche, um weiterdrehen zu können." Turnschuhe, Polohemd, | |
Windjacke - der Sechzigjährige verschränkt die Arme, lehnt sich zurück und | |
wartet auf weitere Fragen. Eine angenehm entspannte Anspannung geht von ihm | |
aus. Er wird noch einige Hügel erklimmen. | |
Eine fast hypnotische Präzision geht von Hou Hsiao-hsiens Filmen aus. Ob | |
sie in der jüngsten Geschichte Taiwans spielen oder sich mitten ins moderne | |
Leben seines Landes werfen, stets bildet die Heimat den Hintergrund. "Das | |
kommt mir ganz natürlich vor, ich lebe ja dort. Nach außen mag Taiwan | |
kompliziert wirken, aber ich bin mit den Dingen und den Menschen vertraut. | |
Im Laufe der Jahre ist mein Verständnis für die Besonderheiten Taiwans noch | |
größer geworden." | |
In den frühen Achtzigern nimmt Hou Hsiao-hsien seine Erkundungen auf. Mit | |
seinen ersten Filmen "Die Jungen von Fengkuei", "Große Ferien" und | |
"Geschichten einer fernen Kindheit" kehrt er in die ländlichen Gegenden | |
zurück, an die Orte seiner Kindheit und Jugend. Mit Bildern, bei denen man | |
nie weiß, ob die Schönheit aus der Einfachheit entsteht oder umgekehrt, | |
erzählt er etwa in "Große Ferien" von Stadt und Land. Der halbwüchsige Ding | |
Dong aus Taipeh verbringt mit seiner Schwester die Ferien bei den | |
Großeltern. Zu Beginn tauscht er sein elektrisches Auto gegen eine | |
Schildkröte ein. Wenig später versammelt sich eine Horde verrotzter Bengel | |
vor seinem Haus, schreit nach seinem Namen. Sie alle haben eine Schildkröte | |
in der Hand, sie alle möchten die Tiere gegen das Plastikspielzeug | |
austauschen. Diese frühen Filme mögen Passagenwerke sein, die Übergänge | |
zwischen Kindheit und Jugend, Jugend und Erwachsenenalter nachzeichnen, | |
doch die politischen und sozialen Verhältnisse schwingen in | |
Hou-Hsiao-hsiens ruhigen und transparenten Tableaus stets mit. | |
Als Annäherung vom Rande könnte man Hou Hsiao-hsiens inhaltliche wie | |
formale Herangehensweise bezeichnen. Stets wird die alltägliche | |
Lebenssituation einer Familie zum Ausgangspunkt einer Bewegung, die in die | |
großen gesellschaftlichen Gefilde führt. So war es denn auch eine wuchtige | |
Geschichtslektion, die ihn 1989 auf den Filmfestspielen in Venedig in die | |
Liga der Jahrhundertregisseure katapultierte. Die Handlung seines Films | |
"Stadt der Traurigkeit" erstreckt sich über einen Zeitraum von fünf Jahren. | |
Sie beginnt 1945 mit dem Rückzug der japanischen Besatzer und endet mit der | |
endgültigen Machtübernahme durch Chiang Kai-sheks nationalchinesische | |
Guomindang-Partei im Jahr 1950. Ein Film, der auch deswegen für solches | |
Aufsehen sorgte, weil er das jahrzehntelange Schweigen über die blutige | |
Frühgeschichte der taiwanesischen Regierung beendete. Bevor er sich 1949 | |
nach der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg auf die Insel zurückzog, | |
hatte Chiang Kai-shek im Frühjahr 1947 einen Volksaufstand blutig | |
niedergeschlagen. | |
Doch Hou Hsiao-hsiens Film ist das genaue Gegenteil von verfilmter | |
Historie. Geschichte fließt bei ihm als Summe von privaten Momenten und | |
Stimmungen in die Bilder ein. Sie richtet sich ein zwischen den Wänden im | |
Haus der Familie Lin. Die großzügigen Zimmer mit den blank geputzten | |
Holzdielen und den offenen Türen, hinter den sich immer weitere | |
Zimmerfluchten öffnen, werden zu ihrem Resonanzraum. | |
Am Anfang von "Stadt der Traurigkeit" herrscht hier noch hektische | |
Betriebsamkeit. Die Japaner ziehen sich zurück, man dekoriert den Nachtclub | |
des Vaters um, entfernt pragmatisch alles Japanische. Als "Klein Schanghai" | |
sieht die Spelunke der neuen Epoche entgegen, so hoffnungsvoll wie | |
opportunistisch. Doch wenig später wird jemand beim Essen feststellen, dass | |
es selbst unter den Japanern mehr Reis gab als jetzt. Mehr braucht der Film | |
