# taz.de -- Roman über Flucht: Scherze eines Gedächtnisses | |
> In seinem Roman „Der Erinnerungsfälscher“ spielt Autor Abbas Khider mit | |
> Wahrheit und Erzählung – und ebenso mit den Erwartungen des Lesenden. | |
Bild: Abbas Khider, 1973 in Bagdad geboren, floh 1996 aus dem Irak | |
Es kommt dann der Moment, in dem sich der Erzähler, der sich seiner | |
Erinnerung nie sicher sein kann, erinnert an den einen Satz, den ihm seine | |
Mutter mit auf den Weg gegeben hat, bevor er aufbrach in die Fremde. | |
Die Mutter, so erinnert es jedenfalls ihr Sohn, der sich, wie gesagt, | |
niemals sicher ist, ob das, was er da erinnert, tatsächlich so passiert | |
ist, und der auch gern noch einmal eine zweite oder gar dritte Version | |
derselben Begebenheit in seiner Erinnerung abgelegt hat, soll ihm, so diese | |
Erinnerung, seinen Rucksack gegeben haben, in dem alles war, was er aus | |
Bagdad mitnahm, und ihm dann ins Ohr geflüstert haben: „Komm nie wieder | |
zurück!“ | |
Said, so erzählt es [1][Abbas Khider] in „Der Erinnerungsfälscher“, hält | |
sich nicht an den Rat seiner Mutter. Wir schreiben das Jahr 2014, Said lebt | |
bereits Jahrzehnte in Deutschland, er hat eine Familie gegründet, seine | |
Karriere als Schriftsteller beginnt langsam Fahrt aufzunehmen, aber er | |
bekommt einen Anruf aus Bagdad. Die Mutter liegt im Sterben, und er | |
beschließt kurzentschlossen, den nächsten Flug nach Bagdad zu nehmen, um | |
sie noch einmal zu sehen. | |
Dies ist die Handlung von Khiders fünftem Roman, aber natürlich nur der | |
Rahmen. In Rückblenden erzählt Khider schlaglichtartig von Saids | |
schwieriger Flucht und dem in gewisser Weise noch schwierigeren Ankommen in | |
Deutschland für einen Geflüchteten. Dabei enthüllt der sprachlich an sich | |
eher schmucklose Text eine Erzählebene nach der anderen, hebt immer | |
wieder neue Bedeutungszusammenhänge und öffnet mehr und mehr Bezüge zu | |
aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen. | |
## Was ist Heimat? | |
Wie im Vorübergehen streift der Text wichtige Fragen, die die Gemüter | |
hierzulande erhitzen, allerspätestens seit dem sogenannten | |
Flüchtlingssommer des Jahres 2015, der im Roman noch eine vage Ahnung ist. | |
Fragen wie: Was ist Heimat? Khider gibt auf keine der Fragen, die sein | |
Roman aufgreift, eine letztgültige Antwort – wie sollte er auch. Aber er | |
ergänzt die Diskussionen – wie auch schon mit seinen bisherigen Romanen | |
– um eine weitere, eigentlich zentrale, aber allzu oft vernachlässigte | |
Perspektive und Erfahrungswelt, nämlich die der Geflüchteten selbst. | |
Der Begriff Heimat, lässt Khider seinen Helden denken, „machte ihn | |
regelrecht krank“. Nicht, weil er nicht weiß, wo seine Heimat ist, oder ob | |
ein Leben zwischen zwei Heimaten möglich ist, sondern ganz einfach, weil | |
der Diktator des Landes, das er einst aus Angst vor dem Schreckensregime | |
dieses Diktators verlassen hat, Hunderte Male im Rundfunk „Heilige Heimat!“ | |
rief. | |
Die eine Heimat hat Said nicht nur verlassen, sondern auch verloren, denn | |
er erkennt sie nicht wieder auf den wenigen Besuchen seit seiner Flucht. | |
Die neue Heimat aber macht es ihm schwer anzukommen, auch immer noch, als | |
er längst einen deutschen Pass, einen ehrenwerten deutschen Beruf als | |
Dichter, eine deutsche Ehefrau namens Monica und eine schöne typische | |
deutsche Kleinfamilie sein Eigen nennen darf. | |
Selbst als die Erinnerung immer mehr verblasst, er „die Fremde mitten in | |
Bagdad mächtiger als in fernen Ländern“ spürt und seine Familie dort für | |
ihn „nur eine Nachricht in der Tagesschau“ ist. Selbst als er beginnt, mit | |
Monica nur mehr seine deutschen Probleme zu teilen, und seine Vergangenheit | |
und seine Wurzeln in sich begräbt und verleugnet, als hätte er „eine | |
Affäre, von der keiner erfahren soll, eine mit sich selbst“. | |
## Zu anders für die weißen Gesetzeshüter | |
Aber selbst dann, das lässt ihn die neue Heimat spüren, kann er kein | |
Deutscher sein: In Brandenburg erwarten ihn „verdrossene Gesichter“, die | |
ihn ansehen, „als wäre er ein ekelerregender Pickel“. Aber auch in den | |
