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# taz.de -- Gauguin-Ausstellung in Berlin: Ein „Wilder“ wollte er sein
> „Paul Gauguin – Why are you angry?“ in der Alten Nationalgalerie
> beschäftigt sich mit dem Kolonialismus und mit dem Bohemien in seiner
> Zeit.
Bild: Tahitianische Frauen, 1891
Die Kolonialismus-Debatte ist in den Kunstmuseen angekommen. Gerade eine
Woche ist es her, dass die Doppelausstellung im Berliner Brücke-Museum und
im benachbarten Kunsthaus Dahlem die Türen schloss, da öffnet in der Alten
Nationalgalerie mit „Paul Gauguin – Why are you angry?“ die nächste Scha…
die sich der Verwobenheit von Impressionismus, Expressionismus und
Kolonialismus stellen will.
Während in Dahlem [1][die Malerei der Brücke-Künstler und die Aufenthalte
von Emil Nolde und Max Pechstein im Südpazifik im Mittelpunkt standen,]
sind es auf der Museumsinsel nun die Tahiti-Aufenthalte von Paul Gauguin.
Woher das gegenwärtige Interesse für die postkoloniale Befragung der Heroen
der modernen Kunst rührt, ist bei Stichworten wie „MeToo“ und „Black Liv…
Matter“ leicht einsichtig. Gauguin sei in diesem Zusammenhang besonders
interessant, macht die Kuratorin Anna Kærsgaard Gregersen bei der Eröffnung
in der Alten Nationalgalerie deutlich. Sie arbeitet für die Ny Carlsberg
Glyptotek im dänischen Kopenhagen und hat die Ausstellung in Berlin
konzipiert.
Denn wie schon bei der Brücke-Ausstellung liegt auch der jetzigen
Gauguin-Schau die Kooperation mit einem Kopenhagener Museum zugrunde. Weil
unser Wissen über Gauguin zum Großteil auf seiner Selbstinszenierung beruhe
und der Mensch dahinter schwer zu fassen sei, bietet er umso mehr
Reflexionsfläche für Projektionen, sagt Kærsgaard Gregersen.
## Impressionismus in unbekanntem Terrain
Man könne in Gauguin den Pädophilen und Kolonisten sehen, der junge
tahitianische Mädchen schwängerte, so Kærsgaard Gregersen. Dennoch müsse
man ihn auch als Bohemien betrachten, der die Kunst von Konventionen
befreite und den Impressionismus in unbekanntes Terrain führte.
[2][Gleich zweimal reist der 1848 in Paris geborene Eugène Henri Paul
Gauguin nach Tahiti, 1891 und 1895.] 1901 siedelt er von dort auf die 1.400
Kilometer entfernten Marquesas-Inseln um, wo er 1903 gesundheitlich stark
angeschlagen sterben wird. Es war die Begeisterung für Exotisches, die ihn
in den Südpazifik trieb; eine exotistische Begeisterung, die er mit seinen
eigenen Bildern weiter befeuern sollte.
Von den Kolonialpavillons der Exposition Universelle 1889 in Paris lässt
Gauguin sich inspirieren, von der Anmut der „edlen Wilden“, wie Rousseau
sie schon hundert Jahre zuvor propagiert hatte, ist er eingenommen. Als er
1890 einem befreundeten Künstler seine Reisepläne ankündigt, spricht er von
einem paradiesischen Eiland: „Ich werde bald nach Tahiti gehen, eine kleine
Insel in Ozeanien, wo es ein Leben ohne materielle Sorgen und Geld gibt.“
In dem Brief schwärmt er von einem immerwährenden blauen Himmel in „einem
Land von wundersamer Fruchtbarkeit“, deren Bewohner nicht einmal arbeiten
müssten. Auf der Insel angekommen, stellt sich die Enttäuschung schnell
ein. Längst schon hatten die Administratoren Europas in der französischen
Kolonie Einzug gehalten, hatten Häuser nach ihren mitgebrachten
Vorstellungen gebaut und mit dem christlichen Glauben auch ihre
Kleidernormen eingeführt.
## Sein Paradies musste er sich erfinden
Was Gauguin sich erhofft hatte, es sollte ein Traum bleiben. Das Paradies,
das er so herbeisehnte, musste er nun also sich selbst erfinden, wollte er
sich nicht seinen Irrtum eingestehen. So malte er in leuchtenden Farben die
Tahitianer*innen und inszenierte sich selbst als einen von ihnen. Ein
„Wilder“ wollte er sein, einer, der sich nicht den bürgerlichen Zwängen
unterwirft.
