# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Das mythische Neukaledonien | |
> Seit dem 4. November steht fest: Die Insel im Südpazifik bleibt | |
> französisch. Ein Stimmungsbild unter Gegnern und Befürwortern der | |
> Unabhängigkeit. | |
Bild: Neukaledonien, Noumea: Wahlkabinen in einem Wahllokal | |
Wenn die Kreuzfahrtschiffe für einen Tag in der Bucht von Santal vor Anker | |
gehen und Hunderte Touristen (die meisten aus Australien) an Land strömen, | |
gibt es zur Begrüßung erst einmal Kokosnusswasser und Graviolasaft. Und | |
dann, auf der Tour über die Insel Lifou, Vorführungen von | |
Flechtkunsthandwerk und traditionellen kanakischen Tänzen. | |
Drei Wochen vor dem [1][Unabhängigkeitsreferendum in dem französischen | |
Überseeterritorium Neukaledonien] ist die Stimmung verhalten. „Das lässt | |
uns vollkommen kalt“, sagt Betty Kaudre von einer Bürgerinitiative im | |
Distrikt Wetr. „Wir kommen jetzt schon allein zurecht. Für uns ist der 4. | |
November ein Tag wie jeder andere.“ Der junge Stammes-Chef Jean-Baptiste | |
Ukeinessö Sihaze hält dagegen: „Die Unabhängigkeit ist wichtig. Die | |
Menschen müssen zur Abstimmung gehen.“ | |
In den Umfragen lag das „Nein“ schon lange vorn, und das nicht nur bei den | |
Loyalisten, die wollen, dass Neukaledonien weiter zu Frankreich gehört. | |
Abgesehen von der ungünstigen demografischen Entwicklung für die kanakische | |
Bevölkerung ist noch ein seltsames Faktum zu beobachten: Viele | |
Unabhängigkeitsbefürworter stimmen nicht für die Unabhängigkeit. Vor 30 | |
Jahren sind kanakische Aktivisten für diese Idee gestorben. Wie kam es zum | |
Sinneswandel? | |
Seit den Abkommen von Matignon-Oudinot (1988) und Nouméa (1998) ist das | |
Überseegebiet mit seinen drei Provinzen verwaltungstechnisch weitgehend | |
autonom. Im Norden und auf den Inseln, wo die meisten Kanak leben, gibt es | |
heute Straßen, Wasser- und Stromleitungen, weiterführende Schulen und | |
Gesundheitszentren. Der Anteil der Neukaledonier mit höherem | |
Bildungsabschluss hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfünffacht. | |
Außerdem scheint es keinen großen Unterschied zu geben zwischen der | |
Autonomie innerhalb Frankreichs und der Unabhängigkeit als assoziiertes | |
Gebiet, die die Kanakische Sozialistische Front der Nationalen Befreiung | |
(FLNKS) fordert. 2013 sah das noch anders aus. Damals galt die | |
Unabhängigkeit den einen als „wichtige Hypothese“, während die anderen an | |
das Beispiel Vanuatu gemahnten. Nachdem der benachbarte Inselstaat 1980 aus | |
dem britisch-französischen Kondominium Neue Hebriden in die Unabhängigkeit | |
entlassen worden war, brach erst einmal die Kaufkraft ein. | |
## Das Land sehnt sich nach Ruhe | |
Viele Caldoches, wie die Neukaledonier europäischer oder gemischter | |
Herkunft genannt werden, können gar nicht verstehen, warum man an der | |
jetzigen Situation etwas ändern sollte. Die 32-jährige Aurélie ist Lehrerin | |
und hat in Frankreich studiert: „Wir sind superverwöhnt. Der ganze Prozess | |
ist doch nur lang und ermüdend.“ | |
Auf kanakischer Seite fasst Léopold Hnacipan, Lehrer und Dichter vom Stamm | |
der Tieta, die Haltung vieler so zusammen: Gefühlsmäßig sind sie für ein | |
unabhängiges Neukaledonien, aber weil sie denken, dass das Land noch nicht | |
bereit ist für die Unabhängigkeit, wollen sie das Erreichte nicht | |
gefährden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt pro Kopf zwar 29 Prozent | |
unter dem des Mutterlands, ist aber elfmal so hoch wie in Vanuatu. | |
Mit Ausnahme der Arbeiterpartei, die ihren Wählerinnen und Wählern empfahl, | |