nicht, um vom Hunger und der Not jener Jahre zu erzählen. | |
Auf solche Details angesprochen, reagiert Hou Hsiao-hsien mit der | |
freundlichen Bestimmtheit eines Menschen, der erklären soll, warum man | |
essen muss oder weshalb es am Tage hell ist: "Auf diese Weise werden die | |
Geschichte und die Gegenwart eines Landes am lebendigsten. Genau so ist | |
doch auch das Leben." Wieder scheint alles so einfach und klar. Warum | |
erklären, was zu sehen ist? "Natürlich beeinflussen große Umbrüche wie | |
Revolutionen, Studentenbewegungen das Private", sagt Hou und lächelt. "Aber | |
auch wenn in einer Familie ganz kleine Veränderungen stattfinden, hat das | |
oft einen politischen Hintergrund. Das ist nicht unbedingt ein bewusster | |
Prozess. Das versuche ich in meinen Filmen festzuhalten." Dafür tritt er | |
mit der Kamera immer einen Schritt zurück. Man könnte von totalitären | |
Totalen sprechen, denen nichts entgeht, die für alle Widersprüchlichkeiten | |
des Lebens, für alle Empfindungen und Stimmungen offen sind. Es ist gerade | |
diese distanzierte Perspektive, die den Zuschauer in "Stadt der | |
Traurigkeit" miterleben lässt, was politische Unterdrückung mit Menschen | |
anrichten kann. | |
Wen-leung, der älteste Sohn der Familie Lin, musste während des Zweiten | |
Weltkrieges für die Japaner in Schanghai arbeiten. Jetzt, in den neuen | |
Zeiten, gilt er als Kollaborateur. Zwischen den verschiedenen Fronten | |
aufgerieben, verliert er den Verstand. Der Wahnsinn zieht wie ein weiterer | |
Bewohner ein im Hause Lin. Wenn die Familie am Tisch Platz nimmt, hört man | |
Wen-leung aus dem Nebenzimmer wüten und schreien. Später wird er den Raum | |
lauten Schrittes mit schmerzverzerrtem Gesicht durchqueren. Doch längst hat | |
man sich an die Ausbrüche gewöhnt, im vorderen Teil des Tableaus geht der | |
Rest der Familie unberührt dem Tagewerk nach. | |
In "Stadt der Traurigkeit" oder in "The Puppetmaster", der zur Zeit der | |
japanischen Besatzung spielt, kämpften Hou Hsiao-hsiens Helden noch gegen | |
verschiedenste Machthaber und versuchten, sich in den politischen | |
Wirrnissen eine eigene Biografie zusammenzusetzen. Die Kleinganoven Kao und | |
Flaty hingegen wirken im 1996 entstandenen Film "Goodbye South, Goodbye" | |
seltsam abgeschnitten von den jüngsten Ereignissen ihres Landes. Der Film | |
spielt in der Gegenwart und handelt von jungen Menschen, die ihre Ortung | |
verloren haben, auf Durchreise sind, die aus keiner Vergangenheit zu kommen | |
und in keine Zukunft zu gehen scheinen. | |
Mit seinen tiefenscharfen Totalen dringt Hou Hsiao-hsien in diesem Film zu | |
einer Wut vor, die sich hinter dem Leerlauf des Lebens verbirgt. Die | |
Menschen im Bildhintergrund sind in Bewegung, sie sprechen miteinander, | |
nehmen sich wahr, während der sonnenbebrillte und goldkettchenbehangene Kao | |
wie erstarrt dasitzt. Ein dröhnender Beat setzt ein, der aus einer anderen | |
Sphäre zu kommen scheint. Es ist Kaos Rhythmus, aggressiv und wütend, ein | |
Sound, der wie er selbst auf der Stelle tritt und immer wieder die gleichen | |
Töne anschlägt. | |
Quer durch die Zeiten entsteht in den Filmen von Hou Hsiao-hsien das Bild | |
eines verwundeten, angeschlagenen Landes. Der Titel "Stadt der Traurigkeit" | |
könnte stellvertretend für sein Gesamtwerk stehen. "Der Titel geht auf | |
einen Schlager zurück, in dem die Trauer ausgedrückt wird, die das | |
taiwanesische Volk empfindet", sagt Hou. "Man trifft überall auf eine | |
melancholische Grundstimmung, ob in den Familien oder auf den Straßen. Ohne | |
dass man es merkt, hat man diesen traurigen Grundton einfach in den | |
Knochen, wenn man in Taiwan aufgewachsen ist." | |
10 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
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