# taz.de -- Eskalation in Neukaledonien: Am Rande eines Bürgerkriegs | |
> Die gewaltsamen Ausschreitungen halten an – trotz des Notstands. Die | |
> Pariser Regierung schickt Militär und blockiert das soziale Netzwerk | |
> Tiktok. | |
Bild: Nouméa in Neukaledonien: Seit Tagen halten gewaltsame Proteste an | |
PARIS taz | Nach einer dritten Nacht mit schweren Ausschreitungen in Nouméa | |
bleibt die Situation im französischen Neukaledonien enorm angespannt. | |
[1][Trotz des verhängten Notstands] und eines gemeinsamen Aufrufs der | |
wichtigsten Parteien der Loyalisten sowie der Befürworter einer | |
Unabhängigkeit steht das Land am Rand eines Bürgerkriegs, wie ihn die | |
Inselgruppe in den Jahren 1984 bis 1988 erlebt hatte. Der blutige Konflikt | |
zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und der Zentralmacht bleibt für die | |
gesamte Bevölkerung und alle politischen Lager eine traumatische | |
Erinnerung. | |
Laut offiziellen Angaben kam am Donnerstagvormittag ein französischer | |
Gendarm bei einem Unfall durch einen versehentlichen Schuss ums Leben kam. | |
Damit stieg die Zahl der Todesopfer auf 5. Bei Zusammenstößen von Polizei | |
und Gendarmerie mit rund 5.000 jungen Menschen wurden mehrere Hundert | |
Personen, darunter mehr als 50 Angehörige der Ordnungskräfte, verletzt. | |
In Paris kündigte die Regierung nach einer neuen Krisensitzung Verstärkung | |
für die rund 1.700 Polizisten durch zusätzliche 500 Beamte sowie die | |
Entsendung von Militärs zur Sicherung des Flughafens und der Hafenanlagen | |
an. Außerdem wurde der Zugang zu Tiktok blockiert. Das soziale Netzwerk | |
wird vorzugsweise von den Randalierern benutzt. Ohne Einzelheiten zu | |
nennen, beschuldigte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin | |
Aserbaidschan der „Einmischung“ in den Konflikt in Neukaledonien. | |
Die gewaltsamen Ausschreitungen haben sowohl die einheimischen Kanaken wie | |
auch andere Bevölkerungsgruppen schockiert. Mehr als 200 Geschäfte, | |
Unternehmen, Schulen und weitere öffentliche Einrichtungen sind in Brand | |
gesteckt worden. Der Schaden wird bereits auf mehr als 150 Millionen Euro | |
geschätzt. In den französischen Medien schildern Einwohner von Nouméa, dass | |
sie aus Angst vor der Gewalt seit Wochenbeginn ihr Haus nicht mehr | |
verlassen konnten. Lebensmittel und Treibstoff gehen offenbar aus. Vor den | |
Tankstellen bildeten sich Warteschlangen, in den noch offenen Supermärkten | |
sind viele Regale leer. | |
## Wahlrechtsreform ist Auslöser für Unruhen | |
Auslöser der Unruhen war die Verabschiedung einer Wahlrechtsreform für | |
Neukaledonien durch die Abgeordneten der Nationalversammlung am Dienstag in | |
Paris. Diese Reform erfordert eine Verfassungsrevision und würde das | |
politische Gewicht der kanakischen indigenen Bevölkerung bei einer erneuten | |
Abstimmung über eine Unabhängigkeit Neukaledoniens weiter verringern. Die | |
kanakischen Parteien betrachten diese Reform als Provokation und Sabotage | |
des Entkolonisierungsprozesses, der mit den Verträgen von 1988 und 1998 | |
eingeleitete wurde. | |
Neukaledonien hat als französische Kolonie seit Mitte des 19. Jahrhunderts | |
eine besondere spezielle Geschichte, der heute Rechnung getragen werden | |
muss. [2][Das weit von Frankreich entfernte Eiland diente lange als | |
Strafkolonie], in die französische Häftlinge verbannt wurden, deren | |
Nachkommen sich neben den Kanaken ebenfalls als Teil der einheimischen | |
Bevölkerung betrachten. Dasselbe gilt für Vietnamesen, die aus der Kolonie | |
Indochina als Arbeitskräfte nach Neukaledonien geholt wurden. | |
