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# taz.de -- Reisen als Privileg: Sommerlöcher im Herzen
> Flugscham, Corona und Inflation trüben für viele den Sommerurlaub. Für
> unsere Autorin aber war das Reisen noch nie unbeschwert.
Bild: Zurück auf Balkonien: die Autorin Nadire Biskin nach ihrem Türkei-Urlau…
Es ist ein warmer Tag im Juli. Ich liege auf einer luxuriösen Sonnenliege
am Strand von Antalya und habe drei Tage nichts anderes zu tun, als lesen,
nachdenken und Musik hören. Darauf habe ich mich schon lange gefreut. Wenn
ich ehrlich bin, seit meiner Kindheit. Denn während viele Menschen vor der
Verschärfung der [1][Klimakrise], vor [2][Corona] und [3][Inflation]
fröhlich durch die Gegend gejettet sind, hat es bei mir Jahrzehnte
gedauert, bis das auch nur annähernd möglich war. Auch Miesmuscheln
probiere ich diesen Sommer zum ersten Mal, obwohl sie in der Region, die
ich schon unzählige Male besucht habe, eine Delikatesse sind – aber von
vorn.
Ich bin 35 Jahre alt [4][und in Berlin-Wedding aufgewachsen]. Anders als
viele Familien aus der Mittelschicht schafften wir es damals in den 1990er
Jahren nur jedes zweite Jahr in den Urlaub. Meine Mutter arbeitete als
Reinigungskraft, außerdem bekamen meine Eltern eine Aufstockung vom
Jobcenter. Jedes Jahr mussten wir bangen, dass der Sachbearbeiter, bei dem
meine Eltern ihre „Ortsabwesenheit“ anmelden mussten, gnädig ist und uns
seinen Segen gibt. Noch entscheidender aber war unsere finanzielle
Situation. So gab es auch Zeiten, in denen wir vier Jahre lang nicht
wegflogen. Und wenn doch, dann immer mit dem selben Ziel: die türkische
Provinz, wo ein Teil meiner Familie lebt.
Für meinen Vater, Sohn eines türkischen Gastarbeiters, war es lange kein
Problem, wenn wir nicht in den Urlaub fuhren, denn seine Eltern lebten bis
zu ihrer Pensionierung mit uns in einem Haus. Erst dann zogen sie in die
Türkei, nach Bucak, eine Stadt etwa 85 Kilometer von Antalya entfernt.
Meine Mutter aber kam 1981 als sogenannte Importbraut nach Deutschland und
zog nach der Eheschließung zu meinem Vater und seiner Familie. Ihre eigene
Familie blieb in dem kleinen Dorf, aus dem sie kam, in der Nähe der Stadt
Bucak. Somit konnte meine Mutter ihre Eltern nur im Sommer sehen – und eine
Reise in die Türkei diente nicht nur der Erholung, sondern war eine Reise
zu Mutters Schoß, zu Vaters Schultern.
## Sprache verbindet, Sprache trennt
Als Kind hoffte ich immer, dass unser Reiserhythmus mit dem von möglichst
vielen meiner Freund*innen übereinstimmte. Sonst fühlte ich mich im
Sommer ziemlich allein, so wie die anderen, die zu Hause bleiben mussten,
weil sie keine Pässe mehr hatten oder Aufenthaltstitel besaßen, die das
Reisen nicht erlaubten. Und obendrein waren da die Zahlen in Rot auf den
elterlichen Konten. Unsere Straße, unser Kiez war dann immer so ruhig wie
über Weihnachten, wenn alle Zugezogenen aus Berlin verschwinden und zu
ihren Eltern fahren.
Gab die Deutschlehrerin uns am ersten Schultag nach den großen Ferien die
Aufgabe, einen Aufsatz über unsere Erlebnisse zu schreiben, fiel der im
Deutschlandjahr ziemlich monoton aus. Unsere Tage sahen dann in etwa so
aus: Mein Bruder und ich fuhren abwechselnd mit dem einen Fahrrad, das wir
besaßen, bis zur nächsten Straßenecke und wieder zurück, immer hin und her.
