| # taz.de -- Reisen als Privileg: Sommerlöcher im Herzen | |
| > Flugscham, Corona und Inflation trüben für viele den Sommerurlaub. Für | |
| > unsere Autorin aber war das Reisen noch nie unbeschwert. | |
| Bild: Zurück auf Balkonien: die Autorin Nadire Biskin nach ihrem Türkei-Urlau… | |
| Es ist ein warmer Tag im Juli. Ich liege auf einer luxuriösen Sonnenliege | |
| am Strand von Antalya und habe drei Tage nichts anderes zu tun, als lesen, | |
| nachdenken und Musik hören. Darauf habe ich mich schon lange gefreut. Wenn | |
| ich ehrlich bin, seit meiner Kindheit. Denn während viele Menschen vor der | |
| Verschärfung der [1][Klimakrise], vor [2][Corona] und [3][Inflation] | |
| fröhlich durch die Gegend gejettet sind, hat es bei mir Jahrzehnte | |
| gedauert, bis das auch nur annähernd möglich war. Auch Miesmuscheln | |
| probiere ich diesen Sommer zum ersten Mal, obwohl sie in der Region, die | |
| ich schon unzählige Male besucht habe, eine Delikatesse sind – aber von | |
| vorn. | |
| Ich bin 35 Jahre alt [4][und in Berlin-Wedding aufgewachsen]. Anders als | |
| viele Familien aus der Mittelschicht schafften wir es damals in den 1990er | |
| Jahren nur jedes zweite Jahr in den Urlaub. Meine Mutter arbeitete als | |
| Reinigungskraft, außerdem bekamen meine Eltern eine Aufstockung vom | |
| Jobcenter. Jedes Jahr mussten wir bangen, dass der Sachbearbeiter, bei dem | |
| meine Eltern ihre „Ortsabwesenheit“ anmelden mussten, gnädig ist und uns | |
| seinen Segen gibt. Noch entscheidender aber war unsere finanzielle | |
| Situation. So gab es auch Zeiten, in denen wir vier Jahre lang nicht | |
| wegflogen. Und wenn doch, dann immer mit dem selben Ziel: die türkische | |
| Provinz, wo ein Teil meiner Familie lebt. | |
| Für meinen Vater, Sohn eines türkischen Gastarbeiters, war es lange kein | |
| Problem, wenn wir nicht in den Urlaub fuhren, denn seine Eltern lebten bis | |
| zu ihrer Pensionierung mit uns in einem Haus. Erst dann zogen sie in die | |
| Türkei, nach Bucak, eine Stadt etwa 85 Kilometer von Antalya entfernt. | |
| Meine Mutter aber kam 1981 als sogenannte Importbraut nach Deutschland und | |
| zog nach der Eheschließung zu meinem Vater und seiner Familie. Ihre eigene | |
| Familie blieb in dem kleinen Dorf, aus dem sie kam, in der Nähe der Stadt | |
| Bucak. Somit konnte meine Mutter ihre Eltern nur im Sommer sehen – und eine | |
| Reise in die Türkei diente nicht nur der Erholung, sondern war eine Reise | |
| zu Mutters Schoß, zu Vaters Schultern. | |
| ## Sprache verbindet, Sprache trennt | |
| Als Kind hoffte ich immer, dass unser Reiserhythmus mit dem von möglichst | |
| vielen meiner Freund*innen übereinstimmte. Sonst fühlte ich mich im | |
| Sommer ziemlich allein, so wie die anderen, die zu Hause bleiben mussten, | |
| weil sie keine Pässe mehr hatten oder Aufenthaltstitel besaßen, die das | |
| Reisen nicht erlaubten. Und obendrein waren da die Zahlen in Rot auf den | |
| elterlichen Konten. Unsere Straße, unser Kiez war dann immer so ruhig wie | |
| über Weihnachten, wenn alle Zugezogenen aus Berlin verschwinden und zu | |
| ihren Eltern fahren. | |
| Gab die Deutschlehrerin uns am ersten Schultag nach den großen Ferien die | |
| Aufgabe, einen Aufsatz über unsere Erlebnisse zu schreiben, fiel der im | |
| Deutschlandjahr ziemlich monoton aus. Unsere Tage sahen dann in etwa so | |
