# taz.de -- Berlinale-Regisseur Serge Bozon: „Humor, der verunsichert“ | |
> „Madame Hyde“ von Serge Bozon war in Locarno der Publikumshit. Bei der | |
> Berlinale ist er damit in der „Woche der Kritik“ zu Gast. | |
Bild: Regisseur Serge Bozon im Gespräch mit den HauptdarstellerInnen seines ne… | |
taz am wochenende: Herr Bozon, bislang hat es keiner Ihrer Filme regulär in | |
die deutschen Kinos geschafft, dabei laufen französische Komödien in | |
Deutschland eigentlich ganz gut. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum wir | |
uns hier so schwertun mit Ihren Filmen? | |
Serge Bozon: Ich weiß auch nicht, was mit den Deutschen los ist. Um „Madame | |
Hyde“ als Beispiel zu nehmen: Der Film wurde in ungefähr dreißig Länder | |
verkauft, darunter sind viele europäische Staaten, die Türkei, Tunesien und | |
so weiter – nur eben Deutschland nicht. Aber vielleicht werde ich ja dank | |
der „Woche der Kritik“ hier einen Verleiher finden. | |
Vielleicht liegt es ja an Ihrem speziellen Humor. Wie würden Sie ihn selber | |
beschreiben? | |
In der Geschichte des Kinos gibt es natürlich viele verschiedene Arten von | |
Humor, das geht von „primitivem“ Slapstick bis hin zu Woody Allens eher | |
intellektuellem Witz. Ich würde den Humor aber vor allem in zwei Kategorien | |
unterteilen: In der einen wird der Zuschauer in Sicherheit gewogen; er kann | |
darauf vertrauen, dass er bekommt, was er erwartet. In der anderen weiß er | |
nie so genau, was ihn erwartet, daher fehlt diese Art der Befriedigung. Die | |
Komik in meinen Filmen kommt eher durch solche Überraschungen zustande. Es | |
besteht in meinen Filmen ein Zusammenhang zwischen dem seltsamen, auch | |
etwas aggressiven Humor und Themen wie Rassismus und soziale | |
Benachteiligung. | |
Können Sie ein Beispiel nennen für diesen „überraschenden“ Humor? | |
In „Madame Hyde“ spielt Romain Duris die vielleicht komischste Figur des | |
Films: einen Schuldirektor. Für mich bietet diese Figur die Möglichkeit, | |
sich lustig zu machen über diese neue Art von „Schulmanagern“ in | |
Frankreich, die vorher nie als Lehrer gearbeitet haben. Er ist eine Art | |
Emmanuel Macron des Schulwesens. Aber im Vergleich zu Macron ist er doch | |
recht exzentrisch mit seinem asymmetrischen Haarschnitt und seiner | |
ausgefallenen Kleidung. Außerdem ist er nicht so manipulativ, sondern sehr | |
aufrichtig – oder vielleicht ist er auch einfach nur dumm. Mit der Zeit | |
wird er auf jeden Fall immer widersprüchlicher und komplexer. | |
Duris spielt ihn auch überzogen, als komische Figur. Das steht im Gegensatz | |
zu den Schülern, die sehr realitätsnah spielen. | |
Ganz genau, das meine ich mit einem Humor, der verunsichert: Dieser | |
Manager-Dandy trifft auf „echte“ Outcasts aus den Vorstädten – so etwas | |
gibt es nur in meiner Parallelwelt. | |
Gibt es für Ihren Humor Vorbilder im französischen Kino? | |
Ich bin ja auch Filmkritiker und glaube, dass ich die Geschichte des | |
französischen Films ganz gut kenne; ich wüsste allerdings nicht, wen ich da | |
nennen sollte. Aber wahrscheinlich überschätzen Regisseure immer ihre | |
Originalität. | |
Vielleicht ist den deutschen Verleihern der Humor Ihrer Filme ja nicht | |
„französisch“ genug, beziehungsweise sie glauben, die Erwartungen des | |
deutschen Publikums an französische Komödien würden nicht erfüllt. Wenn ich | |
Ihre Filme beschreiben müsste, würde ich auch eher Vergleiche mit | |
osteuropäischen oder britischen Filmen ziehen. | |
Ich liebe tatsächlich die Filme der tschechischen Nouvelle Vague. Aber | |
wichtig ist mir, dass „Madame Hyde“ nicht nur als Komödie wahrgenommen | |
wird. Die letzten zwanzig Minuten sind sehr traurig. Vielleicht habe ich | |
den Film ja falsch gemacht: Aber ich hoffe, dass die Leute am Ende im Kino | |
weinen. Ich weiß, das klappt bei höchstens zwanzig Prozent der Zuschauer. | |
Vielleicht erwarten Sie zu viel von der emotionalen Flexibilität der | |
Zuschauer? | |
Ich weiß nicht. Viele Hollywoodklassiker sind doch ganz ähnlich aufgebaut. | |
Nehmen Sie John Fords „Donovan’s Reef“: Da gibt es am Anfang auch viele | |