Oder wir saßen stundenlang vor dem Fernseher. Ab und zu spielten wir auf
dem Hof mit zwei anderen Kindern Fußball, während uns rauchende Nachbarn
vom Fenster aus zuschauten. Manchmal half ich Mutter. Ich rollte mit ihr
Weinblätter.
Doch wenn ich ehrlich bin, waren die Reisesommer in der türkischen Provinz
nicht viel besser. Keiner der Verwandten hatte Zeit für uns, sie arbeiteten
alle auf den Feldern, sei es hauptberuflich oder als Studierende, die den
Eltern in der vorlesungsfreien Zeit halfen. Mutter musste mit ihrer
Schwiegermutter Tomatenmark herstellen, Vater bei seinen Schwägern mit
seinen Marlboro-Zigaretten aus Deutschland angeben, und wir plagten uns
gelangweilt mit Sonnenstichen herum. Der Familienbesuch war körperlich
genauso überfordernd wie emotional und kognitiv.
Neben der Langeweile strengte mich noch etwas anderes an. Wir wohnten meist
in Bucak, einer kleinen Stadt, und ich war ein Großstadtkind. Jede
Verkäuferin, jeder auf dem Markt und jeder im Geschäft – und wenn Mücken
und Kühe hätten sprechen können, dann vermutlich auch sie – fragten, wo ich
herkomme. Das war kein Rassismus. Ich galt dort einfach als privilegiert,
weil ich aus Deutschland kam und Türkin bin und weder einer religiösen noch
ethnischen Minderheit angehörte. Ich reagierte auf die Frage mit einer
rhetorischen Pause, blickte meinem Gegenüber in die Augen und sagte, ich
bin almancı, Deutschländerin. Noch heute antworte ich so. Als Kind und
Jugendliche aber lag ich nachts oft wach und diese „othernden“ Gespräche
mit Türkeitürken, in denen meine Herkunft aus Deutschland mit meinem Wesen,
meinen Eigenarten verbunden wurde, spielten sich wieder und wieder vor
meinem inneren Auge ab.
Mir wurde damals klar, wie mächtig die Zunge eines Menschen ist. Die Zunge
und Sprache, beides auf Türkisch dil, trennten meinen Bruder und mich von
den anderen. Zu Hause in Berlin-Wedding sprachen wir wie die meisten
deukisch, also ein hybrides Deutsch-Türkisch. In Bucak aber, wo meine
Deutschländer-Großeltern in den Neunzigern hingezogen waren, und im Dorf
meiner Großeltern mütterlicherseits, verstand man uns oft nicht. Dort
sprachen die Menschen nur Türkisch.
Nur eine Autostunde entfernt wiederum, in Antalya, wo am Strand
Miesmuscheln verkauft wurden, wohin die Deutschländer aus allen Regionen
der Türkei und Deutschlands kamen und neben deutschen, polnischen und
russischen Tourist*innen ihren Urlaub verbrachten, da sprach man neben
Türkisch mindestens auch Deutsch. Mit jenen Tourist*innen saßen wir im
Flugzeug, mit ihnen standen wir in der Schlange für die Passkontrolle,
warteten auf unsere Koffer am Gepäckband – dann trennten sich unsere Wege.
Sie wurden vom exklusiven Abholservice in ihre all-inclusive
Fünfsterneresorts gebracht, während wir von meinem Großvater empfangen
wurden, der mit Tränen in den Augen und zitternden Beinen am Ausgang auf
uns wartete und uns an einen Ort brachte, wo es kaum gepflasterte Wege gab
und wir nicht einmal Rad fahren konnten. Jene Momente meiner Kindheit
lehrten mich die Banalität von in Kilometern gemessener Entfernung. Die
Distanz, die ich zu den anderen Reisenden empfand, ließ sich in dieser
Maßeinheit nicht ausdrücken, ich empfand sie damals als unüberbrückbar.