| aus: Mein Bruder und ich fuhren abwechselnd mit dem einen Fahrrad, das wir | |
| besaßen, bis zur nächsten Straßenecke und wieder zurück, immer hin und her. | |
| Oder wir saßen stundenlang vor dem Fernseher. Ab und zu spielten wir auf | |
| dem Hof mit zwei anderen Kindern Fußball, während uns rauchende Nachbarn | |
| vom Fenster aus zuschauten. Manchmal half ich Mutter. Ich rollte mit ihr | |
| Weinblätter. | |
| Doch wenn ich ehrlich bin, waren die Reisesommer in der türkischen Provinz | |
| nicht viel besser. Keiner der Verwandten hatte Zeit für uns, sie arbeiteten | |
| alle auf den Feldern, sei es hauptberuflich oder als Studierende, die den | |
| Eltern in der vorlesungsfreien Zeit halfen. Mutter musste mit ihrer | |
| Schwiegermutter Tomatenmark herstellen, Vater bei seinen Schwägern mit | |
| seinen Marlboro-Zigaretten aus Deutschland angeben, und wir plagten uns | |
| gelangweilt mit Sonnenstichen herum. Der Familienbesuch war körperlich | |
| genauso überfordernd wie emotional und kognitiv. | |
| Neben der Langeweile strengte mich noch etwas anderes an. Wir wohnten meist | |
| in Bucak, einer kleinen Stadt, und ich war ein Großstadtkind. Jede | |
| Verkäuferin, jeder auf dem Markt und jeder im Geschäft – und wenn Mücken | |
| und Kühe hätten sprechen können, dann vermutlich auch sie – fragten, wo ich | |
| herkomme. Das war kein Rassismus. Ich galt dort einfach als privilegiert, | |
| weil ich aus Deutschland kam und Türkin bin und weder einer religiösen noch | |
| ethnischen Minderheit angehörte. Ich reagierte auf die Frage mit einer | |
| rhetorischen Pause, blickte meinem Gegenüber in die Augen und sagte, ich | |
| bin almancı, Deutschländerin. Noch heute antworte ich so. Als Kind und | |
| Jugendliche aber lag ich nachts oft wach und diese „othernden“ Gespräche | |
| mit Türkeitürken, in denen meine Herkunft aus Deutschland mit meinem Wesen, | |
| meinen Eigenarten verbunden wurde, spielten sich wieder und wieder vor | |
| meinem inneren Auge ab. | |
| Mir wurde damals klar, wie mächtig die Zunge eines Menschen ist. Die Zunge | |
| und Sprache, beides auf Türkisch dil, trennten meinen Bruder und mich von | |
| den anderen. Zu Hause in Berlin-Wedding sprachen wir wie die meisten | |
| deukisch, also ein hybrides Deutsch-Türkisch. In Bucak aber, wo meine | |
| Deutschländer-Großeltern in den Neunzigern hingezogen waren, und im Dorf | |
| meiner Großeltern mütterlicherseits, verstand man uns oft nicht. Dort | |
| sprachen die Menschen nur Türkisch. | |
| Nur eine Autostunde entfernt wiederum, in Antalya, wo am Strand | |
| Miesmuscheln verkauft wurden, wohin die Deutschländer aus allen Regionen | |
| der Türkei und Deutschlands kamen und neben deutschen, polnischen und | |
| russischen Tourist*innen ihren Urlaub verbrachten, da sprach man neben | |
| Türkisch mindestens auch Deutsch. Mit jenen Tourist*innen saßen wir im | |
| Flugzeug, mit ihnen standen wir in der Schlange für die Passkontrolle, | |
| warteten auf unsere Koffer am Gepäckband – dann trennten sich unsere Wege. | |
| Sie wurden vom exklusiven Abholservice in ihre all-inclusive | |
| Fünfsterneresorts gebracht, während wir von meinem Großvater empfangen | |
| wurden, der mit Tränen in den Augen und zitternden Beinen am Ausgang auf | |
| uns wartete und uns an einen Ort brachte, wo es kaum gepflasterte Wege gab | |
