| # taz.de -- Migrantisches Leben: Stilles Beben im Wedding | |
| > „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ heißt der Debütroman von Nadire Bisk… | |
| > Er nimmt sich des transnationalen Dazwischen an. | |
| Bild: „Okraschoten und Sesampaste, die ihre Mutter im türkischen Supermarkt … | |
| Der Penny-Markt ist für Huzur, die Hauptperson in Nadire Biskins Debütroman | |
| „Ein Spiegel für mein Gegenüber“, ein Sehnsuchts- und Schreckensort. Als | |
| Kind liebte sie die Produkte dort; Okraschoten und Sesampaste hingegen, die | |
| Zutaten, die ihre Mutter im türkischen Supermarkt kaufte, fand sie | |
| „peinlich und langweilig“. Es war aber auch die Penny-Kasse, an der Huzur | |
| zum ersten Mal bewusst den Graben überblickte, der die blonden Kundinnen | |
| von ihrer Mutter trennt. Die nämlich bekommt nie ein „Guten Tag“ von der | |
| Kassiererin. | |
| Die Berlinerin Nadire Biskin, geboren 1987, hat einen Roman über eine junge | |
| Frau geschrieben, die über sich selbst sagt: „Ich bin die, die nicht von | |
| hier und nicht von dort ist.“ Ebendieses Gefühl, das transnationale | |
| Dazwischen, hat Biskin schon in Artikeln, Essays, Lyrik- und Prosatexten | |
| erforscht. | |
| Mit ihrer Protagonistin hat die Autorin aber noch mehr gemein: Wie Huzur | |
| ist auch Nadire Biskin Lehrerin. Auch sie ist geboren und aufgewachsen in | |
| Wedding, dem rauen, spannenden, migrantisch geprägten Nordende des Bezirks | |
| Berlin-Mitte. Huzur ist türkeistämmige Deutsche in dritter Generation; die | |
| Stadt Bucak, in dem die erste Hälfte des Romans spielt, kennt sie vor allem | |
| von Verwandtenbesuchen. | |
| Biskin entwirft das Porträt einer Frau, die vor allem so „zerrissen“ | |
| zwischen der Türkei, ihrem Weddinger Kosmos und dem Rest Deutschlands ist, | |
| wie es das Klischee will, weil sie zerrissen wird, fremd gemacht überall: | |
| mal von überheblichen Kommilitoninnen, mal von den Freunden ihres Partners | |
| Raphael, die zur Alufolie gedankenlos „Alifolie“ sagen – damit gleich klar | |
| ist, welches Alltagsinventar sie so mit einem Ali verbinden. | |
| ## Ablehnung tief verinnerlicht | |
| Irgendwann hat Huzur die Ablehnung der anderen so tief verinnerlicht, dass | |
| sie eine ältere türkische Frau, die sie am Flughafen um Begleitung bittet, | |
| kühl wie eine Sachbearbeiterin behandelt. In der Nachbarschaft von Huzurs | |
| Verwandten in Bucak wiederum ist es eine syrische Familie mit | |
| [1][Fluchtgeschichte], der Misstrauen entgegenschlägt. | |
| Trotz gewichtiger Themen scheint der schmale Roman zunächst so wenig | |
| Aufhebens um sich machen zu wollen wie seine Protagonistin. Biskin ist eine | |
| ruhige, genaue und sehr gute Erzählerin, die immer dann am stärksten ist, | |
| wenn sie Fäden nur lose verknüpft. | |
| In der Türkei verschwindet Zaynab, die kleine Tochter der syrischen | |
| Familie, während in Berlin wenig später die etwa gleichaltrige Hiba – eine | |
| unbegleitete Geflüchtete – plötzlich in Huzurs Leben auftaucht. Ob es sich | |
| um Zaynab handelt, die ihren Namen auf der Flucht ablegen musste, oder ob | |
| es zwei Mädchen sind, die ihr Schicksal mit Tausenden jungen Frauen auf der | |
| Flucht teilen, bleibt unklar. | |
| Fest steht nur, dass die Begegnung mit Hiba so vieles in Huzur auslöst, | |
| dass sie das Mädchen in Obhut nimmt. Wenn Huzur durch den Wedding streift, | |
| denkt man oft an Shida Bazyars „Drei Kameradinnen“, die in einer Stadt wie | |
| Berlin aufwachsen. | |
| ## Provokation durch Kopftuch tragen | |
| Aber während diese Coming-of-identity-Geschichte dreier women of colour mit | |
| einem lauten Knall beginnt, mit einem Brandanschlag, den eine der | |
| Kameradinnen mutmaßlich zu verantworten hat, und auch sonst fordernd | |
| hitzig, manchmal auch sehr didaktisch erzählt ist, knallt es in Biskins | |
| Abgesang auf den [2][German dream] leiser: Zu Beginn der Handlung ist Huzur | |
| im Zwangsurlaub vom Referendariat, weil sie eine Kollegin, die sie im | |
| Lehrerzimmer als vorbildliche, Hidschab-freie Migrantin lobte, durch das | |
| Tragen eines Kopftuchs provozierte. Enden wird der Roman nicht mit einem | |
| Peng – eher mit einem Beben, einer tektonischen Verschiebung. | |
| Biskins Ton wäre mit „wütend“ nicht richtig beschrieben. Trotzdem lässt … | |
| einen verstehen, wie in vielen jungen Menschen mit Migrationserbe langsam | |
| ein Gefühl der Unversöhnlichkeit wachsen konnte. | |
| Weil Huzur es nie richtig machen konnte, kann es ihr auch Deutschland nicht | |
| mehr recht machen. Sie verachtet das Designerküchenleben von Raphaels | |
| Familie, will aber auch nicht, dass sich der Mann aus feinem Hause für | |
| seine Stippvisiten in ihrem Milieu kostümiert. Als er sich extra eine | |
| Jogginghose anzieht, um mit ihr in den türkischen Supermarkt Bolu zu gehen, | |
| findet sie das beleidigend. Der Ort, an dem es Sesampaste und Okraschoten | |
| gibt, ist nun nicht mehr peinlich, sondern schützenswert. Vor allem nämlich | |
| ist es ihr Ort, irgendwie. | |
| 17 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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