Selbstverständlich äußerte ich als pubertierende und fordernde Jugendliche
irgendwann selbst den Wunsch, in einem Hotel an der türkischen Riviera zu
übernachten. Der Strand war mein Sehnsuchtsort, wo Menschen sahen und
gesehen wurden, wo die Stars aus dem türkischen Fernsehen Urlaub machten
und Menschen schwarze Meeresfrüchte aßen, die, wie ich viele Jahre später
erfuhr, Miesmuscheln oder auf Türkisch midye heißen. Doch meine Eltern
konnten mir diesen Wunsch nie erfüllen. Mutter sagte, wir haben keine Zeit,
wir müssen zur Familie. Außerdem hätten uns all die Mitbringsel aus
Deutschland – Kaffee, Cremes und Co für die Familie und Nachbarn, die
weniger haben als wir – neben den überteuerten Flugtickets sowieso schon zu
viel gekostet. Ich war sauer und damals nicht empathisch genug, um meine
Eltern zu verstehen. Heute, als Erwachsene, verstehe ich ihre
Zerrissenheit.
## Die feinen Unterschiede
Mit Anfang zwanzig bekommt das Thema Reisen für mich eine andere Bedeutung.
Meine größte Reise bestand damals zwischen Wedding, wo ich geboren war,
aufwuchs und dank Gentrifizierung weiter leben musste, und Berlin-Mitte, wo
ich an der Humboldt-Universität Philosophie und Spanisch auf Lehramt
studierte und arbeitete. Jedes Mal, wenn ich von der Müllerstraße auf die
Chausseestraße wechsele und damit den einen Bezirk verlasse und den anderen
betrete, stelle ich mir vor, ich sei eine Mexikanerin, die täglich in ihrer
mexikanische Grenzstadt die Grenze zu den USA überschreitet, um dort für
ein besseres Gehalt bei McDonald’s zu arbeiten.
Auch viele meiner weißen Kommiliton*innen aus der oberen Mittelschicht
haben sich auf die Reise gemacht, doch unsere Reisen sind Lichtjahre
voneinander entfernt. Während sie oft aus der Beengtheit der westdeutschen
Provinz in die Großstadt Berlin geflohen sind, lege ich einen mühsamen
Aufstieg von der Arbeiterklasse in die akademischen Kreise zurück,
inklusive Bafög-Schulden und Dispo. Von den meisten meiner Mitstudierenden
fühle ich mich damals so weit entfernt wie von den
Miesmuschel-Tourist*innen in Antalya. Es ist die Zeit, in der ich
Miesmuscheln mit dem alkoholischen Getränk rakı verbinde, mit Livemusik,
dem Geräusch von fallenden Würfeln auf Backgammonbrettern, mit dolce vita.
Miesmuscheln rangierten für mich in derselben Gruppe wie Austern und Kaviar
– weit weg von mir und meiner Familie. Wir waren diejenigen, die hart
arbeiteten, wir sorgten uns um unsere Gesundheit und ums Geld. Die
schwarzen Meeresfrüchte aber aßen Homo-ludens-Leute, nicht Bauern wie wir.
Diese Weltenreise zwischen Berlin-Wedding und Berlin-Mitte lehrt mich im
Laufe meines Studiums abermals, dass Distanz nicht das gleiche ist wie
geografische Entfernung. In der Mensa und nach den Seminaren werden
Elfenbeinturmdebatten geführt oder sich über die „Was guckst
du“-Berliner*innen aus den sogenannten Brennpunktstadtteilen wie dem
Wedding lustig gemacht. Selbstverständlich niemals so offensichtlich, dass
man es als direkte Beleidigung hätte verstehen können. Keiner macht sich
angreifbar, keiner fühlt sich angreifbar. Außer mir.