| und wir nicht einmal Rad fahren konnten. Jene Momente meiner Kindheit | |
| lehrten mich die Banalität von in Kilometern gemessener Entfernung. Die | |
| Distanz, die ich zu den anderen Reisenden empfand, ließ sich in dieser | |
| Maßeinheit nicht ausdrücken, ich empfand sie damals als unüberbrückbar. | |
| Selbstverständlich äußerte ich als pubertierende und fordernde Jugendliche | |
| irgendwann selbst den Wunsch, in einem Hotel an der türkischen Riviera zu | |
| übernachten. Der Strand war mein Sehnsuchtsort, wo Menschen sahen und | |
| gesehen wurden, wo die Stars aus dem türkischen Fernsehen Urlaub machten | |
| und Menschen schwarze Meeresfrüchte aßen, die, wie ich viele Jahre später | |
| erfuhr, Miesmuscheln oder auf Türkisch midye heißen. Doch meine Eltern | |
| konnten mir diesen Wunsch nie erfüllen. Mutter sagte, wir haben keine Zeit, | |
| wir müssen zur Familie. Außerdem hätten uns all die Mitbringsel aus | |
| Deutschland – Kaffee, Cremes und Co für die Familie und Nachbarn, die | |
| weniger haben als wir – neben den überteuerten Flugtickets sowieso schon zu | |
| viel gekostet. Ich war sauer und damals nicht empathisch genug, um meine | |
| Eltern zu verstehen. Heute, als Erwachsene, verstehe ich ihre | |
| Zerrissenheit. | |
| ## Die feinen Unterschiede | |
| Mit Anfang zwanzig bekommt das Thema Reisen für mich eine andere Bedeutung. | |
| Meine größte Reise bestand damals zwischen Wedding, wo ich geboren war, | |
| aufwuchs und dank Gentrifizierung weiter leben musste, und Berlin-Mitte, wo | |
| ich an der Humboldt-Universität Philosophie und Spanisch auf Lehramt | |
| studierte und arbeitete. Jedes Mal, wenn ich von der Müllerstraße auf die | |
| Chausseestraße wechsele und damit den einen Bezirk verlasse und den anderen | |
| betrete, stelle ich mir vor, ich sei eine Mexikanerin, die täglich in ihrer | |
| mexikanische Grenzstadt die Grenze zu den USA überschreitet, um dort für | |
| ein besseres Gehalt bei McDonald’s zu arbeiten. | |
| Auch viele meiner weißen Kommiliton*innen aus der oberen Mittelschicht | |
| haben sich auf die Reise gemacht, doch unsere Reisen sind Lichtjahre | |
| voneinander entfernt. Während sie oft aus der Beengtheit der westdeutschen | |
| Provinz in die Großstadt Berlin geflohen sind, lege ich einen mühsamen | |
| Aufstieg von der Arbeiterklasse in die akademischen Kreise zurück, | |
| inklusive Bafög-Schulden und Dispo. Von den meisten meiner Mitstudierenden | |
| fühle ich mich damals so weit entfernt wie von den | |
| Miesmuschel-Tourist*innen in Antalya. Es ist die Zeit, in der ich | |
| Miesmuscheln mit dem alkoholischen Getränk rakı verbinde, mit Livemusik, | |
| dem Geräusch von fallenden Würfeln auf Backgammonbrettern, mit dolce vita. | |
| Miesmuscheln rangierten für mich in derselben Gruppe wie Austern und Kaviar | |
| – weit weg von mir und meiner Familie. Wir waren diejenigen, die hart | |
| arbeiteten, wir sorgten uns um unsere Gesundheit und ums Geld. Die | |
| schwarzen Meeresfrüchte aber aßen Homo-ludens-Leute, nicht Bauern wie wir. | |
| Diese Weltenreise zwischen Berlin-Wedding und Berlin-Mitte lehrt mich im | |
| Laufe meines Studiums abermals, dass Distanz nicht das gleiche ist wie | |
| geografische Entfernung. In der Mensa und nach den Seminaren werden | |
| Elfenbeinturmdebatten geführt oder sich über die „Was guckst | |