Großstädten ist „ein Mann mit arabischen Namen in einem deutschen | |
Reisepass“ immer noch oft „zu viel für die Wahrnehmungsorgane der weißen | |
Gesetzeshüter“. | |
Die Folge dieses Lebens, das eben kein Leben in zwei Welten sein kann, | |
sondern – im wahrsten Sinne des Wortes – eines im Leerraum zwischen diesen | |
beiden Heimaten bleiben muss, ist, dass „Said noch immer jemand ist, der | |
der Welt nicht traut“. Und der zuletzt auch seiner eigenen Erinnerung nicht | |
traut. | |
Er selbst diagnostiziert bei sich eine „schwere Gedächtnisstörung“, und e… | |
Arzt schickt ihn gleich zum Psychologen, denn „wenn ein Migrant mit etwas | |
kommt, das man in Deutschland nicht begreift, nennt man es Trauma. Was soll | |
man tun, wenn das ganze Leben ein einziges Trauma ist? Soll man das Leben | |
in ein „Behandlungszentrum für Folteropfer“ schicken?“ | |
Dieses Trauma der Flucht, der Migration, ist natürlich ein großes Thema, | |
aber Khider lässt keine Therapeuten, keine Sozialarbeiter, erst recht keine | |
Politiker zu Wort kommen, sondern bricht es herunter auf die Erfahrung | |
eines Betroffenen. Und der hat gute Gründe, sich nur mehr selektiv zu | |
erinnern, denn „es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie | |
können einen in Stücke reißen“. | |
## Eine wahre Geschichte, die nicht wahr ist | |
Mal umschifft Khiders Romanheld diese Orte, mal sucht er sie gezielt auf, | |
denn er schreibt Kurzgeschichten, schreibt selbst Romane, alles „Versuche, | |
eine einzig wahre Geschichte zu schreiben, nämlich seine, die niemals wahr | |
sein kann“. Dabei hilft ihm Patrick Süskinds Roman „Die Taube“, der auch | |
von einem Traumatisierten handelt. Das Buch geht ihm in verschiedenen | |
Ausgaben während seiner Flucht immer wieder verloren, aber kommt auch immer | |
wieder zurück – einmal in einem Gefängnis in Athen. | |
Aber ist das wahr? Was ist wahr? Was kann überhaupt wahr sein? „Er hofft, | |
dass alles so war“, sagt Khider über seinen Helden, der zweifellos | |
allerhand aus Khiders eigener Biografie, der auf seiner Flucht elf Mal | |
verhaftet wurde, erinnert oder schon vergessen hat. | |
Durch das Spiel mit den vielen Schichten der Erinnerung, die „Scherze | |
seines verspielten Gedächtnisses“, wird die Geschichte der Flucht zu einem | |
Märchen. So wird die bittere, menschenfeindliche Realität der Flucht | |
erträglich, ja nahezu weichgezeichnet – für den Geflüchteten selbst, aber | |
auch für den Lesenden. | |
Trotzdem – oder wohl gerade deshalb – entwickeln die einzelnen | |
Erinnerungssplitter eine extreme Wirkkraft, kleine Details brennen sich | |
ein, so wie die – vermeintliche oder tatsächliche – Erinnerung Saids an ein | |
Erlebnis in einem Bagdader Bus, den der Fahrer, der eben noch lauthals | |
romantische Liebeslieder mitsang, stoppt, um einen Morgenstern unter seinem | |
Sitz hervorzuholen und damit einen Wagen, der ihn geschnitten hat, zu Klump | |
zu hauen. | |
## Gruseliger als alle Zeiten davor | |
Aber selbst diese Erinnerung an das vollkommen gesetzlose Bagdad der | |
Warlords, an diese „fremde Welt, gruseliger als in der Zeit der Diktatur | |
und gruseliger als im Chaos der amerikanischen Soldaten“, nimmt trotz ihrer | |
Vehemenz und Brutalität einen märchenhaften Charakter an. | |
Aber, und das ist die große Kunst von Khider, „Der Erinnerungsfälscher“ | |
spielt nicht nur mit Wahrheit und Erzählung, Dichtung und Realität, sondern | |
ebenso geschickt mit den Erwartungen des Lesenden, der sich gerade denkt: | |
Eigentlich ist das doch ein Märchen. Selbst diese Assoziation nimmt Khider | |
in einer Art vorauseilender Klischeevermeidung vorweg, wenn er einen von | |
Saids Kommilitonen sagen lässt: „Ihr Orientalen seid alle Märchenerzähler!… | |
Wer aber kann sagen, ob dieser Satz jemals gefallen ist – in Saids | |
Romanleben, [2][in Abbas Khiders echtem Leben] oder sonst irgendwo auf dem | |
Weg von Tausenden zwischen Bagdad und Berlin? Aber sicherlich, natürlich | |
ist dieser Satz gefallen, mehr als einmal – und das ist die Wahrheit, | |
nichts als die Wahrheit. | |
2 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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