Dieser ethnisch gemischten Inselbevölkerung, in der die Kanaken mit rund 40 | |
Prozent Anteil eine Minderheit darstellen, sollten die Friedensverträge mit | |
einem speziellen Wahlrecht mit drei unterschiedlichen Listen von | |
Stimmberechtigten Rechnung tragen: Alle Staatsangehörigen können an | |
nationalen Wahlen teilnehmen. | |
Wer mindestens seit 10 Jahren in Neukaledonien lebt, darf die | |
Vertreter*innen in eine der drei Provinzbehörden wählen. Doch zur | |
[3][Abstimmung über die Unabhängigkei]t waren nur die neukaledonischen | |
Bürger zugelassen, die seit 1998 ansässig waren und ihre Nachkommen. Um | |
diese dritte Liste dreht sich der aktuelle Streit, der aus ungelösten | |
historischen und gegenwärtigen Probleme der Kolonisierung resultiert. | |
Innenminister Gérald Darmanin wiederholte am Donnerstag, ein Verzicht auf | |
die umstrittene Wahlrechtsreform stehe nicht zur Diskussion. Diese soll auf | |
Wunsch von Staatspräsident Emmanuel Macron dem Kongress – also den | |
vereinten Parlamentskammern – im Juni zur Verabschiedung vorgelegt werden. | |
Mit dem Festhalten an einer für die Kanaken provokativen | |
Verfassungsrevision geht die französische Staatsführung das Risiko einer | |
weiteren Eskalation in Neukaledonien ein. Eine von Macron angeregte | |
Diskussion bei einer Konferenz der Parteien wurde kurzfristig abgesagt. | |
16 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Gewaltsame-Proteste-in-Neukaledonien/!6010860 | |
[2] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5549006 | |
[3] /Referendum-Unabhaengigkeit/!5545118 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Wahlrecht | |
Emmanuel Macron | |
Kolonialismus | |
Unabhängigkeit | |
Entkolonialisierung | |
Neukaledonien | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Neukaledonien | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Roman | |
Reiseland Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rede von Emmanuel Macron in Dresden: „Wir müssen aufwachen“ | |
In Dresden warnt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor | |
Rechtsextremismus – und ruft zur Verteidigung der Demokratie auf. | |
Besuch in Neukaledonien: Macron mahnt zur Ordnung | |
Nach den Unruhen hat Frankreichs Präsident das Überseegebiet besucht. Kann | |
das befrieden? Klar wird: Die Schatten der Kolonialzeit reichen bis heute. | |
Unruhen in Neukaledonien: Macron besucht Überseeterritorium | |
Frankreichs Präsident Macron reist nach Neukaledonien. Dort ereigneten sich | |
nach umstrittenen Wahlreformen Unruhen, bei denen sechs Menschen starben. | |
Gewaltsame Proteste in Neukaledonien: Polizei räumt Straße zum Airport | |
Sechs Nächte halten die Unruhen in dem Überseegebiet schon an. Der | |
Vertreter der französischen Regierung droht mit Razzien in den | |
Protesthochburgen. | |
Gewaltsame Proteste in Neukaledonien: Macron verhängt Ausnahmezustand | |
In der Hauptstadt Nouméa der südpazifischen Inselgruppe Neukaledonien ist | |
es zu Ausschreitungen gekommen. Grund ist eine Wahlrechtsreform. | |
Referendum zur Unabhängigkeit: Neukaledonien bleibt französisch | |
Über 90 Prozent stimmen gegen die Abspaltung der Pazifikinsel. Doch das | |
Ergebnis ist eher Ausdruck von Boykott als von Einigkeit. | |
Vergessene Kolonialgeschichte: Eskalation in Neukaledonien | |
Den Unterdrücker dazu bringen zu verstehen, warum er unterdrückt: Joseph | |
Andras’ Buch „Kanaky“ arbeitet mit den Stimmen von Zeitzeugen. | |
Frankreichs Neukaledonien: Eine gute Partie | |
Die Hauptstadt Nouméa liegt bei den Franzosen im Trend: entspanntes | |
Savoir-Vivre im Pazifik. Doch die Inselgruppe sucht nach ihrer Identität. |