| du“-Berliner*innen aus den sogenannten Brennpunktstadtteilen wie dem | |
| Wedding lustig gemacht. Selbstverständlich niemals so offensichtlich, dass | |
| man es als direkte Beleidigung hätte verstehen können. Keiner macht sich | |
| angreifbar, keiner fühlt sich angreifbar. Außer mir. | |
| Eine Debatte macht mir in dieser Zeit besonders zu schaffen: Es geht um die | |
| Frage, ob Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern frühzeitig in den | |
| Urlaub fliegen dürfen sollten, weil die Tickets dann günstiger sind, ob das | |
| moralisch verwerflich sei oder nicht. Ich fühle mich persönlich betroffen, | |
| weil sich meine Eltern diese Frage zu meiner Schulzeit jedes Jahr aufs Neue | |
| stellten. Und doch mische ich mich kein einziges Mal ein. Ich hätte auch | |
| gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll. Vielleicht damit, dass man derlei | |
| Fragen nicht universal beantworten kann? Vielleicht mit dem Einwand, dass | |
| manche Menschen nicht durch die Gegend fliegen, weil sie die Welt entdecken | |
| wollen, sondern weil sie verzweifelt versuchen, die Fremdheitslücke zu | |
| ihren Kindern zu schließen, die ein anderes Land als ihr Zuhause betrachten | |
| als sie selbst? | |
| Einmal sagt die Mitbewohnerin eines Freundes in ihrer Neuköllner WG-Küche, | |
| Billigflüge versauten das Klima und gehörten abgeschafft. Ich verlasse die | |
| Küche. Am nächsten Tag laufen wir uns in der Universität über den Weg. Sie | |
| grüßt mich nicht. Ich realisiere einmal mehr, dass ich anders bin. Es fing | |
| schon bei den Eltern an. Ihre Eltern reisten, weil sie neugierig waren und | |
| sich entspannen wollten. Meine Eltern aus Liebe zu ihren Eltern, aus | |
| Nostalgie und – aus Pflicht. Die Billigflugdebatte half da nicht weiter. | |
| Das Mitteilen solcher Gedanken fällt mir damals schwer, auch heute ist das | |
| noch so. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein beschreibt eine solche | |
| Kommunikationsbarriere am Beispiel eines Löwen. Selbst wenn ein Löwe die | |
| Sprache der Menschen beherrschte, würde er nicht mit ihnen kommunizieren | |
| können. Denn es reicht nicht, die gleiche Sprache zu sprechen. Man muss | |
| auch die Lebensform teilen, ähnliche Erfahrungen machen. Sonst versteht man | |
| einander nicht. So geht es mir, wenn ich über das Reisen spreche. | |
| Theoretisch habe ich alle Worte, und doch ergeben sie für andere nicht | |
| immer einen Sinn. | |
| ## Auf keinen Fall Türkei | |
| In meinen Zwanzigern meide ich das Reisen in die Türkei. Ich fürchte mich | |
| davor, dass meine Verwandten sich diskriminierend über Marginalisierte in | |
| der Türkei äußern könnten. Ich weiß mittlerweile, dass alle Menschen, | |
| manchmal sogar ungewollt, diskriminieren können. Selbst wenn ich in der | |
| Türkei nicht davon betroffen bin, weil ich dort der Dominanzgesellschaft | |
| angehöre, möchte ich nichts damit zu tun haben. Ich möchte ja gerade Urlaub | |
| von Deutschland machen und Deutschlands Hauptstadt heißt auf meiner | |
| Landkarte Diskriminierung. | |
| Ich lese Artikel in deutschen Medien zum Umgang mit Diskriminierung in | |
| Familien. Es heißt, wenn sich ein Familienmitglied zu Weihnachten etwa | |
| rassistisch äußert, soll man den Mund aufmachen und widersprechen. Ich | |
| stimme dem zu. Alles andere wäre doch nur Fakeharmonie, denke ich. Ich | |