am 4. November „fischen zu gehen“, befürworten sämtliche politischen | |
Gruppierungen den Prozess, der im Abkommen von Nouméa vereinbart wurde und | |
in dessen Mittelpunkt das „gemeinsame Schicksal“ steht: ein mythischer | |
Begriff, der eine kaledonische Staatsbürgerschaft postuliert, die einer | |
möglichen Nationalität vorausgehen soll. Die Hälfte der heutigen | |
Bevölkerung Neukaledoniens hat die bürgerkriegsähnlichen Zustände der | |
1980er Jahre nicht miterlebt, die verharmlosend als „Ereignisse“ bezeichnet | |
werden. Das Land sehnt sich nach Ruhe und hält lieber am Status quo fest. | |
Élie Poigoune, einer der Gründer der Partei für die Befreiung der Kanak | |
(Palika), die an vorderster Front für die Unabhängigkeit kämpft und | |
einstmals marxistisch-leninistische Ideen vertrat, erklärt: „In den letzten | |
30 Jahren haben die Caldoches, die Kanak und die anderen Volksgruppen | |
gemeinsame Positionen gefunden, wie man das Land in die richtige Richtung | |
entwickeln kann, wie das Zusammenleben aussehen soll, damit die | |
Gesellschaft harmonischer wird.“ | |
## „Ein Staubkorn auf der Landkarte“ | |
Poigoune, seit 1998 Vorsitzender der lokalen Menschenrechtsliga (LDH), ist | |
zusammen mit anderen „Weisen“ in Schulen und Fernsehstudios gegangen, um im | |
Vorfeld der Abstimmung für Einigkeit zu werben. In den 1960er Jahren | |
gehörte er zu den ersten Kanak, die das Abitur ablegten. Ihm bedeuten „die | |
Werte der Republik“ sehr viel. Er ist für die Unabhängigkeit, kann aber | |
auch mit einem „Nein“ leben. Nach den Regeln des Nouméa-Abkommens können | |
2020 und 2022 noch zwei weitere Referenden zu der Frage stattfinden. | |
Poigoune ist außerdem Realist: „Wir können die Verbindungen zu Frankreich | |
gar nicht kappen. Wir sind ein Staubkorn auf der Landkarte. Manche Aufgaben | |
können wir gar nicht übernehmen.“ Nicht alle teilen diese Ansicht. | |
„Vielleicht hätten wir schon vor 20 Jahren abstimmen sollen“, sagt Roch | |
Wamytan von der Kaledonischen Union. Er war 1998 Vorsitzender der FLNKS und | |
einer der Unterzeichner des Abkommens von Nouméa. „Wir hätten damals | |
wahrscheinlich verloren. Aber das hätte uns nicht daran gehindert, das | |
Abkommen auszuhandeln.“ | |
Manche klagen auch über die Inhaltsleere des Wahlkampfs. Und die | |
Satirezeitschrift Le Chien bleu rennt mit ihrer Kritik an den überalterten, | |
nur mit Flügelkämpfen beschäftigten „verbürgerlichten“ Parteien bei vie… | |
Abstimmungsberechtigten offene Türen ein. Posten, Dienstwagen, Gehälter, | |
bezahlte Reisen ins Mutterland – „Rentiers des Kampfes“, nennt sie Pascal | |
Hébert, der ehemalige Generalsekretär einer Bildungseinrichtung. | |
Pierre Gope, ein kanakischer Theatermacher, forderte mit seinem letzten | |
Stück dazu auf, zur Abstimmung zu gehen. Der Titel: „Ich wähle ungültig“. | |
„Unsere Politiker sind schwach“, sagt er. „Unsere Ältesten sind alt, und | |
die Abgeordneten sind in erster Linie Abgeordnete der Französischen | |
Republik, bei den Stämmen tauchen sie nicht mehr auf.“ Um die Spaltung zu | |
verdeutlichen, lässt er in dem Stück eine legendäre Gestalt des kanakischen | |
Unabhängigkeitskampfs auftreten: Yeiwéné Yeiwéné, die rechte Hand des | |
FLNKS-Vorsitzenden Jean-Marie Tjibaou. Beide kamen 1989 bei einem Attentat | |
ums Leben. | |
## „Aufreger“ im Alltag | |
„Alles dreht sich nur um die Unabhängigkeit. Das geht mir auf die Nerven!“, | |
beschwert sich Alcide Ponga, Bürgermeister von Kouaoua und Mitglied des | |
Rassemblement – Les Républicains (R-LR). Er stammt aus einer kanakischen | |
Familie, die schon immer auf der Seite der Loyalisten stand. „Nicht die | |
