# taz.de -- Grenzen des menschlichen Körpers: Völlig losgelöst | |
> Im Buch „Am Tag zu heiß und nachts zu hell“ erklärt Weltraummediziner | |
> Hanns-Christian Gunga, was unser Körper aushält. Und was nicht. | |
Bild: Quasi schwerelos: die Test-Kosmonautin Jelena Serowa in Moskau | |
Der Mensch ist ja auch bloß ein Tier, denkt aber immer, er könnte doch | |
irgendwie raus aus der Nummer. Während alle anderen Tiere, solange sie die | |
Wahl haben, in ihrem natürlichen Habitat bleiben, setzen wir unseren | |
Organismus ständig Belastungen aus, für die er nicht wirklich geeignet ist. | |
Manche tauchen Hunderte Meter tief ins Meer, manche klettern auf die | |
allerhöchsten Gipfel. | |
Andere Belastungen, wie extreme Hitze zum Beispiel, müssen wir immer öfter | |
aushalten, ob wir wollen oder nicht. Und es waren sogar schon über 650 | |
Menschen im Weltall, einer davon – der Russe Waleri Poljakow – ganze 437 | |
Tage am Stück. Dabei ist unser Körper auf ein Leben im Einflussbereich der | |
Erdschwerkraft ausgerichtet. Aber vielleicht könnten wir alle irgendwo im | |
Weltraum leben, sobald wir die Erde endgültig unter uns abgebrannt haben? | |
Hanns-Christian Gunga, Professor an der Charité Berlin, ist spezialisiert | |
auf die Erforschung des menschlichen Körpers unter Extrembedingungen und | |
hat sich besonders intensiv mit der körperlichen Befindlichkeit von | |
AstronautInnen befasst. In sechs nach Themen organisierten Kapiteln | |
beschreibt er, welchen evolutionär geformten Bedingungen der menschliche | |
Organismus unterliegt und welche Extrembedingungen er im Notfall | |
auszuhalten imstande ist. | |
Das erste Kapitel, „Temperatur“, nimmt auf die Hitzewellen der jüngeren | |
Zeit Bezug und erläutert ausführlich, was in der Unterzeile des Buchtitels | |
thematisiert wird („Was unser Körper kann – und warum er heute überfordert | |
ist“). Das ist durchaus lehrreich, denn so im Einzelnen hat man als | |
Nichtmedizinerin ja eher vage Vorstellungen davon, was genau es für den | |
Kreislauf bedeutet, den Körper unter allen Umständen auf einer Temperatur | |
von 37 Grad zu halten. | |
## „Trinken, trinken, trinken“ | |
Gunga vermeidet jeglichen Doktorsprech, verkauft seine laienhaften | |
LeserInnen aber auch nicht für zu dumm. Er schreibt gut formuliert und | |
prägnant. Dass er auf der Ratgeberseite auch keine bessere Strategie gegen | |
das Hitzeproblem zu bieten hat als jede beliebige Publikumszeitschrift – | |
nämlich: „Trinken, trinken, trinken“ – ist nicht seine Schuld und liegt | |
eben an der Natur der Sache. | |
Genau dieser Befund betrifft allerdings einen großen Teil des Buches. Wer | |
ab und zu die Wissenschaftsseiten in den Zeitungen scannt und damals im | |
Biologieunterricht nicht nur geschlafen hat, kann sich über ein gut | |
geschriebenes Update freuen, erfährt aber nicht so viel bahnbrechend Neues. | |
Ja, man verdurstet, wenn man nichts zu trinken hat, und ja, man kann | |
ziemlich lange hungern, ohne zu sterben. Wenn man nach der Lektüre nun | |
genauer weiß, was die Organe dabei machen, hat man auch nicht so viel | |
davon. Allein das letzte Kapitel, „Schwerkraft“, in dem Gunga auf eigene | |
Forschungen Bezug nimmt, führt über den Rahmen der erweiterten | |
Allgemeinbildung hinaus und gewinnt auch dadurch an Farbe, dass der Autor | |
persönliche Erfahrungen – etwa die Teilnahme an einem Parabelflug zu | |
Forschungszwecken – einbeziehen kann. | |
## Übelkeit im All | |
Interessant für HobbygärtnerInnen: Wer Engelstrompete im Garten hat, kann | |
daraus, pharmazeutisches Geschick vorausgesetzt, einen Extrakt gewinnen, | |
der gegen Übelkeit bei Parabelflügen und auch gegen Reiseübelkeit unter | |
weniger dramatischen Umständen hilft. Gegen das Unwohlsein bei längeren | |
Aufenthalten im All allerdings scheint noch kein irdisches Kraut gewachsen | |
zu sein; denn in der andauernden Schwerelosigkeit ist mehr als der Hälfte | |
der AstronautInnen während der ersten Woche permanent schlecht, wie Gunga | |
berichtet – und das, obwohl ja alle Weltraumreisenden zuvor sorgfältig auch | |
nach ihrer körperlichen Eignung ausgewählt wurden. | |
Aber auch nach erfolgreicher Akklimatisierung an die außerirdischen | |
Bedingungen sind physische Beeinträchtigungen und Veränderungen nicht zu | |
verhindern. Obgleich alle AstronautInnen zum Beispiel zwei Stunden täglich | |
trainieren, nimmt die Muskelmasse in der Schwerelosigkeit ab. | |
Im Übrigen verlagern sich die Körperflüssigkeiten von unten nach oben; | |
deshalb haben Menschen im All dünne Beine und runde, faltenfreie Gesichter. | |
Hirn- und Lungenödeme können die Folge sein. Auch die Knochenmasse nimmt ab | |
– und sich kann auch nicht, anders als die Muskeln, nach der Rückkehr zur | |
Erde wieder zurückgewonnen werden. | |
Den Aufenthalt auf unserem verwüsteten Planeten dauerhaft gegen das | |
schwerelose Dasein auf Hightechraumschiffen einzutauschen (wie etwa in dem | |
Film „Wall·E“ schon mal imaginiert) dürfte für unsere NachfahrInnen also | |
keine wirklich wünschenswerte Option sein. Gunga verzichtet am Ende seines | |
sachlichen Erklärbuches auf ein Fazit, aber das ergänzt sich implizit ganz | |
von selbst: Wir sollten besser dafür sorgen, dass es nicht noch heißer | |
wird. | |
21 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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