# taz.de -- Roman „Palast der Miserablen“: Etwas Besseres als Rinderpornos | |
> Ein großer Irak-Roman: Abbas Khiders schreibt über einen jungen Mann vom | |
> Lande, der zu Zeiten des Saddam-Regimes in Bagdad sein Glück sucht. | |
Bild: Abbas Khider: Chamisso-Preisträger, irakischer Flüchtling, schreibt auf… | |
Der Irak war überhaupt kein normales Land, sondern nur ein Flickenteppich | |
aus Problemen.“ Diese Erkenntnis keimt in Shams, der Hauptfigur in Abbas | |
Khiders neuem Roman „Palast der Miserablen“, als er Kontakt zu | |
Intellektuellen im Stadtzentrum Bagdads bekommt. Durch diese sollte der | |
junge Mann aus einfachen Verhältnissen eine Sprache der Einordnung finden, | |
für all das, was er im Irak der Saddam-Diktatur erlebt, erleben muss. | |
Dieser sogenannte Palast der Miserablen bezeichnet Shams’ Zugang zu einer | |
völlig neuen Welt. | |
Es ist ein konspirativer Boheme-Treff in einer der Altbauwohnungen in | |
Bagdads Innenstadt. In der Wohnung eines erblindeten Musikers und | |
Langzeitstudenten treffen sich zweiwöchentlich Lacanschüler, dissidente | |
Kritiker, Musiker, Malerinnen, Buchhändler und angehende Autorinnen. | |
Darunter neuerdings auch Shams. | |
Khiders Shams ist ein junger Mann aus den Slums von Bagdad, einer, der vom | |
Land in die Stadt kam und um die Jahrtausendwende sein Abitur machen wird. | |
Neben der Schule ist er vor allem mit Geldverdienen beschäftigt. Den | |
täglichen Lebensunterhalt bestreitet er als ambulanter Händler, | |
Lastenträger, Wasserverkäufer – auf dem Basar der Einäugigen, später als | |
Buchverkäufer in der Gasse der Antiquariate. | |
In seiner erwachenden Sexualität sucht der Schüler Shams nach etwas | |
Besserem als Rinderpornos – er und seine (männlichen) Mitschüler verfolgen | |
(mehr oder weniger heimlich) in den Schulpausen, wie der Zuchtbulle auf dem | |
Nachbargelände die Kühe besteigt. Shams benötigt aber vor allem einen | |
Ausweg für sein geschwisterliches Begehren. Er bewundert Qamer, seine etwas | |
ältere Schwester, und das in jeder Hinsicht etwas zu sehr. | |
## Erotik im Blechviertel | |
Nachdem ihm der Kauf einer Schlaghose glückt und er sich zudem eine flotte | |
Hahnenkamm-Frisur zulegen kann, ersteht Shams einen gebrauchten Erzählband | |
erotischer Geschichten von Alberto Moravia. Shams, der aus der mündlich | |
geprägten Kultur vom Lande kommt, macht nun die große Entdeckung der | |
literarischen Welt. | |
„Lesen und [1][Schreiben wurden zum Ventil,“ so Khider] über seine | |
jugendliche Hauptperson. „Palast der Miserablen“ ist auch ein | |
Entwicklungsroman über Herkunft und Klassenschranken hinweg. Shams | |
versucht, im städtischen Umfeld über Bildung sowie dank des Palast der | |
Miserablen die Kontrolle über sein Selbst zu erlangen. Ein Flüchtlingskind | |
aus dem Blechviertel der irakischen Hauptstadt. Dieser slumartigen | |
Ankunftsstadt der Binnenmigration, in den 1990ern rasant wachsend am Rande | |
des Neubaugebiets von Saddam City, zwischen Dämmen und Müllkippen. | |
Khider erzählt entlang der Geschichte von Shams und seiner Familie von der | |
Vorphase des Sturzes des irakischen Baath-Regimes 2003. Also vom Leben | |
während der Kriege, die Saddam in den 1980ern gegen Iran und ab 1990 wegen | |
Kuwait anzettelte. Von der Zeit, als 1991 der Volksaufstand im Südirak und | |
in Kurdistan gegen Saddams Baath-Regime losbrach und grausam | |
niedergeschlagen wurde. „Gegen Rache gib es kein Heilmittel und das halbe | |
Land will sich nun rächen“, lässt Khider den Vater von Shams seufzen. | |
Khider beschreibt im ersten Teil des Romans, wie die Bevölkerung, | |
desillusioniert von den vielen Lügen und Kriegen des Regimes, versucht, den | |
Tyrannen 1991 loszuwerden. Nach der Vertreibung der irakischen Truppen aus | |