politische Klasse ist überaltert, sondern die politischen Fragen, die man | |
immer wieder stellt, sind veraltet.“ | |
Der gleichen Ansicht ist auch der 30-jährige Kassierer Kevin Rolland. Das | |
Geschäft, in dem er arbeitet, vergibt nur befristete Arbeitsverträge. In | |
seiner Freizeit ist Rolland ein „Kydam“, ein rappender Dichter. Mit | |
Freunden hat er den Clip „Demain“ zusammengestellt. „Mit euch, aber nicht | |
ohne uns“, heißt es darin. Nach seiner Einschätzung ist das Referendum, das | |
er selbst boykottiert, den Menschen komplett egal. Die meisten beschäftigt | |
eine ganze andere Frage: Wie bewältigen wir den Alltag? | |
Der Alltag liefert jeden Morgen neue „Aufreger“ im Radio: Das Leben ist | |
teuer (33 Prozent teurer als in Frankreich, Lebensmittel sind sogar 73 | |
Prozent teurer, während der Mindestlohn und das Durchschnittseinkommen um | |
20 Prozent geringer sind). Anfang Oktober wurde eine allgemeine | |
Mehrwertsteuer eingeführt, die die Preise noch mehr in die Höhe treibt, | |
weil manche Händler sie nicht anstelle der bestehenden Steuern erheben, | |
sondern noch oben draufschlagen. Es herrscht Bildungsmangel und | |
Analphabetismus (33 Prozent der Bevölkerung haben Schwierigkeiten beim | |
Lesen), nur drei von 100 Anwälten, die in Nouméa zugelassen sind, sind | |
Kanak, an den Universitäten sieht es nicht anders aus. Die Menschen klagen | |
über Benachteiligung und mangelnde Sicherheit. | |
Ein Besuch beim Strafgericht, wo die Richter weiß sind und die Angeklagten | |
fast immer schwarz: Gewalt gegen Frauen, Steinwürfe auf Polizeifahrzeuge, | |
Drohungen mit Waffengewalt unter Alkoholeinfluss; jedes Jahr werden mehr | |
als 5.000 Anzeigen wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit erstattet (das | |
entspricht 20 Prozent der Anzeigen in Frankreich). In den Supermärkten sind | |
die Alkoholregale zu bestimmten Zeiten verschlossen. Die Kleinkriminalität | |
unter dem Einfluss von Alkohol oder Cannabis ist ein Dauerthema. Die Zahl | |
aufgebrochener oder gestohlener Fahrzeuge pro Kopf ist doppelt so hoch wie | |
im französischen Durchschnitt. Täglich wird von Überfällen auf | |
Gesundheitszentren, öffentliche Einrichtungen und Geschäfte berichtet. | |
## Die Wunden der Kolonialzeit | |
Die Arbeitslosenquote lag 2017 bei 11,6 Prozent, nur für Menschen mit | |
Behinderung und neuerdings auch für Ältere gibt es Sozialleistungen nach | |
dem Vorbild des französischen Mindesteinkommens. Alle anderen gehen leer | |
aus. Die Einkommensunterschiede sind doppelt so groß wie in Frankreich, und | |
der Lebensstandard der reichsten 10 Prozent ist 7,9-mal so hoch wie der | |
Lebensstandard der ärmsten 10 Prozent. „Die nächste Revolution wird keine | |
nationalistische, sondern eine soziale sein“, meint deshalb Élie Poigoune. | |
Der 31-jährige Wirtschaftswissenschaftler Samuel Gorohouna, einer der | |
wenigen kanakischen Dozenten an der Universität von Neukaledonien, | |
bestätigt das: „Solange die Schule eine Institution zur Reproduktion der | |
sozialen Verhältnisse ist, können sich die Kanak keine Gleichheit | |
erhoffen.“ In Koné, der Hauptstadt der Nordprovinz, wo 2019 eine Dependance | |
der Universität eröffnen werden soll, zeigt er uns die Überreste der Hütte | |
aus Lehm und Blech, in der er mit seinen Brüdern aufgewachsen ist: kein | |
Tisch, nur eine Laterne für alle. Bis in die 1990er Jahre gab es kein | |
fließend Wasser, 1994 (zur Fußball-WM) kam der erste Fernseher. Heute | |
besitzen sie alle ein Smartphone. „Wir vergessen es manchmal“, sagt er, | |
„aber wir haben einen sehr langen Weg hinter uns.“ | |