Eine Debatte macht mir in dieser Zeit besonders zu schaffen: Es geht um die
Frage, ob Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern frühzeitig in den
Urlaub fliegen dürfen sollten, weil die Tickets dann günstiger sind, ob das
moralisch verwerflich sei oder nicht. Ich fühle mich persönlich betroffen,
weil sich meine Eltern diese Frage zu meiner Schulzeit jedes Jahr aufs Neue
stellten. Und doch mische ich mich kein einziges Mal ein. Ich hätte auch
gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll. Vielleicht damit, dass man derlei
Fragen nicht universal beantworten kann? Vielleicht mit dem Einwand, dass
manche Menschen nicht durch die Gegend fliegen, weil sie die Welt entdecken
wollen, sondern weil sie verzweifelt versuchen, die Fremdheitslücke zu
ihren Kindern zu schließen, die ein anderes Land als ihr Zuhause betrachten
als sie selbst?
Einmal sagt die Mitbewohnerin eines Freundes in ihrer Neuköllner WG-Küche,
Billigflüge versauten das Klima und gehörten abgeschafft. Ich verlasse die
Küche. Am nächsten Tag laufen wir uns in der Universität über den Weg. Sie
grüßt mich nicht. Ich realisiere einmal mehr, dass ich anders bin. Es fing
schon bei den Eltern an. Ihre Eltern reisten, weil sie neugierig waren und
sich entspannen wollten. Meine Eltern aus Liebe zu ihren Eltern, aus
Nostalgie und – aus Pflicht. Die Billigflugdebatte half da nicht weiter.
Das Mitteilen solcher Gedanken fällt mir damals schwer, auch heute ist das
noch so. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein beschreibt eine solche
Kommunikationsbarriere am Beispiel eines Löwen. Selbst wenn ein Löwe die
Sprache der Menschen beherrschte, würde er nicht mit ihnen kommunizieren
können. Denn es reicht nicht, die gleiche Sprache zu sprechen. Man muss
auch die Lebensform teilen, ähnliche Erfahrungen machen. Sonst versteht man
einander nicht. So geht es mir, wenn ich über das Reisen spreche.
Theoretisch habe ich alle Worte, und doch ergeben sie für andere nicht
immer einen Sinn.
## Auf keinen Fall Türkei
In meinen Zwanzigern meide ich das Reisen in die Türkei. Ich fürchte mich
davor, dass meine Verwandten sich diskriminierend über Marginalisierte in
der Türkei äußern könnten. Ich weiß mittlerweile, dass alle Menschen,
manchmal sogar ungewollt, diskriminieren können. Selbst wenn ich in der
Türkei nicht davon betroffen bin, weil ich dort der Dominanzgesellschaft
angehöre, möchte ich nichts damit zu tun haben. Ich möchte ja gerade Urlaub
von Deutschland machen und Deutschlands Hauptstadt heißt auf meiner
Landkarte Diskriminierung.
Ich lese Artikel in deutschen Medien zum Umgang mit Diskriminierung in
Familien. Es heißt, wenn sich ein Familienmitglied zu Weihnachten etwa
rassistisch äußert, soll man den Mund aufmachen und widersprechen. Ich
stimme dem zu. Alles andere wäre doch nur Fakeharmonie, denke ich. Ich
stelle mir vor, an einem Tisch zu sitzen. Ich spreche Verwandte an und sie
haben keine Einsicht. Sie wollen sich nichts sagen lassen, von mir, der aus
ihrer Sicht gut betuchten Deutschländerin. Ich fliege also nicht mehr in
die Türkei. Es würde mich nur noch türkischer machen als ich schon bin,
denke ich damals, und türkisch ist das Allerletzte, was ich unter den
Studierenden an der Humboldt-Universität sein möchte.
