# taz.de -- Romandebüt „Monster wie wir“: Die Vampire der Kindheit | |
> Ulrike Almut Sandig erzählt in ihrem fulminanten Romandebüt „Monster wie | |
> wir“ von der Allgegenwart der Gewalt. Eine Lektüre, die lange nachhallt. | |
Bild: Bislang veröffentlichte Ulrike Almut Sandig vor allem Lyrik und kurze Pr… | |
Der Vater ist Pfarrer. Ausgerechnet. Wenn es Probleme in der Familie gibt, | |
schlägt er zu. Die Frau bekommt Ohrfeigen, den beiden Kindern wird der | |
Hintern versohlt. „Wir sind wie jede gute Familie“, sagt Tochter und | |
Erzählerin Ruth so ernüchtert wie sarkastisch. Im Rückblick auf ihre | |
Kindheit schildert sie viele Szenen, die kaum auszuhalten sind, und was | |
schon auf den ersten Seiten dieses präzise komponierten Romans auffällt, | |
ist der einerseits poetische, dann aber auch gekonnt prosaische Tonfall, in | |
dem die Gewalterfahrungen beschrieben werden. | |
„Monster wie wir“ ist der erste Roman von Ulrike Almut Sandig, die bislang | |
vor allem Lyrik, aber auch kürzere Prosa veröffentlicht hat. Anders als der | |
seltsam holprig formulierte Klappentext suggeriert, handelt es sich | |
keineswegs um das Porträt einer Generation, sondern vielmehr um einen | |
Gesellschaftsroman, der die dunkelsten Seiten familiären Machtmissbrauchs | |
in sehr unterschiedlichen Generationen beschreibt. | |
Dabei ist die Geschichte weniger als Abrechnung mit den Tätern zu lesen; | |
der Text konzentriert sich vielmehr auf die Frage, wie in | |
autoritär-bürgerlichen Milieus mit körperlichen und verbalen Übergriffen | |
umgegangen wird und welche gravierenden Folgen die Tabuisierung der Gewalt | |
hat. Tatsächlich sprechen Sandigs Protagonisten, wie sie handeln, nämlich | |
rücksichtslos, unverschämt und böse: „Wenn man so dicke Beine hat wie du�… | |
sagt der Mann zur Frau, „sollte man eigentlich keine Minikleider tragen.“ | |
Als die Mauer gebaut wurde, war Pap, wie Ruth ihren aggressiven Vater | |
bewusst liebevoll nennt, mit einer Lederjacke in die Schule gekommen und | |
hatte wohl wie Bertolt Brecht ausgesehen, was die Direktion als „Abklatsch | |
einer bürgerlichen Boheme“ wertete, die „von unserer Gesellschaft | |
überwunden sei“. Wie Brecht durfte nur der echte Brecht aussehen. Weil der | |
Sechzehnjährige auch noch die „Autorität der freiheitlich sozialistischen | |
Presse“ anzweifelte, wurde er schließlich von der Schule geworfen. | |
## Die Allgegenwart der Gewalt | |
Es gehört zum Wesen der strukturellen Gewalt, die von einem diktatorischen | |
Staat ausgeht, dass sie auch die Handlungsweisen im Privaten bestimmt, und | |
dennoch versucht Ruth, die väterlichen Prügelstrafen nicht mit dessen | |
Vergangenheit zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Die Erzählerin | |
verweist mit diesen Exkursen vielmehr auf die Allgegenwart der Gewalt, die | |
sich nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen die Natur richtet. Wo | |
Ruth aufwuchs, verschlingt nun der Braunkohletagebau jene Dörfer, die beim | |
Besuch durchaus heimatliche Gefühle wecken, die aber vor allem Orte des | |
Grauens sind. | |
In zunächst nur kleinen Andeutungen nähert sich die mittlerweile erwachsene | |
Heldin dem Horror, der sich im Elternhaus abspielte und von dem wohl nicht | |
einmal die Eltern etwas wussten. Schließlich wird Ruth sehr deutlich und | |
berichtet von ihrem Großvater, der sie am Abend vor dem Zubettgehen | |
aufsuchte: „Den Blick aufs Fenster gerichtet, steckte er die Hand unter | |
meinen Pyjama und begann mich zu streicheln.“ | |
Der Opa verging sich an dem Mädchen mit „kerzengeradem Rücken“, während | |
sich draußen vor der Tür eine Bahnschranke senkte und es laut bimmelte. | |
Güterzüge donnerten am Pfarrhaus vorbei, als der Opa stöhnte. Kaum hatte er | |
sich Befriedigung verschafft, „ging er wortlos aus dem Raum“. Und die | |
Bahnschranke gab den Weg wieder frei. | |
Es ist eine surreale Stimmung, in der von dem Missbrauch erzählt wird, | |
wobei gerade das Unwirkliche dem Kind wohl die Chance bot, sich dem | |