„Die Wunden der Kolonialzeit heilen nicht innerhalb einer Generation“, | |
erklärt Nicolas Kurtovitch, Schriftsteller und ehemaliger Direktor einer | |
protestantischen Privatschule in Nouméa. „Die Stadt ist ethnisch immer mehr | |
gemischt, die sozialen Veränderungen sind immens. Es geht aufwärts. In | |
unserer Schule gab es 1989 nur einen kanakischen Lehrer, heute sind es 15 | |
von 50.“ Im Haut-Commissariat de la République, dem Sitz des Vertreters der | |
Zentralregierung in Neukaledonien, ist man vorsichtiger. Von einer | |
„integrierten Gesellschaft“ sei man noch weit entfernt. Der Rassismus | |
bricht sich in den sozialen Netzen Bahn. Spannungen zwischen den | |
Bevölkerungsgruppen können jederzeit wieder aufflammen – so etwa Anfang | |
Oktober in Ouégoa im Norden von Grande Terre, als Caldoches eine Kundgebung | |
der FLNKS verhinderten. | |
„Das Erbe der Kolonialherrschaft hat sich mit einer problematischen | |
sozialen Situation vermischt. Nicht die Hautfarbe macht den Unterschied, | |
sondern die Kaufkraft“, meint Kurtovitch. „Vieles hat sich in den letzten | |
30 Jahren verändert, aber das Geld ist immer noch da, wo es immer war“, | |
bestätigt Roch Apikaoua, Priester kanakischer Abstammung und Generalvikar | |
der Diözese Nouméa. „Unsere Essens- und Kleidungsgewohnheiten halten uns im | |
System. Das kapitalistische System ist die Fortsetzung des Kolonialismus.“ | |
## Die Nickelstrategie ging nicht auf | |
Michel Levallois, Historiker, Experte für die Überseegebiete und lange | |
Jahre im französischen Staatsdienst, sagte kurz vor seinem Tod: „Die | |
Politik, die im Namen des ,gemeinsamen Schicksals' betrieben wurde, von dem | |
im Abkommen von Nouméa die Rede ist, hat die Autonomie des Gebiets zwar | |
gestärkt, es aber nicht auf die volle Souveränität vorbereitet. Das hat die | |
Verhältnisse der Kolonialzeit zugunsten der nichtkanakischen Bevölkerung | |
verfestigt.“ Tatsächlich hält die Südprovinz, wo drei Viertel der Menschen | |
leben und die mehrheitlich weiß ist, die Zügel in der Hand – gestützt auf | |
die Autonomieregelungen des Abkommens von Nouméa. | |
10 Prozent der weltweiten Nickelproduktion und potenziell bis zu 30 | |
Prozent der weltweiten Reserven entfallen auf die Insel. Deshalb | |
kalkulierte die FLNKS damit, lokale Fabriken aufzubauen (wie in Südkorea | |
und China), um die Unabhängigkeit zu finanzieren. Doch die | |
„Nickelstrategie“ ging nicht auf – zu sehr schwankten die Preise; im Zuge | |
der Finanzkrise vor zehn Jahren brachen sie komplett ein. Bergbau und | |
Metallurgie (die zwischen 5 und 10 Prozent des BIPs ausmachen und 14 | |
Prozent der Arbeitsplätze) haben zwar die Baubranche und öffentliche | |
Aufträge gefördert und damit der gesamten Nordprovinz Auftrieb gegeben. | |
Aber das Problem ist, dass es (mit Ausnahme der Produktion von | |
Sandelholzöl) keine nachhaltige Exportindustrie mit hoher Wertschöpfung | |
gibt und dass vor allem die Transportkosten nach Frankreich zu Buche | |
schlagen (13 Prozent des BIPs). | |
6.700 Beamte, hauptsächlich im Bildungswesen, bekommen ihr Gehalt vom | |
französischen Staat. Laut dem Haut-Commissariat müsste das lokale | |
Steueraufkommen nach der Unabhängigkeit auf das Doppelte steigen, um das | |
Versorgungsniveau zu halten. | |
Im Gegensatz zur Kleinkriminalität kommen die wichtigen Themen in den | |
öffentlichen Debatten viel zu kurz: die Konzentration des Handels bei einer | |
Handvoll Familien, die Oligopole, die die Gewinnmargen aufblähen, und die | |
Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Seit Kurzem existiert eine | |
