# taz.de -- Vergessene Kolonialgeschichte: Eskalation in Neukaledonien | |
> Den Unterdrücker dazu bringen zu verstehen, warum er unterdrückt: Joseph | |
> Andras’ Buch „Kanaky“ arbeitet mit den Stimmen von Zeitzeugen. | |
Bild: Eine Gruppe maskierter Kanaky im Kampf für die Unabhängigkeit von Frank… | |
Die Geschichte, wenn man so will, spielt auf Ouvéa. Ouvéa ist ein Atoll des | |
Inselarchipels Neukaledonien, östlich von Australien gelegen und seit 1500 | |
vor Christus besiedelt, im Jahr 1853 von Frankreich erobert und bis 1931 | |
Straflager für „Mörder, Bettler und Prostituierte“. Die Nachkommen der | |
ersten melanesischen und polynesischen Siedler in Neukaledonien nennen sich | |
Kanaky, und nach dieser Gruppe, [1][die zuletzt im Jahr 2020 mit einem | |
Referendum zur Unabhängigkeit von Frankreich scheiterte,] ist auch das | |
neueste Buch von Joseph Andras benannt. | |
Untertitelt ist es mit der Bezeichnung „Bericht“, aber als Dokumentarroman, | |
Essay oder Untersuchung wäre es ebenso gut beschrieben, so viele Dinge | |
gleichzeitig leistet Andras’ Werk. Zunächst scheint es vor allem die | |
Autopsie der Biografie eines kanakischen Helden zu leisten: Alphonse Dianou | |
führte im April 1988 eine Gruppe von Kanaky an, die für die Unabhängigkeit | |
Neukaledoniens von Frankreich kämpften. | |
Bei der Besetzung einer Polizeistation auf dem Ouvéa-Atoll, in der | |
französische Gendamerie Dienst tat, starben in einer Eskalation zwischen | |
Protestierenden und Polizei vier Gendarme, die anderen nehmen die | |
Aufständischen als Geiseln und bringen sie in eine Höhle, die nur wenige | |
Tage später von einem Einsatzkommando französischer Spezialkräfte gestürmt | |
wird. Dabei sterben mehrere Kanaky, darunter Dianou, der im Buch als | |
hippiesker und sich immer weiter radikalisierender Charismatiker | |
beschrieben wird. | |
## Eine kollektive Biografie | |
Allerdings nicht von Andras selbst, sondern vor allem von seinen | |
Gesprächspartner:innen. „Kanaky“ ist ein Roman mit einem Erzähler, der ab… | |
die Stimmen vieler montiert, und die Geschichte eines Helden, der zwar | |
charakterisiert wird, aber seltsam unpersönlich bleibt. So gelingt Andras | |
eine kollektive Biografie, in der im besten Sinne exemplarisch erzählt | |
wird: vom Einzelfall Dianou, der doch für das Schicksal der Kanaky im | |
Ganzen steht. | |
Von ihm erzählen Familienmitglieder Dianous ebenso wie Weggefährten. Andras | |
will es ganz genau wissen: Wie hat Dianou gehandelt, hat er geschossen? | |
Hat er den Tod der Gendarme herbeigeführt? Falls ja, wie wäre das zu | |
bewerten? Aber auch der Befehlshaber, der den Angriff auf die Grotte | |
leitete, in der die französischen Geiseln festgesetzt wurden und Dianou und | |
seine Kameraden starben, kommt zu Wort. | |
Es stellt sich heraus, dass Philippe Legorjus, so sein Name, bis heute | |
darunter leidet, dass er für den Tod Dianous und der anderen | |
Mitverantwortung trägt (die eigentliche Schuld weist er dem damaligen | |
Präsidenten Mitterrand zu, der sich mit der Aktion gegenüber seinem | |
Kontrahenten Chirac profilieren wollte). Die Auseinandersetzung mit | |
Legorjus stellt eine Ausnahme in den Verfahren des durchaus parteiischen | |
Andras dar, dessen Sympathie ganz eindeutig der Sache der Kanaky gilt, mit | |
denen er die allermeisten Gespräche geführt hat, die Eingang in sein Buch | |
gefunden haben. | |
In ihrer herausgehobenen Position markieren sie sehr deutlich Andras’ | |
Position. Unterdrückung und Folter, der er sich immer wieder in ruhigem Ton | |
und schneidenden Bildern widmet, sind nicht allein Verbrechen an den | |
entmenschlichten Opfern, sondern auch freiwillige Entmenschlichungen der | |
Täter:innen. So sagt Hélène, Dianous Witwe, zum Erzähler, Dianou „wollte | |
immer den Unterdrücker dazu bringen zu verstehen, warum er unterdrückt“. | |
## Gemeinschaftliche Angelegenheiten | |
Das Verdienst von „Kanaky“ ist nun nicht allein, diese Struktur sichtbar zu | |
machen, sondern vor allem auch zu schildern, wer eben durch die | |
französische Kolonisation unterdrückt worden ist. Der neukaledonische | |
Kulturraum bietet einen Reichtum an Sozial- und Wirtschaftsformen an, die | |
insbesondere durch ihr Verhältnis von Individuum und Kollektiv denen der | |
Kolonisatoren entgegengesetzt sind. | |
Wer einen Brunnen baue, spreche immer in der ersten Person Plural von | |
diesem Einsatz, der Brunnen nütze schließlich allen – überhaupt sei das | |
neukaledonische Verhältnis zu Arbeit, so der Erzähler Andras, „nicht | |
zwangsläufig an eine Produktions- oder Handelsbeziehung gebunden, sondern | |
verweist auf gemeinschaftliche Angelegenheiten“. Der respektvolle Umgang | |
mit einem Gegenüber findet seinen deutlichsten Ausdruck in der | |
habitualisierten Ehrerbietung der „cotume“, einer spezifisch kanakischen | |
Form des Gabentausches, die bei jeder Begegnung stattfindet. | |
In der deutschen Ausgabe von „Kanaky“ ist dieses französische Wort erhalten | |
geblieben, weil seine Vielschichtigkeit vom deutschen „Brauch“ nicht | |
aufgefangen wird. Claudia Hamm hat nicht nur diesen Aspekt, sondern auch | |
viele andere Probleme bei der Übersetzung des Buches dokumentiert. Sowohl | |
in einem Glossar am Ende des Buches als auch in einem eigenen | |
Übersetzungsjournal ist nachlesbar, welche Herausforderung es gewesen ist, | |
diesen Bericht von der kanakischen Kultur nach der Kolonisation des | |
Territoriums nicht ein weiteres Mal in der Übersetzung unsichtbar werden zu | |
lassen. | |
Schaut man sich auf einer Karte Neukaledonien an, rechts oben von | |
Australien liegend, wirkt es winzig. Mit seinem Buch hat Andras einen | |
ersten Stein eines Mosaiks gelegt, dessen Motive und Muster hierzulande | |
weitläufig unbekannt sind. Es ist Aufgabe seiner Leser:innen, auch im | |
Dienst der derzeit vielbeschworenen Dekolonisation dem eigenen Erkennen | |
weiter auf die Sprünge zu helfen. | |
31 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Hanna Engelmeier | |
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