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# taz.de -- Französisch Übersee: Konfetti in Aufruhr
> Frankreich ist ein Weltreich. Und es sieht nicht so aus, dass es
> schrumpfen würde. Auch wenn Neukaledonien über seine Unabhängigkeit
> abstimmt.
Bild: Die meisten Parteien wollen eine andere Unabhängigkeit als die, die jetz…
Paris taz | Frankreich ist eine Weltmacht. Das ist kein Witz und auch keine
bloße nostalgische Träumerei französischer Nationalisten, die unversöhnlich
dem Verlust der Kolonien in Afrika und Asien nachweinen. Frankreich ist
nicht nur unser kontinentales Nachbarland jenseits des Rheins. Ein Blick
auf eine Weltkarte mit den entsprechenden Details bestätigt, dass sich „la
France“ heute immer noch weit über Europa hinaus erstreckt.
Weil diese Reste eines der einst größten Kolonialreiche über alle Weltmeere
verstreut sind, werden sie gelegentlich mit sehr eurozentristischer
Herablassung „das Konfetti der französischen Republik“ genannt. Sie haben
einen unterschiedlichen staatsrechtlichen Status: Guadeloupe und Martinique
in der Karibik, Französisch-Guyana auf dem südamerikanischen Subkontinent,
La Réunion und Mayotte östlich von Afrika im Indischen Ozean sind
vollberechtigte Departements, Französisch-Polynesien genießt bereits eine
Teilautonomie, während Saint-Pierre-et-Miquelon vor der Küste Kanadas und
Wallis-et-Futuna im Südpazifik sowie die Inseln und Gebiete vor der
Antarktis je einen Sonderstatus haben.
## Präsenz rund um den Globus
Auch wenn der Sammelbegriff für die entlegenen Gebietskörperschaften, auf
denen insgesamt mehr als 1,6 Millionen französische Bürger*innen leben,
verächtlich klingt, dachte niemand in den Regierungen der letzten
Jahrzehnte ernsthaft daran, sie leichtfertig wegzuwerfen wie Konfetti.
Dafür sind die politischen, geostrategischen und wirtschaftlichen
Interessen an der damit verbundenen Präsenz rund um den Globus viel zu
wichtig. Und ebendamit (sowie mit dem Besitz der Atomwaffen) rechtfertigt
Frankreich den Anspruch auf seinen permanenten Sitz im UNO-Sicherheitsrat.
Auch für die derzeitige Staatsführung in Paris besteht das Problem darin,
die regelmäßig aufflackernden Rebellionen oder Konflikte und
Autonomieforderungen in diesen Tausende Kilometer vom europäischen Festland
entfernten Überseegebieten möglichst ohne Gesichtsverlust vor der
Weltöffentlichkeit beizulegen – oder notfalls sogar mit brutaler Repression
niederzuschlagen.
Auf Guadeloupe und Martinique protestierten zuletzt die Gewerkschaften mit
einem Generalstreik gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Auslöser der seit
Wochen anhaltenden Konflikte, bei denen es zu Plünderungen und sogar
Schusswechseln mit der Polizei kam, war die Covid-Impfpflicht für das
Personal des Gesundheitswesens und die Feuerwehr.
## Die Kolonie Neukaledonien
Zum dritten Mal wird am Sonntag auf Neukaledonien über die Unabhängigkeit
von Frankreich abgestimmt. 2018 und 2020 votierte eine Mehrheit (zuerst mit
56,7 und zwei Jahre später nur noch mit 53,3 Prozent) für den Verbleib beim
„Mutterland“ Frankreich. Am 12. Dezember 2021 ist das Resultat, eine viel
deutlichere Ablehnung der geplanten schrittweisen Loslösung von der
ehemaligen Kolonialmacht, absehbar. Die Befürworter der Unabhängigkeit
boykottieren nämlich die Abstimmung. Damit dürfte voraussichtlich der von
Frankreich seit 1988 eingeleitete Prozess einer Entkolonisierung
Neukaledoniens bis auf Weiteres scheitern. Und damit auch der Versuch einer
Vermittlung zwischen den antagonistischen Lagern. Zum einen sind das die
einheimischen melanesischen „Kanak“ (sie machen noch rund 44 Prozent der
Bevölkerung aus) und zum anderen die europäischstämmigen „Caldoches“ (ci…
34 Prozent). Die restlichen Bevölkerungsgruppen stammen wiederum aus
Polynesien und Indochina).
