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# taz.de -- Ausstellung „Maler des Heiligen Herzens“: Die Gruppe, die es ni…
> Eine missglückte Ausstellungen lohnt den Besuch: Das Modersohn-Becker
> Museum zeigt visionäre Gemälde der Séraphine Louis. Allerdings unter
> anderem.
Bild: Der Gruppe der „primitiven Meister“ wurde auch Henri Rousseau zugerec…
Die Malerin Séraphine Louis haben die Deutschen ermordet, in
Villers-sous-Equery, das zu Clermont gehört, vor 80 Jahren. Nicht gezielt,
dafür war sie noch zu wenig berühmt, und nicht mit Gewehrschüssen oder Gas.
Der 11. Dezember 1942 ist als ihr Todestag verzeichnet: Im besetzten
Frankreich sind die Nervenheilanstalten nicht mit Lebensmitteln versorgt
worden, so dass die Insassen – Patient*innen scheint ein zu
beschönigendes Wort – verhungert sind: Auf 40.000 wird die Opferzahl
[1][dieser „extermination douce“ geschätzt], dieser „sanften Vernichtung…
Und eine von ihnen war die im September 1864 geborene Tochter eines
Tagelöhners und eines Bauernmädchens, das im Kindsbett gestorben war:
Séraphine Louis, mit sieben Jahren Waisenkind, die mit 14 für ihren
Lebensunterhalt aufkommt, als Hauswirtschaftshelferin im Nonnenkloster und
später als Putzfrau der Bourgeoisie von Senlis.
Sicher, sie war ein bisschen seltsam. Behandlungsbedürftig auch: Sie
ruinierte sich durch ihre Kaufsucht. Damals, 1931, hatte das gereicht, um
sie wegzusperren: Gemälde aus ihrer Zeit im Irrenhaus von
Clermont-sur-l'Oise gibt's offenbar nicht. Derzeit zeigt das Bremer Paula
Modersohn-Becker-Museum einige ihrer Bilder, in einer ansonsten leider eher
missglückten Ausstellung.
## Eine seltsame Frau wird weggesperrt
Die wurde vom verdienten Starkurator Udo Kittelmann fürs Museum Frieder
Burda zusammengestellt und nun von Bremen übernommen: Ihr Titel „Die Maler
des Heiligen Herzens“ ist die Übersetzung des Marketingeinfalls, der 1928
dem [2][Kunsthändler Wilhelm Uhde] erlaubte, in der Pariser „Galerie Quatre
Chemins“ vier disparate Positionen zwecks besserer Vermarktung zu bündeln.
Als „Peintres du Coeur Sacré“ hatte er Séraphine mit Louis Vivin, André
Bauchant und Camille Bombois, drei weiteren Autodidakten, zusammengespannt,
die ohne sein Zutun wohl komplett vergessen wären. Und die nichts
voneinander wussten.
Deren Platz im Kanon zu sichern, versucht nun der Katalog unter teils
massivem Einsatz von Kuratorenlyrik: Die vermag bei Louis Vivin die „starre
Gleichförmigkeit und Ungelenkigkeit der Darstellung“ seiner abgemalten
Ansichtskarten, „die jede Dynamik und Spannung unterläuft“, zum Vorzug zu
erklären. Die Möglichkeit, Uhde könnte in dem einen oder anderen Fall
vielleicht doch danebengelangt haben, bleibt unerörtert: Stattdessen wurde
noch Henri Rousseau dazugepackt.
Auch darin folgt man blind den Ideen des leidenschaftlichen Kunst-Agenten
und -schriftstellers: Uhde war der Entdecker des „Zöllners“, er hatte ihn …
1911, ein Jahr nach Tod – zumindest in der avantgardistischen
Künstler*innenszene des Vorkriegsparis durchgesetzt, und ihn 1947 zu
den anderen vier im Buch „Fünf Primitive Meister“ in die imaginäre Gruppe
aufgenommen. Der romantisierende 20er-Jahre-Titel war ihm nach den
Schrecken des Zweiten Weltkriegs aber zu schwärmerisch.
Mindestens diesen selbstkritischen Move hätte eine Ausstellung reflektieren
müssen, die Uhdes Konstruktion von „Primitivismus“ oder „Naiver Kunst“
befragt, sofern sie sich nicht in seinen dezidierten Antiintellektualismus
flüchten will: Uhde zufolge wäre es ja sogar „gefährlich, unsere
Erkenntnisse gegenüber Bildern auszubilden“. Denn „Gefühl ist alles“, h…
er Anfang der 1930er-Jahre in Briefen an einen Hamburger Sammler sein
Kunstverständnis ausgebreitet.
