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# taz.de -- Lesen in Zeiten der Coronavirus-Krise: Die Unruhe der Bücher
> Aktuelle Information: +++ Die Leipziger Buchmesse 2020 findet nicht statt
> +++: Nachbericht zu einer abgesagten Buchmesse.
Bild: „Kein Eingang“ auf der Leipziger Buchmesse, die wegen des Coronavirus…
Manchmal hat der Zufall einen grausamen Humor. Dass ausgerechnet während
der ausgefallenen Buchmesse bestes Messewetter herrschte, hätte nicht auch
noch sein müssen. Schon so war zwischendurch immer wieder eine Art
Phantomschmerz zu verzeichnen.
Jetzt wäre die Eröffnung im Leipziger Gewandhaus gewesen, jetzt die
Verleihung der Buchpreise, jetzt die Tropen-Party, jetzt die
Pressekonferenz der südosteuropäischen Verlage, jetzt hättest du die
KollegInnen auf diesem oder jenem Empfang getroffen … Die ausgefallenen
Veranstaltungen verursachten in den vergangenen Tagen, während man im Büro
oder zu Hause auf dem Sofa all den immer drängender werdenden Corona-News
ausgeliefert war, irgendwann ein nervöses Kribbeln.
Statt einen Nachbericht über prall gefüllte Buchmessentage zu schreiben,
gilt es nun also über eine Leerstelle nachzudenken. Sie fehlte schon, die
diesjährige Leipziger Buchmesse. Und zwar keineswegs nur deswegen, weil
dieses Jahr der mit ihr verbundene übliche schöne Flow sozialer Kontakte –
genau das Gegenteil eines social distancing, den man jetzt pflegen soll –
nicht da war. Sondern auch deswegen, weil sich gerade zu dieser Messe viele
Akteure viel vorgenommen hatten; wenn nicht alles täuscht, hätte es Themen
zuhauf gegeben.
Klimawandel, Zukunft des Konservatismus, Gefahr von rechts, Identität Ost,
auf allen diesen sozusagen offiziösen Debattenfeldern lagen Aufschläge zur
weiteren differenzierten Meinungsbildung bereit; das alles wäre vielfältig
in Leipzig beredet worden. Interessant wäre aber auch zu verfolgen gewesen,
was rund um das Schlagwort „Frauen zählen“ passiert. Kommen die
Initiativen, die bei Buchpreisen, Buchverträgen und Literaturkritiken in
den Feuilletons auf ausgeglichene Geschlechteranteile beharren, weiter
durch oder siegen eingeführte Beharrungskräfte und gläserne Decken? Da ist
im deutschen Literaturbetrieb gerade jetzt eine Menge im Schwange.
Dann die Buchpreisträger. Wenn man einem Autor wie Lutz Seiler während der
Messetage in ganz unterschiedlichen Kontexten begegnet – Preisverleihung,
Lesung, Blaues Sofa, Stehempfang, zwischendurch auf dem Gang – und dabei
jeweils auch die Zuhörer in den Leipziger Messehallen beobachtet, hat man
die Chance, einen guten Eindruck davon zu bekommen, ob sein „Stern 111“
jetzt tatsächlich als der Roman des großen (und wieder versandeten)
gesellschaftlichen Aufbruchs nach 1989 gelesen werden wird oder nicht (ich
selbst bin mir in dieser Frage noch unsicher).
## Wie verhält es sich mit Ingo Schulze und Susanne Dagen?
Fast noch spannender die Frage, ob Ingo Schulze, der den Preis nun eben
nicht bekommen hat, bei den Diskussionen über seinen Roman „Die
rechtschaffenen Mörder“ auf sein Verhältnis zur bekannten rechtsdrehenden
Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen angesprochen wird (eine Figur, die in
dem Roman auffällig kunstvoll fehlt).