Dabei lerne ich in meinen Studienjahren auch, dass ein
Migrationshintergrund nicht per se als ein Defizit gesehen wird. Im
Gegenteil: Außergewöhnlich! Interessant! finden viele „Normale“ das
Anderssein der „Anderen“, manchmal. Nur ist Türkischsein nicht wie
Brasilianischsein oder Französischsein – Türkischsein wird mit
Bildungsferne assoziiert. Einmal sagt eine Kommilitonin im Seminar, man
könne sich das Niveau an der Schule, an der sie ihr Praktikum machte,
vorstellen. Schließlich hätten dort 99 Prozent einen türkischen oder
arabischen Hintergrund. Keiner stört sich daran, obwohl sich alle so gern
gewählt ausdrücken.
Ich fange an, mein Vermeidungsverhalten gegenüber der Türkei zu
intellektualisieren: Das Land habe ähnlich wie so viele andere Länder zwar
schöne Landschaften, aber kein schönes System. Die Menschen litten nicht
nur an einem wirtschaftlichen Mangel, sondern auch an einem Mangel an
Demokratie. Ganz zu schweigen davon, dass sie – vermutlich wie jede andere
Nation – ihre Minderheiten wie Aramäer*innen, Alevit*innen, Kurd*innen,
Sinti*zze und Rom*nja und Geflüchtete unterdrücke. So oder so ähnlich
rechtfertige ich in dieser Zeit meine Abwesenheit.
Mein Umfeld in Berlin bestätigt mich darin, auch meine
Kommiliton*innen argumentieren gerne so, wenn es darum geht, wohin man
noch reisen könne und wohin nicht. Manchmal frage ich meine
diskussionsfreudigen Geisteswissenschaftlerfreund*innen dann aber
doch, ob sie dann nicht auch aufhören sollten, nach Brandenburg zu fahren,
weil da doch so viele Nazis wohnen. Ich frage sie, ob wir nicht besser
auswandern sollten, weil der deutsche Staat von Rechten unterwandert ist.
Ich frage sie, ob man die richtigen mit einem Reiseboykott trifft oder nur
jene, die wenig verdienen und das Land auch nicht einfach so verlassen
können, weil ihnen dafür die Mittel fehlen. Ich frage, wie wir uns dann zu
Myanmar, Italien, den USA oder Saudi-Arabien verhalten sollten. Doch das
sind Länder, die anscheinend zu nah oder zu fern sind für den kritischen
Blick meiner Gesprächspartner*innen.
Das alles sind keine rhetorischen Fragen. Es sind Fragen der Ethik, der
Philosophie, sie fußen auf der Grundsatzfrage: Wie soll ich handeln? Die
Freund*innen aber, denen ich diese Fragen in ihren WG-Küchen, in
Bibliotheken oder nach Seminaren stelle, distanzieren sich von mir, mal
stillschweigend, mal mit Ankündigung. Manchmal gehe auch ich.
Bis heute sind diese Fragen in meinem Kopf. Und mit ihnen die Erinnerungen
an meine verzweifelten Versuche mitzuhalten mit denen, die schon immer die
richtigen Pässe hatten, die richtigen Reiserucksäcke und Kreditkarten. So
fliege ich während meines Studiums anstatt in das Land meiner Mutter lieber
nach Italien, nach Spanien, nehme den Zug nach Polen, unternehme
Tagesausflüge. Um mitreden zu können. Denn wer nicht mitreden kann, hat
weniger Erfolg. So denke ich in diesen Jahren, und so rechtfertige ich mich
auch vor meiner Familie. Weil für meine Mutter meine Bildung und
finanzielle Unabhängigkeit am Ende doch wichtiger ist als meine Teilnahme
am Familienurlaub, hat sie Verständnis.
Doch mein Selbstverleumdungswille und das Mitreden- und Mithaltenwollen
hat auch seine Grenzen. Ich verweigere prekäre Urlaube mit Zelt am Strand,
ich möchte auf kein Festival, wo es teure Drogen und schmutzige Toiletten
gibt. Ich möchte nicht auf matschigem Boden in der Natur unterwegs sein.
Als rassifizierte Weddingerin fühlt sich meine bloße Existenz schon wie ein
einziger Survival Trip an, das genügt.
