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# taz.de -- Filmstart von deutschem Berlinale-Beitrag: Auf der Flucht sieht man…
> Das Drehbuch zu „Transit“ basiert auf Anna Seghers' gleichnamigem
> Exilroman. Christian Petzolds Spielfilm ist ein künstlerischer Kommentar
> zur Zeit.
Bild: Georg und Marie: beide auf der Flucht, beide von Geheimnissen umwoben
Mit Christian Petzolds „Transit“ kommt der wohl beste Spielfilm der
diesjährigen Berlinale am 5. April in die bundesdeutschen Kinos. Es ist der
politisch so brisante wie künstlerisch gelungene Versuch, die Themen der
jüngeren Vergangenheit mit denen der aktuellsten Gegenwart zu verbinden.
Das Drehbuch zu „Transit“ basiert auf Anna Seghers’ gleichnamigem Roman,
einem der großen deutschen Exilromane, entstanden 1941/42 in den Korridoren
von Flucht und Vertreibung. Seghers schrieb das Manuskript während des
Zweiten Weltkriegs, als sie sich selbst auf der Flucht befand, die
deutschen Nazis Frankreich besetzt hielten und dort Jagd auf Flüchtlinge,
Antifaschisten und Juden machten.
Viele Flüchtlinge saßen damals in Frankreich in der Falle, wurden in die
Illegalität gezwungen, versuchten verzweifelt nach Übersee zu entkommen.
Die von Francos Truppen geschlagenen spanischen Republikaner ebenso wie die
vielen Geflohenen aus dem immer größer werdenden deutschen Nazi-Reich.
Einen der letzten Fluchtpunkte im Westen Kontinentaleuropas markierte
1941/42 Marseille. Im Süden Vichy-Frankreichs gelegen war die Metropole am
Mittelmeer mit ihrem Hafen noch nicht von den Deutschen besetzt.
Doch glich die Stadt mehr und mehr der von Seghers beschriebenen
Mausefalle, aus der es nur mit latein- oder nordamerikanischen Visa und
einer bezahlten Schiffspassage noch ein Entkommen gab. Das französische
Vichy-Regime kollaborierte mit den Nazis. Aber diese standen im November
1942 an der Stadtgrenze, um mit ihren Einsatzgruppen die Kontrolle der
strategisch wichtigen Stadt selbst zu übernehmen.
Brisanz gewinnt Petzolds Film dadurch, dass er Seghers’ Vorlage nicht als
historisch-naturalistische Kostümveranstaltung nachstellt. Die Kulissen für
Petzolds Film entstammen der Gegenwart, seine Schauspieler nehmen im Alltag
der französischen Gegenwart Platz, bewegen sich in den heutigen Straßen und
Stadtvierteln von Marseille. Die Kulisse des von Anna Seghers beschriebenen
alten Hafenquartiers gibt es ohnehin nicht mehr. Die Deutschen hatten ab
November 1942 die Altstadt von Marseille in Schutt und Asche gelegt, sie
galt als Hort des Widerstands.
## Ein erstaunlich unideologisches Buch
Petzolds Darsteller sprechen und spielen also eine Geschichte von 1941/42
vor heutigen Fassaden. Sie sitzen in Bistros, die es heute noch, vielleicht
manchmal auch früher schon gab, während draußen auf den Gassen moderne
Polizeisirenen ertönen und mit Hightech ausgestattete Robocops Illegale
jagen. Regisseur Petzold hat sich der Vergangenheit zugewandt und dabei
einen halben Science-Fiction gedreht. Ein forscher Kunstkniff, um Seghers’
Exilroman mit einer mitunter futuristisch anmutenden Gegenwart zu verbinden
und entsprechende Assoziationsräume zu öffnen.
„Denn Flüchtlinge müssen weiter fliehen, sie können nicht plötzlich
Pfirsiche ziehen“, lässt Anna Seghers an einer Stelle des Romans ihre
Hauptfigur sinnieren. Und so ist es auch in Petzolds Film. Georg, grandios
dargestellt von Franz Rogowski, ausgebrochen aus einem Internierungslager,
versteckt von französischen Freunden. Später treibt er mit anderen
Antifaschisten durch Frankreich, klammert sich in seiner Ortlosigkeit an
mehr oder weniger zufällige Begegnungen, die der Alltag mit anderen
Illegalen mit sich bringt.
Nichts in seinem Leben ist mehr normal und vieles doch. Vor der Absolutheit
drohender Entscheidungen gewinnen flüchtige Begegnungen an Bedeutung. Das
beschrieb auch Seghers so, die Kommunistin, die diesen Roman erstaunlich
unideologisch und offen formulierte.
Petzold arbeitet dies heraus, etwa indem er seinen Georg in Marseille die
Freundschaft zu einem kleinen Jungen, Driss, suchen und ihn mit diesen
Fußball spielen lässt. Und ähnlich wie Seghers stattet er die Beziehung
Georgs zu Driss und dessen Mutter mit einem komplexen individuellen
Hintergrund aus. Auf der Flucht sieht man mehr.