Dazu hätte man doch gern Anschauungsmaterial gehabt: Sucht das Publikum in
Leipzig eine kritische Auseinandersetzung mit den sächsischen Sonderwegen
bibliophiler Menschen, oder möchte es wirklich daran glauben, dass es eine
eigene ostdeutsche Identität gibt, die jetzt Widerstand leisten und ins
Exil gehen muss? („Exil“, so nennt die reale Susanne Dagen ihre
Schriftenreihe, in der kürzlich eine nach bisher einhelliger
Kritikermeinung sehr furchtbare Erzählung [1][Uwe Tellkamps] erschienen
ist.)
Bei der Bearbeitung solcher Themen ist es nicht schlecht, die Menschen zu
beobachten, die bei Messelesungen unentschlossen am Rand stehen. Sind sie
gelangweilt oder identifizieren sie sich? Solches Anschauungsmaterial
bietet in dieser Fülle dann eben doch nur eine Buchmesse.
Auf ganz andere Weise spannend auch die Preisträgerin im Sachbuch. Wie
mainstreamfähig ist inzwischen so ein ernsthafter emotionshistorischer
Ansatz wie der von Bettina Hitzer, die in ihrer Studie „Krebs fühlen“ die
Geschichte der Gefühle rund um diese Krankheit erforscht? Kommt die
Buchbranche bei solchen gesellschaftlichen Themen nun endlich über die
starren Festlegungen auf entweder sturer akademischer Dissertationsprosa
einerseits oder weichgespülter Ratgeberdramaturgie andererseits hinaus? Zu
wünschen wäre es. In Leipzig hätte man darüber reden können.
Und dann ist da noch das Thema, das den deutschsprachigen Literaturbetrieb
seit einiger Zeit im Hintergrund stark beschäftigt. Die Frage: Wer darf
sich in Deutschland eigentlich ernsthaft und im emphatischen Sinn
Schriftsteller*in nennen? Die Zeiten, in denen es dazu einen Genie- oder
Poet-maudit-Verdacht brauchte, sind noch nicht lange vorbei, wenn sie denn
überhaupt vorbei sind. Noch immer bekommen Literaturkritiker*innen feuchte
Augen, wenn sie Romanen eine „sinnliche Sprache“ attestieren dürfen.
## Autor:innen als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen
Gleichzeitig werden aber Autorinnen und Autoren als Repräsentanten
gesellschaftlicher Gruppen verstanden und gepusht, ihre Bücher unter
Anerkennungsgesichtpunkten und auf die Repräsentanz marginalisierter
Gruppen hin gelesen. Wie verhält sich das zu genuin literarischen
Qualitätskriterien? Und auf der anderen Seite: Wie divers ist der Betrieb
denn eigentlich inzwischen wirklich?
Nicht, dass diese solche Debatten in Leipzig abschließend beantwortet
worden wären, aber die Felder, die sich hier auftun, sind doch voller
möglicher Beobachtungen, gerade auch auf Buchmessen. Ich weiß noch, als auf
der Frankfurter Buchmesse beim Kritikerempfang von Suhrkamp die
Schlipsträger mit Doktortitel plötzlich in der Minderheit waren wurde mir
klar, dass in der Literaturkritik ein Generationswechsel eingesetzt hatte.
Womöglich hätte es in Leipzig bei Veranstaltungen um Christian Barons
Bericht über eine Alkoholikerkindheit „Ein Mann seiner Klasse“, bei Olivia
Wenzels Roman „1000 Serpentinen Angst“ über Ausgrenzung oder Abbas Khiders
Roman „Palast der Miserablen“ viel zu verstehen gegeben. Klar, auch ohne
Messe werden diese Bücher diskutiert, aber doch nicht mit solcher
Dringlichkeit und Dichte, wie es in Leipzig passiert wäre.
Dass man die Absage der Messe in diesen Zeiten der Ansteckung nicht nur
akzeptiert, sondern auch bejaht, muss ja gar nicht mehr besonders betont
werden. Aber was dadurch in diesem Frühjahr verloren wurde – und zwar
inhaltlich und über die reine Marketingpower so einer Messe hinaus –,
sollte man sich auch einmal klarmachen. Vielleicht sieht man in dieser
Situation, in der sie fehlt, überhaupt erst so richtig, was eine Buchmesse
leistet.
