| # taz.de -- Roman über Migrationsbewegungen: Die unbekannte Familie | |
| > Francesca Melandris „Alle, außer mir“ ist ein großer Fluchtroman. Darin | |
| > wirft der italienische Kolonialismus in Äthiopien lange Schatten. | |
| Bild: Francesca Melandris großer Fluchtroman erzählt von Bewegungen übers Mi… | |
| Auf dem Esquilin, dem höchsten der sieben Hügel Roms, bekommt die Welt | |
| ihren besonderen Duft. Die Gerüche aus den Küchen der Migranten vermischen | |
| sich mit der Meeresbrise aus Ostia. Durch das Viertel wehen Offenheit und | |
| Weite. Die Lehrerin Ilaria Profeti weiß dies zu genießen: „Da, ein Hauch | |
| von Eau de Maghreb, oh, riech mal, eine kleine Wolke Obsession d’Inde, ah, | |
| welch ein Bouquet – gekochter Kohl und roher Knoblauch –, das muss das | |
| seltene Korea Extrême sein.“ | |
| Es gibt aber auch Tage, an denen die Mittvierzigerin weniger Nerven | |
| aufbringt, etwa wenn ihr Auto abgeschleppt wurde, weil Libyens Oberst | |
| Muammar al-Gaddafi zum Staatsbesuch angekündigt und die Stadt lahmgelegt | |
| ist. Italien will ein neues Flüchtlingsabkommen, der Cavaliere bemüht sich. | |
| An einem solchen Tag des Jahres 2010 steht vor Ilarias Tür ein junger | |
| Äthiopier und behauptet, ihr Neffe zu sein. Ihr Vater Attilio Profeti sei | |
| sein Großvater. In seinem Ausweis steht tatsächlich der Name Shimeta | |
| Ietmgeta Attilaprofeti. | |
| Was tun? Der Vater könnte die Sache aufklären, doch er lebt alt und dement | |
| in seiner eigenen Welt. Und obwohl ihr Bruder sie drängt, die Polizei zu | |
| rufen, entscheidet sich Ilaria für das einzig Richtige: Sie nimmt den | |
| jungen Mann auf und damit auch die Suche nach Antworten: Wann war ihr Vater | |
| in Äthiopien? Im Krieg? Ihr Onkel hat in El Alamein gekämpft. Aber Papa war | |
| doch bei den Partisanen! | |
| Aus der unwahrscheinlichen Begegnung zweier Fremder entwickelt Francesca | |
| Melandri in ihrem Roman „Alle, außer mir“ eine italienische | |
| Familiengeschichte, die am Ende der 600 Seiten nicht einmal mehr | |
| ungewöhnlich erscheint. Geschickt die Perspektiven wechselnd, führt die | |
| Autorin zurück in die Vergangenheit der italienischen Kolonialgeschichte. | |
| Unerschrocken zerrt sie verdrängtes Unrecht ans Licht, zertrümmert Lügen | |
| und Halbwahrheiten und lässt marmorne Patriarchenbilder zu Staub | |
| zerbröseln. Wie sie jedoch den Bogen von der faschistischen Besetzung | |
| Abessiniens zu den heutigen Fluchtbewegungen aus Äthiopien schlägt, raubt | |
| einem den Atem. | |
| Bewegungen in umgekehrter Richtung | |
| Die 1964 geborene Melandri ist eine genaue Beobachterin und souveräne | |
| Erzählerin. Ihre Brisanz ziehen ihre gründlich recherchierten Romane aus | |
| der Intellektualität, mit der sie Fragen an das Gestern und das Heute | |
| stellt. In „Alle, außer mir“ führt die Reise durch die Zeit über das | |
| Mittelmeer. Dezent, aber schockierend skizziert Melandri die Flucht des | |
| jungen Äthiopiers mit dem sprechenden Name Ietmgeta: „Ich bin edel | |
| überall“. Er schlägt sich durch den Sudan und die libysche Wüste bis nach | |
| Tripolis, erst der Habgier der Schlepper mit ihrem GPS ausgesetzt, dann der | |
| Grausamkeit der libyschen Militärs in ihren Folterkellern. Wenn | |
| Staatsbesuch aus Europa kommt, werden die Gefängnisse geleert. Ietmgeta | |
| ergattert eine Fahrt übers Meer und gelangt nach eineinhalbjähriger Odyssee | |
| über Lampedusa, Trapani und Sizilien endlich nach Rom. | |
| Mit voller, kaum je versiegender Kraft erzählt Melandri dann von den | |
| Bewegungen in umgekehrter Richtung, als die Italiener in den dreißiger | |
| Jahren den Weg übers Mittelmeer nahmen. Sie kamen nicht als friedliche, | |
| verarmte Bauern nach Äthiopien, sondern als Eroberer in Schwarzhemden. In | |
| ihren Tornistern hatten sie Giftgas und die Schriften zum faschistischen | |
| Rassismus. Die Amharen waren einverstanden mit den Theorien überlegener | |
| Rassen, sie sehen das genauso, vor allem gegenüber den dunkleren Völkern | |
| Afrikas. Doch darum wollten sie sich den Armeen des Duce auch nicht | |
| geschlagen geben. Es sind aufwühlenden Passagen, in denen Melandri die | |
| Kriegsverbrechen der italienischen Armee schildert. | |
| Aber noch schmerzhafter sind die Kapitel aus der Nachkriegsgeschichte, in | |
| der die Untaten so umstandslos vergessen wurden und die italienischen | |
| Unternehmen prompt wieder nach Äthiopien drängten, unbeschadet aller | |
| Unterdrückung, trotz und während aller Hungersnöte. Was durch die | |
| Jahrzehnte hindurch gleich blieb, war die Bewunderung für schöne, | |
| skrupellose Menschen. Für Menschen mit dem richtigen Blut. | |
| Im italienischen Original heißt der Roman „Sangue giusto“. Der deutsche | |
| Titel „Alle, außer mir“ verweist auf den Hochmut, mit dem man sich über d… | |
| Leben der anderen stellt. Melandri führt in der Familie Profeti unzählige | |
| Abstufungen von Arroganz, Opportunismus und Ignoranz zusammen, aber auch | |
| Abenteuerlust, Freigeistigkeit und unvernünftige Liebe. Ilaria ist die | |
| große Moralistin, die den Roman trägt. Sie erreicht jedoch erst ihre ganze | |
| Größe, als sie von ihren Prinzipien abrückt, um einem anderen Menschen zu | |
| helfen. Der Fremde, lehrt dieser Roman, ist jener Teil unserer Familie, den | |
| wir noch nicht kennen. | |
| 6 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Thekla Dannenberg | |
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