| # taz.de -- Film „Pacifiction“ von Albert Serra: Wie ein schwüler Schleier | |
| > In „Pacifiction“ auf Tahiti inszeniert Albert Serra in tropischer | |
| > Langsamkeit ein Drama zwischen Kolonialismus und Verschwörungstheorien. | |
| Bild: De Roller (Benoît Magimel) und Shannah (Pahoa Mahagafanau) | |
| Für ein tadel- und makelloses Auftreten dürfen keine Mühen gescheut werden. | |
| Das weiß auch De Roller, der als französischer Regierungsbeamter auf Tahiti | |
| arbeitet. Selbst bei einem Ausflug zu einem Surfwettbewerb draußen im | |
| Pazifik trägt er seinen weißen Anzug. Dazu ein leicht aufgeknöpftes Hemd | |
| mit Blumenmuster und eine blaugetönte Sonnenbrille. Nur auf seine | |
| orange-braunen Moccasins hat er diesmal verzichtet. | |
| Barfüßig beobachtet er, auf einem Jetski sitzend, wie wenige Meter entfernt | |
| ein Surfer eine gigantische Welle reitet, bevor diese in tosendem Rauschen | |
| bricht und ihre Gischt die umliegenden Zuschauer:innen auf ihren Booten | |
| knapp verfehlt. Zweifellos eine der beeindruckendsten Szenen in | |
| „Pacifiction“, dem neuen Film des spanischen Regisseurs Albert Serra. | |
| De Roller ist der Hochkommissar Tahitis und somit offizieller Repräsentant | |
| Frankreichs, zu dem die autonome Region Französisch-Polynesien formell | |
| gehört. In seiner Funktion verkehrt er ebenso wortgewandt und selbstsicher | |
| in gehobenen Kreisen wie in zwielichtigen Etablissements, in denen er sich | |
| nach den neuesten Gerüchten erkundigt – immer darauf bedacht, die Belange | |
| der Inselbewohner:innen auszuloten. | |
| Wenn er dabei polynesischen Tänzer:innen auf süffisante Art erklärt, | |
| dass sie ihren traditionellen Hahnentanz mit mehr Aggressivität aufführen | |
| sollen, gleicht er jedoch mehr einem einstigen Kolonialverwalter als einem | |
| diplomatischen Gesandten. Worin seine eigentliche Arbeit besteht, bleibt | |
| schleierhaft – wie vieles in diesem rätselhaften, aber nicht minder | |
| faszinierenden Film. | |
| ## Das lüsterne Leben französischer Adliger | |
| Mit „Pacifiction“ betritt der Regisseur Albert Serra inhaltlich neues | |
| Terrain. In den letzten Jahren sorgte er vor allem mit seinen | |
| Avantgarde-Filmen über das lüsterne Leben französischer Adliger und deren | |
| Niedergang ([1][„Liberté“], [2][„Der Tod von Ludwig XIV.“]) oder seiner | |
| exzentrischen Casanova-Verfilmung „Story of My Death“ für Aufsehen. | |
| Sein neuester Film dürfte zugleich sein bisher gefälligster sein. Im Gewand | |
| eines Film noir verhandelt er die koloniale Vergangenheit Tahitis. Denn | |
| unter der Bevölkerung wird gemunkelt, dass auf einem nahegelegenen Atoll | |
| wieder Atomtests durchgeführt werden sollen. Draußen auf dem Meer solle | |
| sich schon ein französisches U-Boot aufhalten. | |
| De Roller versucht den Gerüchten auf den Grund zu gehen und die | |
| Inselbewohner:innen in ihrer Sorge zu beschwichtigen, die massive | |
| Proteste ankündigen, sollte sich das Gerede bewahrheiten. Tatsächlich | |
| führte Frankreich zwischen 1966 und 1996 auf dem Mururoa-Atoll mehr als 200 | |
| Atomtests durch. In der Zeit wurde Tahiti einer Strahlenbelastung | |
| ausgesetzt, die das 500-Fache der zulässigen Höchstwerte betrug. Ein | |
| sprunghafter Anstieg von Krebserkrankungen war die Folge. | |
| ## Pandemieleere Insel | |
| Diese dramaturgische Prämisse nutzt Serra für seine so beunruhigende wie | |
| bildgewaltige Szenerie, die er inmitten südpazifischer Urlaubsromantik | |
| aufbaut. Um eine konventionelle Narration schert er sich dabei wenig. | |
| „Eigentlich habe ich nichts zu sagen. Ich habe nur Bilder“, sagte er in | |
| einem Interview mit MUBI Notebook. Und seine Bilder samt ihrer | |
| atmosphärischen Dichte sind überwältigend. | |
| Gedreht wurde 2021, als aufgrund der Pandemie keine Touristen auf der Insel | |
| waren. Das dadurch verstärkte Gefühl der Abgeschiedenheit, die dunstig | |
| schimmernden Aufnahmen Tahitis und die tropische Langsamkeit, die sich wie | |
| ein schwüler Schleier über den Film legt, entwickeln einen Sog, dem man | |
| sich trotz einer Länge von knapp zweieinhalb Stunden nicht entziehen kann. | |
| Der Film folgt ausschließlich der Perspektive De Rollers und wie er mit | |
| unerschütterlicher Vehemenz seine nebulöse Agenda verfolgt. Benoît Magimel, | |
| der letztes Jahr den französischen Filmpreis für seine Rolle als | |
| krebskranker Schauspiellehrer in „In Liebe lassen“ gewann, spielt De Roller | |
| mit gekonnter Lässigkeit und erinnert zuweilen an Jack Nicholson in Roman | |
| Polanskis Neo-Noir-Klassiker „Chinatown“. | |
| Ob im kumpelhaften Austausch mit einem augenscheinlich korrupten | |
| Bürgermeister, in Zwiegesprächen im örtlichen Nachtclub oder während seiner | |
| Nachforschungen auf der Insel: De Roller ist immer bedacht, den richtigen | |
| Ton zu treffen, um die Ordnung zu bewahren, die im Falle neuer Atomtests | |
| aus den Fugen zu geraten droht. | |
| Aber handelt es sich wirklich um mehr als nur ein Gerücht? Schließlich | |
| tauchte vor Kurzem ein französischer Admiral mit einer Gruppe Matrosen auf. | |
| Oder ist es nur Paranoia, die sich langsam, aber merklich auf der Insel | |
| ausbreitet? Eine stetig verschwommene und unscharfe Wahrnehmung der | |
| Realität durchzieht den Film wie ein Leitmotiv. | |
| Serra hat nach eigenen Angaben auf ein fertiges Skript verzichtet und | |
| während des Drehs seinem Schauspieler Magimel über Kopfhörer improvisierte | |
| Dialoge zugeflüstert. Erst im Schnitt erhielt der Film die vorliegende | |
| Form. Herausgekommen ist ein herausragendes Beispiel für die Wirkmacht des | |
| Kinos. Serra erzählt nur anhand seiner Bilder, ohne zu erklären. Und mehr | |
| braucht es für diesen mehr als außergewöhnlichen Film auch nicht. | |
| 2 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Obermeier | |
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