unabhängige Kartellbehörde, die für mehr Transparenz sorgen könnte. Es wird | |
über Importquoten gesprochen, die Knappheit erzeugen und die Preise in die | |
Höhe treiben, und über die großzügige Entlohnung der Staatsdiener (die | |
französischen Gehälter werden in Nouméa mit 1,73 multipliziert und auf dem | |
Land mit 1,94). Nicht zu vergessen die Ungerechtigkeit des Steuersystems, | |
das keine Progression kennt und die Ärmsten übermäßig belastet. Bei der | |
Staatsanwaltschaft in Nouméa wundert man sich, dass die Behörden zwar | |
Steuerbetrug registrieren, aber nie einschlägige Ermittlungsakten auf ihren | |
Schreibtischen landen. | |
## „Untertanen der französischen Republik“ | |
„Die Unabhängigkeit hat symbolisch, emotional und affektiv nicht mehr die | |
gleiche Bedeutung. Die Weißen werden nicht gehen, die Kolonialfrage bleibt. | |
Und eine weiße Unabhängigkeit würde nichts lösen“, meint der Ethnologe | |
Benoît Trépied. Deshalb sind viele skeptisch: Was wäre der Gewinn der | |
Unabhängigkeit? Und wie könnten die Kanak und ihr Territorium besser | |
geschützt werden? | |
Das Abkommen von Nouméa wollte diese Frage mit dem Konzept des „gemeinsamen | |
Schicksals“ und der Einrichtung eines „Sénat coutumier“ lösen, eines | |
beratenden Gremiums, das als Mittler zwischen Tradition und Institutionen | |
fungieren sollte. Die FLNKS glaubte so die „Opfer der Geschichte“ – | |
Nachfahren von Sträflingen und ethnischen Gruppen aus Asien und dem | |
pazifischen Raum, die in der Kolonialzeit nach Neukaledonien verschleppt | |
wurden – für die Mitwirkung an ihrem Unabhängigkeitsprojekt zu gewinnen. | |
Ohne Erfolg. Rückenwind bekommt dafür heute die gemäßigt rechte | |
Antiunabhängigkeitspartei Gemeinsames Kaledonien, die mit einer weißen | |
Mehrheit für Multikulturalismus und ethnische Diversität eintritt. | |
Das führt auch zu Frustration. „Wir werden nicht zu 100 Prozent anerkannt. | |
Das Kanak-Volk müsste im Zentrum stehen, aber das tut es nicht. Ob es um | |
Land geht oder Bergbau – die Kanak haben nichts davon. Und die Steuern | |
hindern sie täglich daran, sich zu emanzipieren“, klagt Pierre Gope. | |
Emmanuel Tjibaou, ein Sohn von Jean-Marie Tjibaou, Leiter der Behörde für | |
die Entwicklung der kanakischen Kultur, erinnert daran, wie sehr die Gewalt | |
gegen sein Volk und gegen seine Familie noch in den Köpfen präsent ist. | |
Sein Großvater war zehn Jahre alt, als in Reaktion auf die Aufstände von | |
1917 die Hütten niedergebrannt und die Menschen mit Maschinengewehren | |
niedergemäht wurden. Sein Vater wiederum war zehn Jahre alt, als der | |
„Eingeborenenkodex“ aufgehoben wurde, die Sammlung von Dekreten, die die | |
Ureinwohner zu „Untertanen der französischen Republik“ erklärte und ihrer | |
politischen Rechte und Freiheiten beraubte. | |
„Wir sprechen ihre Sprache und passen uns an. Aber wie zeigt sich | |
umgekehrt, dass sie unsere Kultur anerkennen?“, fragt Pierre Gope. Die | |
Kinder lernen in der Schule nicht mehr ihre Muttersprache. In den | |
Geschichtsbüchern kommen die „Ereignisse“ immer noch nicht vor. „Was sol… | |
wir machen, wenn unsere Geschichte in den Büchern nicht erzählt wird?“ | |
## Die Charta der Kanak wurde nicht anerkannt | |
„Nur wenige Lehrkräfte machen sich Gedanken darüber, wie sie den Unterricht | |
gestalten, die ein anderes Verhältnis zu Zeit und Raum und zu anderen | |
Menschen haben“, erklärt Hamid Mokaddem, Philosoph und Dozent am Institut | |
für Lehrerbildung. „Den Kanak ist es beispielsweise fremd, mit anderen zu | |
konkurrieren, um Erfolg zu haben, sie sind es gewohnt zusammenzuarbeiten. | |
Soll man sie deswegen zum Schulpsychologen schicken, wenn sie nicht | |