ekelhaften Tun zumindest ein wenig zu entziehen. Diese bildstark gefassten | |
Passagen erinnern an die Formensprache des Filmemachers Ingmar Bergman, | |
der etwa in seinem grandiosen Familienepos „Fanny und Alexander“ die | |
Momente der Gewalt ebenfalls in ein grotesk-opulentes Setting setzte. | |
## Flucht in die kindliche Fantasie | |
Fast beiläufig behauptet die kleine Ruth, der Großvater sei ein Vampir, | |
aber statt nachzufragen, wundert sich die Mutter nur über die kindliche | |
Fantasie, kümmert sich aber nicht weiter um die Angst der Tochter vor den | |
Blutsaugern. Vielleicht ist sie auch zu sehr mit dem eigenen Leid | |
beschäftigt. | |
Zu den literarischen Stärken dieses Romans gehört, dass die Themen auf | |
vielen Ebenen durchgearbeitet werden und die zentralen Metaphern immer | |
wieder an den richtigen Stellen auftauchen, dass die musikalischen | |
Leitmotive unangestrengt in die Erzählung eingeflochten sind, dass die | |
Gewalt, unter der alle Figuren zu leiden haben, auf immer neue und dann | |
wieder erschreckend ähnliche Weise die Lebensläufe prägt. | |
Auch Ruths Freund Viktor wird missbraucht. In diesem Fall vom Schwager, der | |
nur darauf wartet, dass sich die Erziehungsberechtigen für ein langes | |
Wochenende zu zweit verabschieden und er das Kind ungestört vergewaltigen | |
kann. Die Reaktion der Kinder auf das Verhalten der Erwachsenen ist sehr | |
unterschiedlich: Während Ruth sich ins Geigenspiel flüchtet, baut Viktor | |
Muskeln auf. Er will stärker werden als alle anderen, möchte das Böse | |
besiegen, indem er selbst als Bösewicht auftritt. So schließt er sich einer | |
Nazigruppe an, die im linken Jugendtreff alles kurz und klein schlägt. | |
Als er in dem verhassten „Zeckenclub“ auch die verehrte Ruth sieht, dreht | |
er völlig durch. Sein so mühsam errichtetes Welt- und Selbstbild, das auf | |
Hass gebaut ist, beginnt er selbst zu hassen. Viktor flieht vor der Familie | |
und seinen falschen Freunden nach Frankreich, um dort als Au-pair in einer | |
vermögenden Familie zu arbeiten. | |
## Ein Verlierer, der dennoch nicht aufgibt | |
Als „ostdeutscher Hüne in Springerstiefeln“ wird er zunächst ausgegrenzt, | |
aber schon bald findet er Zugang und Vertrauen in der Gastfamilie, die | |
allerdings auch nicht viel besser ist als das, was er zurückgelassen hat. | |
Wieder wird Viktor mit sexueller Gewalt konfrontiert, die verschwiegen | |
werden soll. | |
Viktor ist ein Verlierer, der dennoch nicht aufgibt. Verrückterweise wird | |
sich Ruth viele Jahre später auf einen Mann aus Finnland einlassen, der | |
auch den Sieg im Namen trägt und ebenfalls ein Gewaltverlierer ist. | |
„Monster wie wir“, sagt Voittoo, um sich und seine Ausraster zu erklären. | |
Ruth aber möchte nicht länger ein Monster sein, sie will die Vampire der | |
Kindheit verjagen, die Taten benennen, dem Tabu die Kraft nehmen und damit | |
den Gewaltkreislauf durchbrechen. | |
Deshalb schickt sie ihre Lebensgeschichte in Form von Videobotschaften an | |
den ehemaligen Geliebten, mit dem sie einmal verspätet auf einer | |
Geburtstagsfeier auftauchte, weil er sie grün und blau geprügelt hatte. | |
„Wegen der geschwollenen Augen trug ich eine Sonnenbrille und wegen der | |
Abdrücke ein Tuch um den Hals.“ Dem Gastgeber aber erklärte Voittoo die | |
Verletzungen mit einem Augenzwinkern: „Das Hotelbett brach durch.“ | |
Ulrike Almut Sandig hat einen Roman vorgelegt, der schlimmsten Erlebnissen | |
immer auch eine bittere Pointe abzuringen vermag und damit dem absolut | |
Unangemessenen eine angemessene Sprache entgegenhält. „Monster wie wir“ | |
bietet eine Lektüre, die erschüttert und lange nachhallt, nicht zuletzt | |
durch die klug gewählte Erzählperspektive und ein ästhetisches | |
Fingerspitzengefühl, das sich die Autorin sicherlich auch durch die | |
[1][langjährige Arbeit als Lyrikerin] erworben hat. Die Dichterin hat viel | |
zu erzählen, und sie kann es auch – wie ihr fulminantes Romandebüt zeigt. | |
30 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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