| # taz.de -- Filmfestival Locarno zu Ende: Gedankenschnelles Kino | |
| > Es lohnt es sich, in Locarno nicht nur am Wettbewerb zu kleben. Doch in | |
| > der Sektion überzeugte der Langfilm „La Flor“ des Argentiners Mariano | |
| > Llinás. | |
| Bild: Ein Leopard schmückt während des Festivals den Eingang des Teatro Parav… | |
| Weithin positiv wurde die Nachricht aufgenommen, dass der Italiener Carlo | |
| Chatrian ab 2020 die künstlerische Leitung der Berlinale übernimmt. | |
| Lediglich unter Schweizer Filmjournalist*innen macht sich Sorge breit. Denn | |
| die Berufung hat logischerweise zur Folge, dass Chatrian dem | |
| Internationalen Filmfestival Locarno, wo er seit September 2012 in gleicher | |
| Funktion tätig ist, den Rücken kehren wird. | |
| In den letzten sechs Jahren ist es ihm gelungen, das traditionsreiche, aber | |
| lange Zeit als etwas verschlafen geltende Tessiner Festival in einen | |
| inspirierenden Kinoort zu verwandeln. Genauer gesagt: Locarno ist nicht | |
| mehr einfach nur ein weiterer Ort, an dem ein paar jener vielen aktuellen | |
| Filme Premiere feiern, die gerade im Angebot sind (das heißt: die übrig | |
| bleiben, nachdem die größeren, finanzkräftigeren Festivals in Cannes, | |
| Venedig und Berlin sich bedient haben). | |
| Locarno ist inzwischen eher so etwas wie ein Laboratorium des Kinos, ein | |
| Ort des neugierigen, lustvollen Experimentierens geworden. Wo sonst als in | |
| Locarno wäre zum Beispiel ein Film wie „La Flor“ im Wettbewerb zu sehen | |
| sein? Der erst zweite (sehr) lange Spielfilm des Argentiners Mariano Llinás | |
| stellt schon auf einer ganz basalen Ebene eine Herausforderung für die | |
| Konventionen des Festivalbetriebs dar: Wie kann man ein solches Monstrum | |
| von einem Film in das Programmschema integrieren? „La Flor“ besteht aus | |
| sechs Kapiteln, wird aber entweder in acht Akten oder in drei Teilen | |
| aufgeführt. Außerdem kursieren unterschiedliche Angaben zur Laufzeit: der | |
| gesamte Spaß dauert entweder dreizehneinhalb Stunden oder vierzehneinhalb | |
| Stunden. Oder irgendetwas dazwischen. | |
| Wer jetzt aufstöhnt, sollte erst einmal zum Vergleich die Gesamtlaufzeit | |
| der „Sopranos“ oder von „Game of Thrones“ zusammenrechnen. Tatsächlich | |
| könnte Llinás mit seinem Mammutfilm in Zeiten des fortgesetzten Serienbooms | |
| einen Nerv getroffen haben. Anders als beispielsweise die vielstündigen | |
| Epen des philippinischen Regisseurs Lav Diaz – auch der ein Locarno-Veteran | |
| – ist „La Flor“ tatsächlich eher für eine serielle, denn für eine | |
| kontinuierliche Rezeption angelegt. | |
| Wobei der Film eine durchaus komplexe Struktur hat: Die einzelnen Kapitel | |
| erzählen voneinander unabhängige Geschichten, sind aber nicht in sich | |
| abgeschlossen – sondern hören einfach irgendwann auf. Genre und Tonfall | |
| ändern sich ebenfalls andauernd: Von Mumienhorrorfilm über | |
| Kalter-Krieg-Agententhriller bis zu beschwingtem Musical ist alles | |
| vertreten. Das einzige konstante Element sind die vier | |
| Hauptdarstellerinnen, die in immer neuen Rollen auftreten. | |
| ## Überwältigt von der Lust am Fabulieren | |
| Das eigentlich Wunderbare an „La Flor“ ist allerdings: Um all diese | |
| Verkomplizierungen und (durchaus gezielten) Verwirrungen und selbst um die | |
| exorbitante Länge kümmert man sich gar nicht mehr, wenn man erst einmal im | |
| Kino sitzt. Da ist man einfach nur überwältigt von der puren Lust am | |
| Fabulieren, die aus jeder einzelnen Szene spricht, von einer nimmersatten | |
| Bild- und Erzählmaschine, die fröhlich zwischen den Kontinenten und | |
| Zeitebenen hin und her springt. | |
| Besonders toll ist Llinás’ Arbeit mit den Schauspielern: Wo die vier | |
| Hauptdarstellerinnen eine geradezu hypnotische Coolness an den Tag legen, | |
| dürfen die Nebenfiguren auch mal nach allen Regeln der Kunst über die | |
| Stränge schlagen. Insbesondere die Agentenepisode verwandelt sich im Lauf | |
| der Zeit in eine Parade der schrägen, sonnenbebrillten und in allen | |
| schlecht imitierten Akzenten dieser Welt daherbrabbelnden Vögel – freilich | |
| ohne, dass der Film je komplett in ein ironisches Register kippen würde. | |