Den Preis dafür zahlte er, als er an Syphilis erkrankte und in Konflikt mit
den Kolonialbehörden geriet, weil er die Bewohner*innen der
Marquesas-Inseln gegen die koloniale Steuerpolitik aufwiegelte.
Neu sind diese Geschichten hinter den traumwandlerischen Gemälden nicht.
Überraschender sind die ungelenk erscheinenden Keramiken Gauguins, die sich
auf den ersten Blick so gar nicht in die Ausstellung fügen wollen. Ihre
Formensprache ist von Vasen aus Peru inspiriert – jenem Land, in dem
Gauguin die ersten Lebensjahre verbrachte, weil die Revolution von 1848 die
Familie zu Verwandten nach Südamerika getrieben hatte.
Gekrönt sind die Keramiken mit Hirtenmädchen und Schafen, mit Motiven, die
Gauguin der französischen Bretagne entnahm, als er sich in der
Künstlerkolonie Pont-Aven aufhielt. Um die Wende zum 19. Jahrhundert muss
diese raue Küstenlandschaft mit ihren bäuerlichen Bewohner*innen
ähnlich exotisch auf die Pariser gewirkt haben, wie es die
außereuropäischen Länder taten.
## Inselleben in der Popkultur
Zurück in den Pazifik. Dass der Traum von der Südsee mit Gauguin keineswegs
gestorben ist, weiß, wer jemals einen Blick in einen Reisekatalog geworfen
hat. Von welchem Einfluss die Fantasien des paradiesischen Insellebens auf
die globale Popkultur sind, zeigt die zeitgenössische Künstlerin Angela
Tiatia in ihrer Arbeit „Material Culture“. Die Neuseeländerin Tiatia ist
als eine gegenwärtige künstlerische Position in der Ausstellung vertreten.
In dem Sammelsurium von Figürchen, Plakaten und Fotos, die sie auf eBay
zusammengetragen hat, manifestiert sich der heutige zelebrierte
folkloristische Ethno-Kitsch von Tiki-Bars und Baströcken. Humorvoll und
alltäglich ist der Ansatz der Künstlerin Yuki Kihara, die sich fern
kunsthistorischer Fachdiskurse der Malerei Gauguins nähert.
In der Videoarbeit „First Impressions“ sind wir Publikum einer Talkshow,
deren polynesische Gäste Gauguins Kunst bislang unbekannt oder gleichgültig
war. Die omnipräsente Künstlerpersona Gauguin tritt hier einmal in
angenehmer Weise in den Hintergrund, während die Talkshowgäste unbefangen
über Kunst plaudern.
Wer in der Alten Nationalgalerie eine Retrospektive über den
postimpressionistischen Maler Gauguin erwartet hat, wird allerdings
enttäuscht. „Why are you angry?“ will keine umfassende Gauguin-Werkschau
sein; es ist eine Ausstellung über Gauguin mit spezifischen Blickwinkel.
Unschuldig anblicken lassen sich seine Bilder hier nicht; die postkoloniale
Kontextualisierung nimmt viel Raum ein.
## Postkolonalie Ausrichtung interessiert jüngeres Publikum
Als Leiter der Alten Nationalgalerie macht Ralph Gleis auf der
Eröffnungsveranstaltung keinen Hehl daraus, dass die postkoloniale
Ausrichtung auch jüngeres Publikum anlocken soll. Und das sollte gelingen.
Die Einträge im Gästebuch zur unlängst geschlossenen Ausstellung im
Brücke-Museum haben deutlich gemacht, dass die kritische Auseinandersetzung
mit dem europäischen Kunstkanon gerade bei jungen Besucher*innen auf
offene Augen trifft, während so manche ältere um das Renommee ihrer
künstlerischen Nachkriegshelden bangen. „Paul Gauguin – Why are you angry?…
hat jedenfalls das Zeug dazu, das Publikum zu polarisieren.
30 Mar 2022
## LINKS
[1] /Kunst-und-Kolonialismus/!5820942
[2] /100-Jahre-Museum-Folkwang-in-Essen/!5835286
## AUTOREN
Fabian Lehmann
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