Kuwait. Und wie Saddams Armee die Zivilbevölkerung im aufständischen | |
Südirak verheerender bombardiert, als dies die US-geführte Allianz während | |
des Krieges um Kuwait 1991 tat. | |
## Salzige Tränen | |
Saddams Patrouillen durchkämmen die Dörfer, sprengen die Türen zu den | |
Hütten auf, suchen Waffen, Flugblätter und potenzielle Oppositionelle. Die | |
erwachsenen Männer, darunter auch Shams’ eher unpolitischer Vater, stehen | |
allesamt unter Verdacht. Dissidenten wie der Grundschullehrer werden vor | |
den Augen der Dorfgemeinschaft liquidiert. Die anderen, wie Shams’ Vater, | |
werden auf den öffentlichen Plätzen gedemütigt. Sie müssen kniend unter | |
Schlägen und „salzigen Tränen“ das Porträt Saddams küssen. | |
Shams’ Familie flieht schließlich zu Verwandten in die Hauptstadt. Sie | |
nimmt sich dort wie andere Binnenflüchtlinge im „Blechviertel“ ein | |
Stückchen Land, um aus den Abfällen des wohlhabenden Teils der irakischen | |
Gesellschaft ihr neues Zuhause zu errichten. „Ich hatte es mir irgendwie | |
schlimmer vorgestellt“, lässt Khider Shams’ Vater kommentieren. Die Familie | |
ist zwar am Nullpunkt angelangt, doch ihr Überlebenswille und Optimismus | |
scheint ungebrochen. In den die Migrationen überdauernden | |
Stammesstrukturen, den verwandtschaftlichen Netzwerken der Solidarität, | |
gelingt es ihnen, sich im harten Leben in Bagdad neu zu organisieren, sich | |
in das soziale Leben der Hauptstadt zu integrieren. | |
Auch wenn sie „alle Abstufungen von Armut“ im Blechviertel beobachtet, | |
diese teils selber durchlebt, die Familie von Shams schlägt sich mit | |
„ehrlicher Arbeit“ durch. | |
Und: In dem Slum gibt es nach und nach alles, was es woanders auch gibt: | |
ein Teehaus, eine Moschee, Läden, Märkte. Errichtet auf Secondhandbasis, | |
aus Schrott und improvisiert. Aus Beton gegossen ist nur das | |
zweigeschossige Haus des lokalen Regimevertreters, des Abkassierers von | |
Saddams Baath-Partei. | |
## Banditen ohne Romantik | |
In Khiders Erzählung gleicht die alte staatliche Herrschaft einer | |
Mafia-Bande in Uniform. Der Staat selber steht diesem Banditentum vor und | |
lässt so keinerlei Raum in Richtung sozialer Ganoven-Romantik. Die | |
maskierten Männer des Regimes, angeführt von Saddams Sohn Udai, treten in | |
Khiders Erzählung immer wieder auf, um ihre Tantiemen einzutreiben. Säumige | |
oder renitente Iraker verlieren Finger, Ohren und andere Gliedmaßen. Und | |
manchmal gleich auch ihr Leben. Der Fußballplatz des Blechviertels ist | |
mitunter Schauplatz öffentlicher Foltertribunale. | |
Der „Palast der Miserablen“ erzählt von einer irakischen Familie und dem | |
Krieg im Krieg. Ein arabischer Despot wie Saddam führte Angriffskriege | |
gegen seine Nachbarn. Gegen den Iran (acht Jahre lang) oder gegen Kuwait. | |
Sein Handeln kostete Millionen Menschen das Leben. Aber vor allem führte | |
Saddams Regime gnadenlos Krieg gegen Teile der „eigenen“ Bevölkerung. | |
Gegen Kurden, Schiiten, gegen Arme, wirtschaftliche Konkurrenten und | |
politisch Andersdenkende. Khiders Roman erinnert an eine Herrschaft die | |
einem Besatzungsregime glich, an eine räuberische Ökonomie, die sich in | |
kompletter Willkür aneignet, was es anzueignen gab, im In- wie im Ausland. | |
Abbas Khiders Erzählperspektive ist folgerichtig, die eines Gefangenen. | |
Shams, „die kleine Leseratte aus Schrottstadt“, erzählt vom Palast der | |
Miserablen in Rückblicken und Einschüben aus seiner Haftzelle. Halb | |
verhungert, halb vergessen, halb tot. Von draußen dringen jedoch die | |
Detonationen herein, die den Sturz des irakischen Despoten im Jahr 2003 | |
ankündigen. | |
15 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=VZxH04UXRSg | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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