mitkommen?“ | |
In Houaïlou an der Ostküste, wo die meisten Fahnen und Wimpel des | |
unabhängigen Staates Kanaky von den Bäumen und Brücken hängen, ist der | |
30-jährige Pascal Sawa Bürgermeister: „Die Kolonialzeit ist noch nicht | |
vorbei! Frankreich hat immer noch das Sagen, und vom gemeinsamen Schicksal | |
sind wir noch weit entfernt. Doch als Volk haben wir das Recht, uns selbst | |
zu regieren. Unsere Errungenschaften sind immer das Ergebnis politischer | |
Kämpfe gewesen.“ | |
Raphaël Mapou, von 1989 bis 1998 Sprecher von Palika, ist da anderer | |
Meinung: „Die kanakische politische Klasse hat es nicht geschafft | |
klarzumachen, inwiefern die Unabhängigkeit eine Sache der Kanak oder | |
Ausdruck der kanakischen Identität ist.“ Mapou hat sich schon lange von der | |
Idee verabschiedet, „dass man am Klassenkampf festhalten muss, um die | |
Gesellschaft zu verändern und die Kolonialherrschaft zu überwinden“. Er | |
setzt sich inzwischen für ein anderes Ziel ein: die Anerkennung der Kanak | |
als indigenes oder autochthones Volk mit eigenen Rechten wie bei den Inuit | |
in Kanada. | |
Die Erklärung der UN-Vollversammlung über die Rechte indigener Völker von | |
Jahr 2007 (die Frankreich unterstützt hat) spricht ihnen unter anderem das | |
Recht auf Selbstbestimmung und auf ihre Bodenschätze zu, das Recht, vor | |
Vertreibung sicher zu sein, und das Recht, frei über ihre wirtschaftliche | |
und gesellschaftliche Entwicklung zu entscheiden. | |
Raphaël Mapou, frischgebackener Doktor der Rechte und bis September 2018 | |
Sonderberater des Senats, hat mit Unterstützung französischer Juristen | |
vergeblich versucht, diese Institution zu stärken. 2014 wurde nach | |
Beratungen der Verantwortlichen der acht Stammesgebiete eine Charta des | |
kanakischen Volks verabschiedet, die als Grundlage einer künftigen | |
Verfassung dienen soll. Doch der Kongress hat das Dokument nicht anerkannt. | |
Die politischen Parteien einschließlich der Befürworter der Unabhängigkeit | |
wollten lieber eine Charta der „kaledonischen Werte“ haben. „Die politisc… | |
Klasse denkt, sie könnte die Entkolonialisierung allein durch die Parteien | |
und die republikanischen Institutionen erreichen. Das wird nicht | |
funktionieren“, meint Mapou. | |
Françoise Fara Caillard steht für einen indigenen Feminismus, sie fragt: | |
„Wie kann man nationalistisch sein in einem Land, in dem man die Minderheit | |
ist? Wir wollen als indigenes Volk anerkannt werden. Das ist unser | |
Instrument des Widerstands.“ Lokale Gruppen protestieren gegen die Schäden | |
durch den Bergbau, die Verwüstung der Landschaft und dagegen, dass nur ein | |
geringer Teil des Gewinns bei den Menschen ankommt. | |
Im Sommer 2018 brachte eine Gruppe in Kouaoua ein Projekt zu Fall, das eine | |
„Tabustätte“ erschließen sollte, wo seltene Pflanzen und Gummibaumarten | |
wachsen. Wir treffen die Mitglieder der Gruppe. Sie liegen im Clinch mit | |
den gewählten Vertretern und den Stammesführern, die dem Projekt ihren | |
Segen gegeben haben: „Wir müssen respektieren, was die Alten uns gesagt | |
haben: Dieser Ort ist tabu, wir dürfen dort nicht hingehen.“ In der Stadt | |
träumen die jungen Mitglieder der Gruppe Maintenant c’est nous (Jetzt sind | |
wir an der Reihe) derweil von einer Gesellschaft, die „gerechter und | |
solidarischer“ ist. | |
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer | |
11 Nov 2018 | |
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[1] /Referendum-Unabhaengigkeit/!5545118 | |
## AUTOREN | |
Jean-Michel Dumay | |
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