Es ist weit mehr, als Sichtbarkeit herzustellen für Themen, Autorinnen und
Bücher bis weit in die Gesamtgesellschaft hinein. Es geht auch um etwas
Prinzipielles: Die deutschen Buchmessen machen nämlich anschaulich
deutlich, dass es keineswegs ein Rückzug ist, wenn man liest.
## Als Leser:in mittendrin in den gesellschaftlichen Debatten
Vielmehr steht man als Leserin und Leser mittendrin in den
gesellschaftlichen Debatten und symbolischen Verschiebungen, die mit diesen
Debatten einhergehen. Diese Verschiebungen sind schwergewichtig, sie drehen
sich bis hin zur Frage, wer in unserer Gesellschaft den Ton angibt.
Gerade in Deutschland mit seinen Innerlichkeitsfantasien rund ums Lesen
sind solche Diskursmaschinen wie die Buchmessen eigentlich unverzichtbar,
denn sie arbeiten gegen die romantisierenden Klischees an, die in der
deutschen Buchbranche so gerne über das Lesen verbreitet werden.
Oder wie der Literaturwissenschaftler Sascha Michel diese Klischees in
seinem lesenswerten Essay „Die Unruhe der Bücher“ beschreibt: „Das Buch:
nicht nur ein Medium der Entschleunigung und Chance zum Abschalten, sondern
auch ein Heilmittel für die Seele.“ Bei Sascha Michel kann man sehen, was
an dieser Entschleunigungssicht so falsch ist. Auch die Bücher stehen
mittendrin in den gesellschaftlichen Verschiebungen und der Unruhe der
Welt. Genau das zeigen eben auch die Messen, und sie stellen es
gleichzeitig her.
An Initiativen, die Leerstelle zu füllen, die eine ausgefallene Buchmesse
hinterlässt, hat es in den vergangenen Tagen nicht gemangelt. In Leipzig
fanden alternative Lesungen statt, teilweise waren sie gut besucht. Unter
dem [2][Hashtag #virtuellebuchmesse] wurden in den sozialen Medien
Übertragungen, Streams, Hinweise auf Neuerscheinungen und
Verlagsmarketingmaßnahmen gebündelt.
Und der Radiosender Deutschlandfunk Kultur, der üblicherweise an Messetagen
das ganz große Programm auffährt, strengte sich sehr an, um den Ausfall zu
kompensieren. Er übernahm die Buchpreisverkündung, übertrug Debatten wie
die zwischen Marlene Streeruwitz, Berit Glanz und Katja Lewina über
weibliches Schreiben als Beschränkung, und in einer lustigen Sendung
simulierten Radio-Mitarbeiter das wilde „Loslabern“ (Rainald Goetz) auf
einer Buchmessenparty.
## Der Wille, der Unruhe der Bücher zu folgen
Die geradezu körperliche Präsenz annehmende Verdichtung öffentlichen
Sprechens, die von einer Buchmesse mit all ihren Lesungen und Diskussionen
ausstrahlt, stellte sich nicht ein. Wie auch? Aber immerhin zeugten diese
Versuche, die Debatten dann jedenfalls in anderen Medien und eben auch im
Internet fortzusetzen, von dem Willen, der Unruhe der Bücher zu folgen.
Was man in diesen Tagen des sozialen Shutdowns auch sehen kann: Die
richtige kulturelle Katastrophe würde eintreten, wenn nicht nur eine
abgesagt Buchmesse zu verkraften wäre, sondern zusätzlich noch
zusammengebrochene WLAN-Netze.
15 Mar 2020
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!3261167&s=Uwe+Tellkamp&SuchRahmen=Print/
[2] https://twitter.com/hashtag/virtuellebuchmesse
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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