# taz.de -- Romanverfilmung im Wettbewerb: Aus der Zeit gefallene Flüchtlinge | |
> „Transit“ von Christian Petzold verändert den Blick auf das Thema Flucht | |
> durch ein intelligentes Spiel mit Geschichte und Gegenwart. | |
Bild: Georg (Franz Rogowski) entwickelt väterliche Gefühle für Driss (Lilien… | |
Hindurchgehen. Nicht bleiben können. Ein Transit ist ein Zustand, bei dem | |
man etwas bloß passiert. Ein Aufenthalt unterwegs von A nach B. | |
Vorausgesetzt, man kann die Reise zum Ziel auch fortsetzen. Andernfalls | |
sitzt man fest im Dazwischen. Wie Georg, der Protagonist von Christian | |
Petzolds Film „Transit“ nach Anna Seghers’ gleichnamigem Exilroman. | |
Petzold nimmt sich in seinem Beitrag zum Berlinale-Wettbewerb das | |
allgegenwärtige Thema Flucht vor, blickt es aber durch eine Vorlage aus der | |
Vergangenheit an. Sein Film erzählt, wie der Roman von 1944, die Geschichte | |
von deutschen Flüchtlingen in Marseille zur Zeit des Nationalsozialismus. | |
Sie alle wollen weg von dort, warten auf ein Visum, ein Transitvisum für | |
ihre Durchreiseländer, ein Ticket für das nächste Schiff, das sie mitnehmen | |
wird. Im Hintergrund rücken die Wehrmachtstruppen immer weiter vor auf die | |
Hafenstadt. | |
Georg, gespielt von Franz Rogowski mit dieser hellwachen Körperlichkeit und | |
einem hochsensiblen Gespür für Verletzlichkeit, ist gerade aus Paris | |
geflohen. Im Gepäck hat er die Unterlagen eines verstorbenen | |
Schriftstellers, Franz Weidel, unter anderem eine Einladung nach Mexiko. | |
Eigentlich hatte Georg dem Toten Briefe aushändigen sollen. Doch in Weidels | |
Hotel erfährt er, dass dieser sich selbst getötet hat. In Marseille | |
angekommen, verwechselt man Georg beim mexikanischen Konsulat mit dem | |
Toten, stellt ihm eine Aufenthaltsgenehmigung aus, ein Visum, Schiffskarten | |
nach Mexiko. Georg klärt den Irrtum nicht auf, wechselt seine Identität. | |
Diese Identität als Franz Weidel verkörpert Rogowski mit einer leichten | |
Zögerlichkeit, einem allmählichen Sich-Heineinfinden in die Rolle als | |
Exilschriftsteller, der auch noch von seiner Frau Marie (Paula Beer) | |
gesucht wird, die ihm nach Marseille gefolgt ist. So weit, so historisch. | |
Zögerliche Täuschung | |
Petzold hat aber eben keinen historischen Film über Flüchtlinge gemacht, | |
sondern die Gegenwart mit großer Selbstverständlichkeit auf die Leinwand | |
geholt. Sein Marseille ist das Marseille von heute, mit Wifi-Cafés in der | |
Altstadt, Bereitschaftspolizisten in schusssicheren schwarzen Westen und | |
Autos, wie man sie dieser Tage halt so fährt. | |
Darunter die in ihrer Kleidung ein bisschen aus der Zeit gefallenen | |
Flüchtlinge mit ihren anachronistischen Habseligkeiten. So sind Weidels | |
Manuskripte auf einer mechanischen Schreibmaschine geschrieben. Zugleich | |
versteht Georg jedoch durchaus etwas von neuerer Radiotechnik. | |
Die Verquickung von heute und früher macht da nicht Halt, sondern bindet | |
ohne große Künstlichkeit die Lage gegenwärtiger Flüchtlinge mit ins | |
Geschehen ein. Als Georg etwa in Marseille auf den Sohn und die Frau eines | |
Freundes, des auf der Flucht mit Georg gestorbenen Heinz, trifft, stellt | |
sich heraus, dass die Mutter (Maryan Zaree) aus dem Maghreb stammt, sie und | |
ihr Sohn Driss (Lilien Batman) wohnen ihrerseits illegal in Marseille. | |
Flüchtlinge helfen hier Flüchtlingen quer durch alle zeitgeschichtlichen | |
Verweise hindurch, Georg spielt mit Driss Fußball, erklärt ihm die Rolle | |
des Standbeins. In einer anrührenden Szene repariert Georg das Radio des | |
Jungen und singt dann das „Abendlied“ von Hanns Dieter Hüsch „Schmetterl… | |
kommt nach Haus / Kleiner Bär kommt nach Haus …“ –, zuvor war es im Radio | |
erklungen. | |
Perspektivwechsel | |
Petzold schafft es so, einen Beitrag zur Flüchtlingsdebatte in den | |
Wettbewerb hineinzutragen, der ohne große moralische Gesten auskommt und | |
dessen größter Trick im Perspektivwechsel besteht: Die Menschen, die in | |
„Transit“ in erster Linie auf der Flucht sind, stammen aus Deutschland, und | |
sie wollen weg aus Europa. Wie ihnen von der Polizei nachgestellt wird, | |
erinnert dabei nur allzu schmerzlich daran, wie mit Flüchtlingen verfahren | |
wird, die derzeit nach Europa wollen. Aber so ganz eins zu eins passt hier | |
am Ende doch nichts zusammen, was den Film vor platten Gesten bewahrt. | |
Auf einer weiteren Ebene kommen die Flüchtlinge in „Transit“ in ihrem | |
Schwebezustand, dem geduldeten Aufenthalt an einem Ort, den sie früher oder | |
später verlassen müssen, im Grunde erst zu sich. Während sich Rogowskis | |
Georg in seine Identität als Weidel hineinfindet, kann man ihm zusehen, wie | |
er überraschend zur Ruhe kommt, seine väterliche Zuneigung zum Jungen Driss | |
entdeckt, obwohl er weiß, dass er bald abreisen wird. Oder seine Gefühle | |
für Marie Weidel, von Paula Beer mit leicht gespenstischer Flüchtigkeit | |
gespielt, der er näherkommt, ohne ihr vom Tod ihres Mannes zu erzählen. Bis | |
zuletzt. | |
Petzold gewann zuletzt 2012 den Silbernen Bären für die beste Regie. Hier | |
kündigt sich ein möglicher Goldener Bär an. | |
18 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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