| „La Flor“ ist zweifellos das Werk eines Regisseurs, der das Kino liebt. Und | |
| zwar so sehr, dass es ihm nicht genügt, ihm einfach nur einen weiteren Film | |
| hinzuzufügen. Stattdessen will er dem real existierenden, oft etwas | |
| schwerfälligen, allzu bemühten Kino ein anderes, neues Kino entgegensetzen. | |
| Eines, das ein wenig leichtfüßiger und gedankenschneller ist, das der | |
| Fantasie weniger Fesseln anlegt, dem das freie Spiel der popkulturellen | |
| Formen wichtiger ist als erzählerische Kohärenz, das sich lieber | |
| unverfroren an kleinen, abwegigen Ideen berauscht, als einen Masterplan | |
| durchzuexerzieren. | |
| ## Vielseitiges Programm | |
| Kurzum: „La Flor“ ist ein Film, der perfekt zu Locarno passt. Zu der Art, | |
| wie hier Filme gezeigt werden, wie hier übers Kino nachgedacht wird. Und es | |
| ist, in seiner Nähe zu den Formen und Texturen des Genrekinos, auch ein | |
| Film, der geeignet ist, ein gängiges Vorurteil zu widerlegen: Locarno schön | |
| und gut, hört man oft, aber das sei doch nur etwas für Freunde des spröden | |
| Autorenfilms. Dabei ist das Besondere gerade die Spannbreite des Programms. | |
| In einigen Nebenreihen dominieren in der Tat sperrige, oftmals dezidiert | |
| politisch motivierte Dokumentarfilme und avantgardistische Formexperimente | |
| – ein Highlight dieses Jahr: „Gulyabani“ von Gürcan Keltek, ein | |
| hypnotisches Montagefeuerwerk, inspiriert vom Leben einer legendären | |
| Wahrsagerin. Aber die Piazza Grande, das riesige Freiluftkino im Zentrum | |
| der Stadt, ist dafür im besten Sinne populistisch programmiert: Dieses Jahr | |
| waren da unter anderem Spike Lees Satire „BlacKkKlansman“ sowie eine neue | |
| Fernseharbeit von Bruno Dumont, aber auch moderne Klassiker wie David | |
| Finchers „Seven“ zu sehen. | |
| Natürlich kann man, das sei gleich dazu gesagt, auch in Locarno | |
| Enttäuschungen erleben. So ist man auch hier vor mittelmäßigen | |
| Wettbewerbsbeiträgen nicht sicher. Philippe Lesages vorab durchaus | |
| hochgehandelter „Genèse“ etwa entpuppte sich als ein allzu gefälliger | |
| Coming-of-Age Film – die Geschichte zweier Geschwister, die, auf durchaus | |
| unterschiedliche Weise, aber mit ähnlichem Ergebnis, die Freuden und den | |
| Schmerz der jungen Liebe kennenlernen, ist psychologisch feinfühlig | |
| erzählt, verrät die Figuren aber in den entscheidenden Momenten stets an | |
| Abziehbilderkitsch: Die Kombination aus schönen jungen Gesichtern und | |
| Popmusik mag noch so berückend sein, auf die Dauer kann sie nicht | |
| verbergen, dass Lesage auf einer reichlich mechanistischen Gefühlsklaviatur | |
| spielt. | |
| Überhaupt lohnt es sich in Locarno, nicht zu sehr am Wettbewerb zu kleben. | |
| Der ist zwangsläufig immer ein wenig von der Angebotslage abhängig und | |
| hatte dieses Jahr nicht ganz so viele Höhepunkte anzubieten wie in einigen | |
| der letzten Jahrgänge. Aber dafür gibt es eben den spektakulären | |
| Ausnahmefilm „La Flor“ – und drumherum ein vielseitiges Festival, das sei… | |
| Besucher dazu einlädt, sich ein eigenes Bild vom Kino zu machen. Besonders | |
| beglückend ist dabei, wie neue und alte Filme nebeneinander präsentiert | |
| werden. | |
| Die große Retrospektive, wie stets äußerst sorgfältig zusammengestellt und | |
| liebevoll präsentiert, war dieses Jahr Leo McCarey gewidmet, einem Meister | |
| der Hollywoodkomödie. Und die Filmgeschichte ist in Locarno kein vom Rest | |
| des Festivals abgegrenztes Ghetto, sondern wuchert in alle Sektionen und | |
| Spielstätten hinein. Selbst auf der Piazza Grande laufen Stummfilme – | |
| während umgekehrt Filme der Retrospektive von Regisseuren vorgestellt | |
| werden, die mit neuen Arbeiten im Programm vertreten sind. | |
| Wenn Chatrian auch nur einen Teil der kuratorischen Freiheiten, die er und | |
| sein Team sich in den letzten Jahren in Locarno herausgenommen haben, an | |
| seinen neuen Arbeitsplatz herüberretten kann, dann stehen der Berlinale | |
| tatsächlich umfangreiche und aufregende Neuerungen bevor. Bleibt zu hoffen, | |
| dass seine Arbeit auch in Locarno eine würdige Fortsetzung findet. | |
| 12 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Lukas Foerster | |
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