Auch Fernreisen unternehme ich in dieser Zeit nicht, obwohl ich mir das
finanziell sogar erlauben könnte, denn wie die anderen, spare auch ich.
Jedoch nicht für den Urlaub. Ich spare, um darauf vorbereitet zu sein, dass
meine Eltern und ich kurzfristig in die Türkei fliegen müssen, falls jemand
aus der Familie stirbt. Ich spare, falls ich krank werde und weniger
verdiene. Ich spare, um neben dem Studium nicht so viel arbeiten zu müssen
und genügend freie Zeit zum Lernen zu haben. Ich spare für den Notfall.
Die wenigen Reisen innerhalb Europas, die ich mache, kündige ich dafür in
den sozialen Medien an. Auf Facebook poste ich: „Auf dem Weg nach …“, wie
ein wichtiges Ereignis. 2017, da habe ich mein Studium bereits
abgeschlossen, gebe ich auf der Plattform meinen Standort an, eine
Flixbusstation. Darunter poste ich einen Kommentar mit der Frage: „Wann bin
ich so privilegiert, dass ich nicht mehr das Bedürfnis habe, auf Facebook
zu informieren, dass ich reise?“ Die Miesmuscheln in Antalya schlummern
derweil irgendwo in meinem Kopf.
## Für Großvater Mehmet
Zweimal fliege ich während meines Studiums dann doch in die Türkei. Das
erste Mal, weil mein Deutschländer-Großvater im Sterben liegt. Ich möchte
ihn ein letztes Mal sehen, im Krankenhaus. Ihm den Schweiß von der Stirn
abwischen, selbstgekochtes Essen bringen. Ich habe ein schlechtes Gewissen
bei seinem Anblick, ich weiß, er wird sterben und ich war viel zu selten
da.
Beim zweiten Mal fliege ich nach Izmir. Meine Freundin Johanna macht dort
ein Erasmusjahr. Wir besuchen den Ort Pamukkale, wo alle wegen der
beeindruckenden Kalkterrassen hinfahren. Endlich lerne auch ich den Ort
kennen, der so viele Postkarten ziert. Ich stehe mit Johanna barfuß auf den
schönen Terrassen, schaue in die Ferne und lasse meinen Gedanken freien
Lauf, während Tourist*innen um uns herum für das perfekte Urlaubsfoto
posieren.
Mit einer dieser Tourist*innen komme ich ins Gespräch. Einer deutschen
Frau, die regelmäßig in die Türkei fliegt. Sie ist ganz entrüstet, als ich
sage, dass ich noch nie in Belek war. Ein Ort unweit von Antalya, den sie
schon mehrmals besucht hat. Vermutlich wäre sie umso überraschter, wenn sie
wüsste, dass ich auch die berühmten Kalkterrassen zum ersten Mal besuche –
und das dank Johanna, einer Deutschen.
Genauso enttäuscht sind auch all jene, die mit mir eine politische Debatte
über die Türkei führen wollen und feststellen, dass ich oft weniger über
die Türkei weiß als sie. Wie soll es auch anders sein, frage ich mich, wenn
ich Spanisch studiere und mich vor allem mit Lateinamerika befasse. Wenn
ich europäisch leben und reisen muss, um dazuzugehören. Wenn sie alle von
ihrer Liebe zu Schweden erzählen und die Goldkettenträger am Flugschalter
in die Türkei belächeln. Ich soll so viel wissen, tun oder nicht tun. Ich
komme gar nicht mehr mit.