| stelle mir vor, an einem Tisch zu sitzen. Ich spreche Verwandte an und sie | |
| haben keine Einsicht. Sie wollen sich nichts sagen lassen, von mir, der aus | |
| ihrer Sicht gut betuchten Deutschländerin. Ich fliege also nicht mehr in | |
| die Türkei. Es würde mich nur noch türkischer machen als ich schon bin, | |
| denke ich damals, und türkisch ist das Allerletzte, was ich unter den | |
| Studierenden an der Humboldt-Universität sein möchte. | |
| Dabei lerne ich in meinen Studienjahren auch, dass ein | |
| Migrationshintergrund nicht per se als ein Defizit gesehen wird. Im | |
| Gegenteil: Außergewöhnlich! Interessant! finden viele „Normale“ das | |
| Anderssein der „Anderen“, manchmal. Nur ist Türkischsein nicht wie | |
| Brasilianischsein oder Französischsein – Türkischsein wird mit | |
| Bildungsferne assoziiert. Einmal sagt eine Kommilitonin im Seminar, man | |
| könne sich das Niveau an der Schule, an der sie ihr Praktikum machte, | |
| vorstellen. Schließlich hätten dort 99 Prozent einen türkischen oder | |
| arabischen Hintergrund. Keiner stört sich daran, obwohl sich alle so gern | |
| gewählt ausdrücken. | |
| Ich fange an, mein Vermeidungsverhalten gegenüber der Türkei zu | |
| intellektualisieren: Das Land habe ähnlich wie so viele andere Länder zwar | |
| schöne Landschaften, aber kein schönes System. Die Menschen litten nicht | |
| nur an einem wirtschaftlichen Mangel, sondern auch an einem Mangel an | |
| Demokratie. Ganz zu schweigen davon, dass sie – vermutlich wie jede andere | |
| Nation – ihre Minderheiten wie Aramäer*innen, Alevit*innen, Kurd*innen, | |
| Sinti*zze und Rom*nja und Geflüchtete unterdrücke. So oder so ähnlich | |
| rechtfertige ich in dieser Zeit meine Abwesenheit. | |
| Mein Umfeld in Berlin bestätigt mich darin, auch meine | |
| Kommiliton*innen argumentieren gerne so, wenn es darum geht, wohin man | |
| noch reisen könne und wohin nicht. Manchmal frage ich meine | |
| diskussionsfreudigen Geisteswissenschaftlerfreund*innen dann aber | |
| doch, ob sie dann nicht auch aufhören sollten, nach Brandenburg zu fahren, | |
| weil da doch so viele Nazis wohnen. Ich frage sie, ob wir nicht besser | |
| auswandern sollten, weil der deutsche Staat von Rechten unterwandert ist. | |
| Ich frage sie, ob man die richtigen mit einem Reiseboykott trifft oder nur | |
| jene, die wenig verdienen und das Land auch nicht einfach so verlassen | |
| können, weil ihnen dafür die Mittel fehlen. Ich frage, wie wir uns dann zu | |
| Myanmar, Italien, den USA oder Saudi-Arabien verhalten sollten. Doch das | |
| sind Länder, die anscheinend zu nah oder zu fern sind für den kritischen | |
| Blick meiner Gesprächspartner*innen. | |
| Das alles sind keine rhetorischen Fragen. Es sind Fragen der Ethik, der | |
| Philosophie, sie fußen auf der Grundsatzfrage: Wie soll ich handeln? Die | |
| Freund*innen aber, denen ich diese Fragen in ihren WG-Küchen, in | |
| Bibliotheken oder nach Seminaren stelle, distanzieren sich von mir, mal | |
| stillschweigend, mal mit Ankündigung. Manchmal gehe auch ich. | |
| Bis heute sind diese Fragen in meinem Kopf. Und mit ihnen die Erinnerungen | |
| an meine verzweifelten Versuche mitzuhalten mit denen, die schon immer die | |
| richtigen Pässe hatten, die richtigen Reiserucksäcke und Kreditkarten. So | |
| fliege ich während meines Studiums anstatt in das Land meiner Mutter lieber | |