Gags, teilweise ganz primitive Sachen wie in „Laurel & Hardy“-Filmen, aber | |
nach und nach wird der Film sehr bewegend – und am Ende weint man. Bei | |
vielen Filmen von Leo McCarey oder Howard Hawks ist das ganz ähnlich. Ich | |
versuche also nicht, originell zu sein. Meine Filme sind keine Kopfgeburten | |
nach dem Motto: Mischen wir doch mal das und das und schauen, was passiert. | |
Ich bin kein bekennender Modernist, im Gegenteil, ich sehe mich in vieler | |
Hinsicht in der Hollywoodtradition. | |
Widersprechen Sie sich nicht gerade selber? Ich glaube nicht, dass Hawks | |
oder Ford Ihren Humor als „seltsam“ oder gar „aggressiv“ beschrieben | |
hätten. Oder dass sie dem Zuschauer nicht geben wollten, was er erwartet. | |
Na ja, wir leben ja nicht mehr in den fünfziger Jahren. Ich will es ja | |
nicht genauso machen wie Ford, sondern gewissermaßen nur diese Flamme am | |
Leben halten. Leider haben wir seit den sechziger Jahren im Kino eine | |
Trennung von Kunst und Kommerz. Das klassische Hollywood war noch eins. Die | |
Freiheit und Großzügigkeit dieser Art von Kino erscheint heute vielleicht | |
seltsam, aber dafür bin ich nicht verantwortlich. Ich kämpfe dagegen. | |
Vielleicht ist diese Trennung unvermeidlich: Das Kino bildet einfach nur | |
die gesellschaftliche Zersplitterung ab. | |
Sicher, aber ich will etwas dagegen tun, statt diese Situation zu | |
akzeptieren. | |
„Madame Hyde“ hat ja tatsächlich Ähnlichkeiten mit Filmen über | |
Problemschulen aus Hollywood von „Blackboard Jungle“ bis „Dangerous Minds… | |
Eine Lehrerin scheitert zunächst an ihrer Klasse von Kids aus | |
Problemvierteln, aber letztlich kann sie sie doch für den Stoff begeistern | |
… | |
Stimmt, allerdings ist mein Film nicht so optimistisch. Bei mir entwickeln | |
sich die Lehrerin und die Schüler auch nicht nach und nach, stattdessen | |
gibt es eine plötzliche, gefährliche Transformation. Madame Géquil ist seit | |
35 Jahren eine Niete als Lehrerin. Jetzt ist es eigentlich zu spät. Daher | |
braucht es einen Unfall, ein Wunder, damit sie sich ändern kann. So kommt | |
die „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Geschichte ins Spiel, die im Titel schon | |
angedeutet ist. | |
Sie ändern diese Vorlage allerdings stark. | |
Ja, das war eine Idee von Axelle Ropert, mit der ich das Drehbuch | |
geschrieben habe. Ursprünglich wollte sie auch Regie führen. Sie hat die | |
Geschichte von Robert Louis Stevenson in mehrerer Hinsicht geändert: Sie | |
spielt heute in einer Banlieue, es geht um eine Frau und um das Thema | |
Bildung. | |
Die Geschichte wurde auch von ihrem ganzen freudianischen Ballast befreit. | |
Genau, Madame Hyde ist nicht das unterdrückte „Es“ von Madame Géquil, nic… | |
die Verkörperung einer sexuellen Obsession, eines sadistischen, | |
masochistischen oder antisozialen Triebs. Madame Hyde ist kein Monster, | |
sondern einfach nur sehr fokussiert auf ihre pädagogische Arbeit. | |
Wofür braucht es da die fantastische Wendung? Hätte man die Geschichte | |
nicht auch sozialrealistisch erzählen können? | |
Sozialdramen werden ja meistens realistisch erzählt, aber das zwingt sie, | |
alles immer zu nuancieren und auszubalancieren. Dadurch können sie nicht | |
direkt zum Punkt kommen. Um wieder den Vergleich mit dem klassischen | |
Hollywood zu ziehen: Wenn da jemand ein Versager ist, dann ist er ein | |
Versager. Punkt. Wenn jemand ein bisschen ein Versager ist und ein bisschen | |
dies und ein bisschen das, dann verliert ein Film die Schärfe. Daher | |
bevorzuge ich wirkliche Fiktionen, die etwas Unmögliches zeigen. In meinem | |
Film wird eine miserable Lehrerin zu einer hervorragenden Lehrerin in einer | |
einzelnen Szene. Das finde ich viel aufregender, als wenn sie den ganzen | |
Film brauchen würde, um nach kleinen Fortschritten und vielen Rückschlägen | |
dorthin zu kommen. Die Stilisierung erlaubt mir, die unnötigen Details des | |
realen Lebens hinter mir zu lassen. | |
16 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Sven von Reden | |
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