## Eine neue Zeit?
Ich schließe mein Referendariat mit dem zweiten Staatsexamen ab. Ich
begleiche meine BaföG-Schulden. Ich fange an zu arbeiten und kann mir
endlich einen Urlaub leisten, ohne jeden Cent umzudrehen. Doch wie so oft
stellen sich mir neue Hindernisse in den Weg. Erst eine Pandemie, dann ein
Burn-out und jetzt ist alles teurer. Trotz alledem sitze ich diesen Sommer
im Flugzeug Richtung Antalya. Neben mir sitzt ein deutscher Mann, etwa
Mitte vierzig, ohne Migrationshintergrund. Er kommt aus Sachsen, reist mit
Frau, Schwiegermutter, Stieftochter, deren Mann und Kind. Eigentlich wäre
er dieses Jahr gerne woanders hingeflogen, erzählt er. Doch die Familie
könne sich woanders hin keinen Flug und keinen Aufenthalt in einem
all-inclusive Fünfsternehotel leisten. Ich entscheide mich, nicht mit ihm
darüber zu diskutieren, wie problematisch ich diese Aussage finde. Der Flug
dauert dafür nicht lang genug, und wer bin ich, es besser zu wissen? Im
Stillen denke ich mir, ich könnte mir den Flug in ein anderes Land zwar
leisten, aber erholen kann ich mich am Ende doch nur dort, wo ich – ganz
die brave Tochter – Urlaub, Arbeit und Familienbesuch miteinander verbinden
kann. Ohne schlechtes Gewissen, jemanden zu vernachlässigen. Gleichzeitig
zweifele ich daran, ob so ein Zustand überhaupt erholsam sein kann.
Doch dieser Sommer ist besonders. Denn ich will meine Zeit diesmal nicht
nur auf dem Land verbringen, sondern auch in Antalya, und zwar nicht am
Stadtrand, wo meine Cousine lebt und wo die Avocados wachsen, sondern
gefühlt mitten in der Stadt, am Strand. Am Strand! Ich bin etwas aufgeregt
und habe Angst, dass sich der Kindheitstraum als Kartenhaus erweist, das in
sich zusammenbricht.
Meine Mutter und ich sind am Lucky 13 Beach. Um uns herum sprechen die
Menschen Farsi, Hebräisch und Urdu. Ich bin überrascht über das
internationale Publikum und dann beschämt, weil ich überrascht bin. Ich
möchte hier Urlaub von Deutschland machen, aber es sind so viele Deutsche
hier, sage ich zu Mutter. Mutter sagt nichts. Sie schaut mich nur an, wie
sie mich früher angeschaut hat, wenn sie meine Kleidung zu freizügig für
den Aufenthalt auf dem Land fand.
Ich lerne am Strand, dass es auch hier zwei Klassen gibt. Es gibt den
öffentlichen Strandabschnitt, wo jeder seine Sachen selbst mitbringen muss
und keinen Eintritt bezahlt, und es gibt den Strandabschnitt mit Anschluss
an eine Bar. Dort tönt die Musik laut, abends gibt es sogar Livemusik. Hier
haben gefühlt alle türkischen Männer eine weiße Frau als Begleitung. Hier
gibt es Liegen und Sonnenschirme. Hier kommt nur rein, wer zahlt. Damit die
Trennung der Klassen nicht auffällt, wechseln sich die Abschnitte ab. Es
erinnert mich ein wenig an die Gentrifizierung von sogenannten Brennpunkten
in Berlin, denke ich, und finde mich dabei selbst anstrengend, weil ich
mich doch eigentlich entspannen will.
Ich entscheide mich im Lucky 13 Beach für die teuerste Strandliege. Sie
kostet umgerechnet 20 Euro pro Tag. Ich muss an meinen türkischen
Expat-Freund Kaan denken, der einmal sagte: „In Deutschland seid ihr
Deutschländer Ghetto und in der Türkei seid ihr High Class.“ Meine Liege
ist der Beweis. Sie befindet sich in der ersten Reihe, hat einen weichen
gelben Bezug und einen Abstelltisch. Und während ich da so rumliege
zwischen all den anderen Liegen und Sonnenschirmen, muss ich an die
Nachbarin in Bucak denken. Bei jedem Besuch lerne ich ein neues Wort oder
eine neue Phrase von ihr. Dieses Mal hat sie mir beigebracht, dass man sich
„innerhalb und außerhalb des Schirms befinden“ kann. Jetzt verstehe ich,
was sie meint. Die Verkäufer am Strand, immer die Sonnengebräuntesten, sind
außerhalb der Schirme. Sie sprechen das ländliche Türkisch, wie meine
Mutter und ich. Sie sagen kararmak (dunkel werden) statt bronslaşmak (sich
bräunen). Aber sie werden ungeschützt dunkler und ich bleibe geschützt
blass. Weil ich Sonnencreme aufgetragen habe, LSF 50. Ich bin mit einem
deutschen Personalausweis eingereist. Ich habe ein deutschsprachiges Buch
dabei. Und meine Mutter, die die wenigen Male, die wir in meiner Kindheit
und Jugend am Strand waren, mit ihrer Kleidung ins Wasser ging, trägt
diesmal einen Burkini.