| nach Italien, nach Spanien, nehme den Zug nach Polen, unternehme | |
| Tagesausflüge. Um mitreden zu können. Denn wer nicht mitreden kann, hat | |
| weniger Erfolg. So denke ich in diesen Jahren, und so rechtfertige ich mich | |
| auch vor meiner Familie. Weil für meine Mutter meine Bildung und | |
| finanzielle Unabhängigkeit am Ende doch wichtiger ist als meine Teilnahme | |
| am Familienurlaub, hat sie Verständnis. | |
| Doch mein Selbstverleumdungswille und das Mitreden- und Mithaltenwollen | |
| hat auch seine Grenzen. Ich verweigere prekäre Urlaube mit Zelt am Strand, | |
| ich möchte auf kein Festival, wo es teure Drogen und schmutzige Toiletten | |
| gibt. Ich möchte nicht auf matschigem Boden in der Natur unterwegs sein. | |
| Als rassifizierte Weddingerin fühlt sich meine bloße Existenz schon wie ein | |
| einziger Survival Trip an, das genügt. | |
| Auch Fernreisen unternehme ich in dieser Zeit nicht, obwohl ich mir das | |
| finanziell sogar erlauben könnte, denn wie die anderen, spare auch ich. | |
| Jedoch nicht für den Urlaub. Ich spare, um darauf vorbereitet zu sein, dass | |
| meine Eltern und ich kurzfristig in die Türkei fliegen müssen, falls jemand | |
| aus der Familie stirbt. Ich spare, falls ich krank werde und weniger | |
| verdiene. Ich spare, um neben dem Studium nicht so viel arbeiten zu müssen | |
| und genügend freie Zeit zum Lernen zu haben. Ich spare für den Notfall. | |
| Die wenigen Reisen innerhalb Europas, die ich mache, kündige ich dafür in | |
| den sozialen Medien an. Auf Facebook poste ich: „Auf dem Weg nach …“, wie | |
| ein wichtiges Ereignis. 2017, da habe ich mein Studium bereits | |
| abgeschlossen, gebe ich auf der Plattform meinen Standort an, eine | |
| Flixbusstation. Darunter poste ich einen Kommentar mit der Frage: „Wann bin | |
| ich so privilegiert, dass ich nicht mehr das Bedürfnis habe, auf Facebook | |
| zu informieren, dass ich reise?“ Die Miesmuscheln in Antalya schlummern | |
| derweil irgendwo in meinem Kopf. | |
| ## Für Großvater Mehmet | |
| Zweimal fliege ich während meines Studiums dann doch in die Türkei. Das | |
| erste Mal, weil mein Deutschländer-Großvater im Sterben liegt. Ich möchte | |
| ihn ein letztes Mal sehen, im Krankenhaus. Ihm den Schweiß von der Stirn | |
| abwischen, selbstgekochtes Essen bringen. Ich habe ein schlechtes Gewissen | |
| bei seinem Anblick, ich weiß, er wird sterben und ich war viel zu selten | |
| da. | |
| Beim zweiten Mal fliege ich nach Izmir. Meine Freundin Johanna macht dort | |
| ein Erasmusjahr. Wir besuchen den Ort Pamukkale, wo alle wegen der | |
| beeindruckenden Kalkterrassen hinfahren. Endlich lerne auch ich den Ort | |
| kennen, der so viele Postkarten ziert. Ich stehe mit Johanna barfuß auf den | |
| schönen Terrassen, schaue in die Ferne und lasse meinen Gedanken freien | |
| Lauf, während Tourist*innen um uns herum für das perfekte Urlaubsfoto | |
| posieren. | |
| Mit einer dieser Tourist*innen komme ich ins Gespräch. Einer deutschen | |
| Frau, die regelmäßig in die Türkei fliegt. Sie ist ganz entrüstet, als ich | |
| sage, dass ich noch nie in Belek war. Ein Ort unweit von Antalya, den sie | |
| schon mehrmals besucht hat. Vermutlich wäre sie umso überraschter, wenn sie | |
| wüsste, dass ich auch die berühmten Kalkterrassen zum ersten Mal besuche – | |