## Die Front Kanak et socialiste
Das oberste Verwaltungsgericht in Paris hat in dieser Woche definitiv den
Antrag der Unabhängigkeitsbewegung Front de libération nationale kanak et
socialiste (FLNKS) auf Verschiebung des Urnengangs abgewiesen. Die FLNKS
hatte unter anderem wegen der Coronapandemie gefordert, dass diese
Volksbefragung von historischer Bedeutung erst nach den französischen
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr stattfinde. Damit
sollte Zeit gewonnen werden, um die Chancen für ein Ja zur Unabhängigkeit
zu verbessern. Weil die Zentralregierung und nun auch die Justiz in der
fernen Hauptstadt Paris dem verlangten Aufschub nicht stattgeben will,
boykottieren die Kanak die Konsultation. Sie sprechen von einer
„Missachtung der Politiker und Stammesvertreter des Kanak-Volks“ und wollen
die Sache allenfalls vor internationalen Instanzen verhandeln. Sie wissen,
dass das der Staatsführung in Paris peinlich werden kann, weil
Neukaledonien wie Französisch-Polynesien (Tahiti) weiterhin auf der
[1][UNO]-Liste der „nicht-selbstregierten“, das heißt noch zu
entkolonisierenden Territorien steht.
## Der Minister für „Outre-mer“
Innerhalb der FLNKS herrscht Uneinigkeit bezüglich der besten Strategie,
die französische Vormundschaft loszuwerden, was die Position der
Befürworter der Unabhängigkeit schwächt. Der französische Minister für die
„Outre-mer“ (die Überseegebiete und -départements), Sébastien Lecornu,
verspricht, er wolle nach dem erwarteten dritten Nein zur Unabhängigkeit am
Sonntag einen konstruktiven Dialog in Neukaledonien mit dem von ihm auf 45
Prozent geschätzten Bevölkerungsanteil der Befürworter fortsetzen. Die nach
blutigen Konflikten ausgehandelten Verträge von 1988 und 1998 sahen vor,
dass spätestens nach einer dritten Abstimmung ein schrittweiser Übergang in
die Souveränität von „Kanaky-Nouvelle-Calédonie“ beginnen sollte. Dass d…
Stimmberechtigten dies drei Mal ablehnen würden, war in diesem Protokoll
nicht vorgesehen. Eine Rückkehr zum Ausgangspunkt bedeutet aber auch das
Risiko erneuter gewaltsamer Aufstände und Auseinandersetzungen wie in der
Vergangenheit.
## Sklaverei und Deportation
Für Frankreich geht es nicht nur um den Frieden in einer fernen „Provinz“.
Die Gefahr, dass sich die Dynamik der Entkolonisierung auf andere Teile von
Übersee ausweitet, ist für Paris real. Zwar mag häufig ein anderer Eindruck
entstehen, wenn beispielsweise die lokalen Parteien, die sich in Martinique
oder Guadeloupe die Unabhängigkeit auf ihre Fahnen schreiben, eher die
Vorteile einer Zugehörigkeit zu Frankreich verteidigen: Einfacher
Finanztransfer, das Gesundheits- und Schulsystem und der Zugang zu
Beamtenstellen würden bei einer Trennung zwangsläufig wegfallen. Doch die
frühere Sklaverei, Deportationen in Straflager (etwa auf die Teufelsinsel
vor Guyana) und die blutige Niederschlagung von Streiks und Aufständen
belasten noch immer die Beziehungen und wirken sich auch auf das
Geschichtsbewusstsein in Übersee-Frankreich aus. Wiederholt kommen diese
Probleme bei sozialen Konflikten an die Oberfläche.
## Gold, Nickel und Touristen
Abgesehen von den politischen Risiken eines Dominoeffekts hat die
Zentralmacht in Paris auch alles Interesse, ihre „Besitzungen“ in den
Meeren am anderen Ende der Welt zu verteidigen. Mit deren Gestaden verfügt
Frankreich über enorme Seehoheitsgewässer mit Fischereirechten und einen
riesigen Meeresgrund mit potenziell abbaubaren Rohstoffen in den
sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszonen. Deswegen ist selbst die
unbewohnte französische Insel Clipperton vor der nordamerikanischen Küste
von größtem Interesse. Das belegen schon die gegenwärtigen
Wirtschaftsinteressen: In Guyana wird vor allem Gold abgebaut, in
Neukaledonien ist die Produktion von Nickel von großer Bedeutung – um die
Frage, wer diese Nickelminen kontrollieren und nutzen darf, gab es seit
Jahrzehnten Streit. Auf den französischen Antillen Martinique und
Guadeloupe wiederum (mit den Inseln Saint-Barth und Saint-Martin) ist heute
der Tourismus noch vor Zuckerrohr und Bananen die wichtigste
Einkommensquelle.
## Eine Übung für die Katz
Absehbar ist, dass Frankreich weder auf seine strategischen und
wirtschaftlichen Interessen im einstigen Kolonialreich noch auf den Rang
als Weltmacht verzichten wird. Auch die Kanak werden ihre historischen
Ansprüche auf Selbstbestimmung nicht aufgeben und deshalb am Boykott
festhalten. So folgert man nun in Frankreichs unruhigem Übersee: Die
Befragung am Sonntag ist eine Alibiübung für die Katz.
11 Dec 2021
## LINKS
[1] https://www.un.org/dppa/decolonization/en/nsgt
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Unabhängigkeit
Schwerpunkt Frankreich
Pazifik
Entkolonialisierung
Neukaledonien
Mayotte
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Schwerpunkt Frankreich
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