Das zu analysieren – oder von mir aus: ihm nachzuspüren – das wäre spanne…
gewesen, ja intelligent. Es hätte, angesichts seiner gleichzeitigen
radikalen Gegenwärtigkeit die aktuell rationalistisch-verengte Sicht auf
Moderne aufbrechen können.
Aber damit hält sich hier keiner auf: Es wird sozusagen re-enactet, Uhdes
Setzung hingenommen. Diese Herangehensweise kann weder die Frage nach
Kanonbildung bearbeiten, also das Problem der Wertschätzung von Kunstwerken
und wodurch sie bestimmt wird, noch hat sie zum Thema des künstlerischen
Selbststudiums mehr beizusteuern als die im Hinblick auf die klassische
Moderne grotesk-falsche These, dieses könne die weitgehende Nichtbeachtung
der hier gezeigten Positionen erklären.
Den Versuch, Uhdes bis heute wirksamen Einfluss auf Kunstmarkt und -welt zu
ergründen, unternimmt die Ausstellung nicht: Sie erliegt ihm, als ginge es
darum, die Kaufentscheidung der Hauptleihgeberin zu beglaubigen. Und dort,
wo in den Gemälden etwas rätselhaft wirkt, etwa Camille Bombois geradezu
ostentative Weigerung, Füße zu malen, verfällt das kuratorische Personal
auf die platteste und gedankenloseste aller Deutungen: „Vielleicht“, so
spekuliert Direktor Frank Schmidt, „konnte er keine Füße malen.“ Schriften
von Bombois gibt es nicht.
Andere Dokumente oder irgendwelche Reflexionen, die den Bildeigenarten mehr
abgewinnen, als dass sie am Ende doch als Ausdrücke eines nie überwundenen
Dilettantismus erscheinen, fehlen auch im Katalog.
Und trotzdem lohnt der Weg in die Böttcher-Straße: Denn allzu oft hat man
ja die Möglichkeit nicht, in Deutschland den Gemälden Séraphines zu
begegnen, das Große Blaue in der Hamburger Kunsthalle mal ausgenommen. Von
innen heraus glühen ihre fantastischen
Blüten-Frucht-und-Blätter-Kompositionen.
Gemalt hat sie diese stets mit Ripolin-Farben, meist auf Leinwänden, die
sie, ähnlich wie Jackson Pollock, auf dem Boden ausgebreitet hatte. Sie
haben ein Rätsel, das berührt. Eine Einzelausstellung – die vermutlich
erste institutionelle seit 50 Jahren – wäre längst überfällig, und nachdem
der Film über ihr Leben 2008 schon so ein europäischer Riesenerfolg gewesen
war, wohl auch kein allzu großes Wagnis.
Dass Séraphine Louis Bilder aus einer anderen Welt empfing, egal, ob es die
nun gibt oder nicht, ist eine Tatsache: Sie hatte Visionen. Diese wurden
möglicherweise noch durch die besonders aggressiven Lösungsmittel der
eigentlich für Rostschutzanstriche gedachten industriellen Emaille-Lacke
verstärkt.
Aber das ist spekulativ: Andere Ripolin-Maler, wie (gelegentlich) Pablo
Picasso, dezidiert Francis Picabia und konsequent Sidney Nolan haben
jedenfalls keine bleibenden Schäden davongetragen. Und vielleicht hat diese
wahre Mystikerin auch umgekehrt, [3][wie eine Orakelpriesterin], die
Rauschzustände gebraucht, um ihre inneren Kämpfe zu bestehen: In ihren
nachgelassenen Briefen verrät sie, wen Gott als nächstes zu sich rufen wird
– denn er hat es ihr anvertraut – oder wähnt sich mitten in der Schlacht
zwischen himmlischen Heerscharen und den Armeen Satans: Letzterer umwirbt
und bedrängt Séraphine.
Aber sie wird standhaft bleiben. Sie malt, weil Gott sie auserwählt hat, um
die Welt zu retten, wie die Psychoanalytikerin Françoise Cloarec in einem
Buch über sie betont. Sind es die Früchte eines neuen Paradieses? Beeren
der Erlösung? Oder züngeln doch die Flammen der Hölle durch die Blätter
ihrer Roten Bäume?
Niemand kann diese Frage entscheiden. Und darauf kommt es auch nicht an:
Eine Erfahrung ist es, sich ihr zu stellen und sie nicht in willkürlich
gesetzten Gruppen oder in wenig überzeugenden Begriffen zu fassen,
primitiv, naiv, heilig, herzig – die doch nur die Wirkung schwächen, die
Besonderheit auflösen. Und das Geheimnis verdecken.
12 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.cairn.info/revue-vie-sociale-et-traitements-2001-1-page-45.htm
[2] https://www.deutsche-biographie.de/pnd117267716.html
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Pythia
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Malerei
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Ausstellung
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