Die Verkäufer haben Sesamringe, süße Halka und Miesmuscheln dabei. Bei
deren Anblick erinnere ich mich an die Schüler*innen der
Willkommensklasse, die ich zuletzt geleitet habe. Sie fragten mich, ob ich
die reisgefüllten Miesmuscheln aus der Türkei schon mal gegessen hatte und
legten mir nahe, sie unbedingt zu probieren. Ich rede mir ein: Wenn ich
hier Miesmuscheln kaufe, unterstütze ich die Arbeit eines armen Mannes.
Damit argumentiere ich wie all jene, die in Deutschland eine
Reinigungskraft einstellen. Es ist lächerlich, denke ich, und meine Laune
droht zu kippen. Trotzdem winke ich den Miesmuschelverkäufer schüchtern zu
mir. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden zu mir gewunken, keinen
Kellner, kein Taxi. Ich lächle ihn an, grüße und kaufe zwei Miesmuscheln
für nicht mal einen Euro. Zum Probieren und um mein schlechtes Gewissen zu
beruhigen, ob der sozialen Kluft zwischen ihm und mir.
Mutter kommt aus dem Wasser und stellt sich zu dem Verkäufer unter den
Schirm. Sie fragt, was das Schwarze in meinen Händen sei, probieren möchte
sie nicht. Ein Meerestier. Sie erwidert verwirrt: „Wo ist da bitte ein
Tier?“. Ich weiß, dass man das kognitive Dissonanz nennt, aber wie man
Meeresfrüchte auf Türkisch bezeichnet, weiß ich nicht. Selbst wenn ich es
wüsste – Mutter könnte damit nicht viel anfangen. Ich lasse mir Zitrone auf
die Muscheln pressen. Und dann schlucke ich sie eher, als dass ich sie
kaue.
Der Verkäufer und Mutter bleiben noch eine Weile unter dem Schirm. Ich muss
an eine Stelle im Buch „Keine Aufstiegsgeschichte“ von Olivier David
denken. Er schreibt: „Wenn ich ins Museum gehe, betrachte ich die Werke aus
den Augen der Maler und Lackierer […]. Ich sehe die Welt mit ihren Augen
und stellvertretend für sie fühle ich mich überall fremd. Inzwischen […]
auch in meinem Herkunftsmilieu.“ Ich stelle mir eine romantische Beziehung
mit dem Verkäufer vor. Wir haben eine kleine Wohnung im Erdgeschoss, mit
Schimmel an der Wand, Wasser tropft durch die Decke. Wir leben mit wenig,
aber glücklich. Ich möchte dem Muschelverkäufer sagen, eigentlich gehöre
ich zu dir, zu euch. Gleichzeitig denke ich: Ich wollte da weg und jetzt wo
ich da weg bin, möchte ich zurück. Aber das kann ich nicht. Ich komme mir
lächerlich vor. Der Verkäufer fragt mich, ob es mir schmeckt. Mutter und er
schauen mich gespannt an. Ich bin froh, dass ich eine Sonnenbrille trage
und ihnen nicht in die Augen blicken muss. Ich finde die Miesmuscheln
ungenießbar. Ich nicke brav und wünsche dem Mann einen schönen Tag.
21 Aug 2022
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