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# taz.de -- Kunst und Migration: Was ans Licht drängt
> Die Gruppenschau „Reflecting Migration“ in der Bülowstraße 90 zeichnet
> ein differenziertes Bild der städtischen Einwanderungsgeschichte.
Bild: Die Installation „Viele Grüße von Zuhause“ von Linda Söderholm
Es ist eine Parklandschaft im Schnee, Hochbahnbrücken führen darüber, die
Maria Pichel Llaquet auf die Wände eines Ausstellungsraums in der
Bülowstraße 90 gemalt hat. Blaue Figuren laufen durch das Weiß. Wie schön
es ist, durch die Stadt zu spazieren, das taucht wieder auf in einem mitten
im Raum hängenden Leporello der Künstlerin und Soziologin. Es ist ein Art
Storyboard mit Bildern und Texten, in dem Maria Pichel Llaquet Geschichten
von in Berlin Angekommenen erzählt.
Sie hat dafür mit Menschen aus Südamerika, Portugal, der Türkei und anderen
Ländern geredet. Eine junge Frau hat erst hier das Flanieren durch die
Stadt für sich entdeckt, das sich so viel sicherer anfühlt als in ihrem
Herkunftsland. Aber sie vermisst die Gespräche mit alten Leuten, die für
sie früher zum Alltag gehörten. Die größere Distanz zu den Mitmenschen wird
beobachtet und macht zu schaffen. Aber auch Freiräume werden gefunden, für
größere individuelle Freiheiten.
Der Raum von Maria Pichel Llaquet ist einer von zehn in einer großzügig
geschnittenen Altbauwohnung in der Bülowstraße 90. Die zwölf
Künstler:innen, die dort jetzt unter dem Titel „Reflecting Migration“
zusammenkommen, konnten als Stipendiaten der [1][Stiftung Berliner Leben]
ein Jahr lang umsonst in Berlin wohnen und arbeiten. Das vorgeschlagene
Thema Migration gehen sie ästhetisch und thematisch vielfältig an;
zusammengenommen sind ihre Beiträge sehr lohnenswert.
Andreas Langfeld ist mit Interviews und Porträtfotografien der
Politisierung von Berliner:innen nachgegangen, die mit Erfahrungen von
Rassismus konfrontiert waren. Er dokumentiert in seinen Bildern auch, wie
und wo sich der Protest gegen den Rassismus, zum Beispiel nach dem
Terroranschlag in Hanau, im Stadtraum manifestiert hat. Er stellt
Aktivist:innen an Orten vor, die für ihre Geschichte von Bedeutung
waren. Und so legt sich über ein alltägliches Gesicht der Hauptstadt ein
Netz von vielen Verletzungen und Narben.
## Jeden Morgen, ein Schmerz
„Ich wache jeden Morgen mit dem Schmerz auf, dass ich nicht in meinem Land
bin“, erzählt zum Beispiel die ägyptische Journalistin Basma, die sich mit
ihrem Mann Karim, Anwalt für Menschenrechte, von Langfeld porträtieren
ließ, in einem Park in Berlin Lichtenberg.
Denise Lobont aus Rumänien beschäftigt sich in der Installation „Growing
Diaspora“ mit den Saisonarbeite:rinnen, oft aus Rumänien, auf den
brandenburgischen Spargelfeldern. In Erde, aufgehäuft wie über dem Gemüse,
liegen Fotografien, die vom Heimweh zeugen, vom Vermissen der Kinder.
Lobont hat die Motive aus den sozialen Netzwerken, aus den Posts der
Arbeiterinnen. Dem Spargel, der ans Licht drängt, rückt sie mit Cyanotypien
zu Leibe, Blaudruck, einer frühen Form der Fotografie, und stellt so
farblich eine Verbindung her zwischen dem Gemüse und den ans Licht
kommenden Sehnsüchten der Arbeiter:innen.
Im Raum von Linda Söderholm wird die neue Heimat buchstäblich
ausbuchstabiert. Der Tisch ist gedeckt, die Buchstaben Z U K U N F T liegen
auf einem Teller. Buchrücken im Regal bilden zusammen die Zeile „Ich bin
ein Berliner“. Es ist ein Spiel mit versuchten Aneignungen, die aber auch
das Bemühte und die Anstrengung erkennen lassen.
Tiefer in die Geschichte der Migrationen nach Berlin taucht Tomáš Kajánek
ein mit einem Film über Rixdorf, dessen dörflicher Kern noch heute von den
vor dem Katholizismus in Böhmen fliehenden Tschechen erzählt. Historisches
Filmmaterial aus den 1930ern bis 1960er Jahren kombiniert er mit einem
Voiceover aus historischen, noch älteren Quellen. Nur ein Teil des Textes
in tschechisch wird in deutsche Untertitel übersetzt, manchmal ist ein Satz
aus einem Märchen. So ist dieser Film die Rekonstruktion eines
Fremdheitsgefühls, der Abstand zu den alten Filmaufnahmen und die Lücken im
Textverständnis laden zum Staunen ein.
Die Arbeiten der Ausstellung zeugen von einer großen Zugewandtheit zu den
Protagonisten. Dieses Liebevolle, den Einzelnen ins Auge fassende, tut gut
beim Ausstellungsbesuch, auch wenn man dafür teils viele Texte lesen muss
oder hören kann in einem Wald aus Birken.
Dieses Freundliche zeichnet auch die Arbeit von Ecaterina Stefanescu aus.
Sie hat sich der rumänischen Community gewidmet, einzelne Menschen
aufgesucht, aber auch Treffpunkte wie Läden mit einem rumänischen Angebot.
Sie zeichnet die Räume und baut sie en miniature nach: Ein ganzer
Supermarkt mit winzigen rumänischen Spezialitäten. Das ist eine Ästhetik,
die in ihrer Puppenstubenhaftigkeit scheinbar mühelos die Emotionen auf den
Plan ruft, mit der man an das Land, das man verlassen hat, zurückdenkt.
1 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.stiftung-berliner-leben.de/
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Bildende Kunst
Ausstellung
Stipendium
Migration
Ausstellung
Irak
Schwerpunkt Rassismus
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