## Migration war schon damals nicht neu
Die Migration war auch damals kein so neues Phänomen. In einer der
berührendsten Szenen des Films repariert Georg zusammen mit Driss ein altes
Radio und – eine Zutat aus der Fastgegenwart – singt ein Kinderlied von
Hans-Dieter Hüsch. Das „Abendlied“, welches auch Blumfeld 2001
interpretierten, es beginnt so: „Schmetterling kommt nach Haus / Kleiner
Bär kommt nach Haus / Känguru kommt nach Haus / Die Lampen leuchten – der
Tag ist aus // Kabeljau schwimmt nach Haus / Elefant läuft nach Haus /
Ameise rast nach Haus / Die Lampen leuchten – der Tag ist aus“.
Die Geborgenheit, nach der sich Kinder unmittelbar sehnen (und Erwachsene,
wenn sie emotional nicht verhärtet sind auch), sie zieht in die Räume des
Transits symbolisch hier ein – als die schmerzlich vermisste große
Abwesende. Georg sucht nicht nur eine Schiffspassage, den Weg zur Sicherung
des nackten Überlebens, sondern trotz alledem zu jeder Zeit temporäres
Glück und Erfüllung. Petzold folgt darin Seghers, die ihrerseits das Drama
hinter dem Drama suchte, und so ihre Figuren vor den ideologischen Phrasen
und der politischen Gewalt schützte.
Der Film handelt mit dem damaligen Gespür Seghers’ und überträgt deren
Haltung konsequent in eine heutige Sprache, ein künstlerisch
außergewöhnliches Ereignis. Auch dass die Hauptfigur Georg in die Rolle
eines Schriftstellers schlüpfen muss, eines angeblich also superwichtigen
Intellektuellen, um so erst an ein rettendes Visum zu gelangen, es war von
Seghers und ist von Petzold ein deutlicher Kommentar für die erniedrigenden
jeweiligen Zeitumstände – ohne dass der Film sich dabei in platten
Analogien à la Agamben (Kapitalismus-gleich-Faschismus-Blabla) ergehen
würde. Antifaschist, politischer Flüchtling oder Jude zu sein, es reicht(e)
für die Beschaffung legaler Ausreisepapiere oft nicht.
Ob Georg an gebrochenem Herzen, den (Not-)Lügen, den Nazis oder dem
teuflischen Gemisch aus allem zugrunde gehen wird oder nicht, es bleibt
völlig offen. Ebenso wie das Schicksal der weiblichen Hauptfigur, der
rätselhaften Marie, gespielt in „Transit“ von Paula Beer. Wie Georg
entscheidet sich Marie für ihre Würde, ihre Authentizität, selbst wenn es
das Leben kosten sollte. Angebote zur Flucht schlägt sie aus, sofern sie
dadurch eine frühere Beziehung verraten müsste.
## Ob Farocki diesem Kunstgriff zugestimmt hätte?
Es gibt eine Grenze für Seghers’ wie Petzolds romantische und gebrochene
Figuren, eine, ab der das bloße Weiterleben und das Hecheln nach der
Schiffspassage zu klein und sinnlos erscheint. Wenn schon nicht für die
beste Regie, nicht für die beste Kamera (Hans Fromm) und nicht für die
besten Darsteller, so hätte Petzold doch zumindest für die Adaption des
Anna-Seghers-Romans für das beste Drehbuch auf der Berlinale ausgezeichnet
werden müssen. Doch auch das nicht.
Dabei verfasste er es dieses Mal ohne seinen langjährigen Freund und
Koautor Harun Farocki, der 2014 verstorben ist. Auf der Pressekonferenz der
Berlinale im Februar scherzte Petzold, Farocki hätte ihm niemals gestattet,
als ein dramaturgisches Schlüsselelement die sogenannte Voiceover-Methode
in dem Film einzusetzen. Also die Stimme eines allwissenden Erzählers aus
dem Off immer wieder über einzelne Filmszenen zu legen. Doch es war in
diesem Fall ein guter Rückgriff auf filmische Konventionen.
Nicht nur wegen der besseren Strukturierung der Story, die Stimme des
Erzählers (Matthias Brandt) verleiht der Geschichte eine weitere Dimension.
Brandt ist es auch, der den Wirt des Marseiller Bistros spielt, neben der
Stimme ist er also auch das lange unsichtbare Ohr der Geschichte. Ihm gibt
Georg seine zufällig angeeigneten Unterlagen und fälschlichen
Schriftstellerunterlagen in Verwahrung, da er sie nun nicht mehr haben mag.
Er sitzt da, ohne Pizza du jour und wartet auf eine Frau, die ihn nicht
erwartet. Robocops und Polizeisirenen vor der Tür.
3 Apr 2018
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Christian Petzold
Neuer Deutscher Film
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Harun Farocki
Schwerpunkt Berlinale
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