| und das dank Johanna, einer Deutschen. | |
| Genauso enttäuscht sind auch all jene, die mit mir eine politische Debatte | |
| über die Türkei führen wollen und feststellen, dass ich oft weniger über | |
| die Türkei weiß als sie. Wie soll es auch anders sein, frage ich mich, wenn | |
| ich Spanisch studiere und mich vor allem mit Lateinamerika befasse. Wenn | |
| ich europäisch leben und reisen muss, um dazuzugehören. Wenn sie alle von | |
| ihrer Liebe zu Schweden erzählen und die Goldkettenträger am Flugschalter | |
| in die Türkei belächeln. Ich soll so viel wissen, tun oder nicht tun. Ich | |
| komme gar nicht mehr mit. | |
| ## Eine neue Zeit? | |
| Ich schließe mein Referendariat mit dem zweiten Staatsexamen ab. Ich | |
| begleiche meine BaföG-Schulden. Ich fange an zu arbeiten und kann mir | |
| endlich einen Urlaub leisten, ohne jeden Cent umzudrehen. Doch wie so oft | |
| stellen sich mir neue Hindernisse in den Weg. Erst eine Pandemie, dann ein | |
| Burn-out und jetzt ist alles teurer. Trotz alledem sitze ich diesen Sommer | |
| im Flugzeug Richtung Antalya. Neben mir sitzt ein deutscher Mann, etwa | |
| Mitte vierzig, ohne Migrationshintergrund. Er kommt aus Sachsen, reist mit | |
| Frau, Schwiegermutter, Stieftochter, deren Mann und Kind. Eigentlich wäre | |
| er dieses Jahr gerne woanders hingeflogen, erzählt er. Doch die Familie | |
| könne sich woanders hin keinen Flug und keinen Aufenthalt in einem | |
| all-inclusive Fünfsternehotel leisten. Ich entscheide mich, nicht mit ihm | |
| darüber zu diskutieren, wie problematisch ich diese Aussage finde. Der Flug | |
| dauert dafür nicht lang genug, und wer bin ich, es besser zu wissen? Im | |
| Stillen denke ich mir, ich könnte mir den Flug in ein anderes Land zwar | |
| leisten, aber erholen kann ich mich am Ende doch nur dort, wo ich – ganz | |
| die brave Tochter – Urlaub, Arbeit und Familienbesuch miteinander verbinden | |
| kann. Ohne schlechtes Gewissen, jemanden zu vernachlässigen. Gleichzeitig | |
| zweifele ich daran, ob so ein Zustand überhaupt erholsam sein kann. | |
| Doch dieser Sommer ist besonders. Denn ich will meine Zeit diesmal nicht | |
| nur auf dem Land verbringen, sondern auch in Antalya, und zwar nicht am | |
| Stadtrand, wo meine Cousine lebt und wo die Avocados wachsen, sondern | |
| gefühlt mitten in der Stadt, am Strand. Am Strand! Ich bin etwas aufgeregt | |
| und habe Angst, dass sich der Kindheitstraum als Kartenhaus erweist, das in | |
| sich zusammenbricht. | |
| Meine Mutter und ich sind am Lucky 13 Beach. Um uns herum sprechen die | |
| Menschen Farsi, Hebräisch und Urdu. Ich bin überrascht über das | |
| internationale Publikum und dann beschämt, weil ich überrascht bin. Ich | |
| möchte hier Urlaub von Deutschland machen, aber es sind so viele Deutsche | |
| hier, sage ich zu Mutter. Mutter sagt nichts. Sie schaut mich nur an, wie | |
| sie mich früher angeschaut hat, wenn sie meine Kleidung zu freizügig für | |
| den Aufenthalt auf dem Land fand. | |
| Ich lerne am Strand, dass es auch hier zwei Klassen gibt. Es gibt den | |
| öffentlichen Strandabschnitt, wo jeder seine Sachen selbst mitbringen muss | |
| und keinen Eintritt bezahlt, und es gibt den Strandabschnitt mit Anschluss | |
| an eine Bar. Dort tönt die Musik laut, abends gibt es sogar Livemusik. Hier | |
| haben gefühlt alle türkischen Männer eine weiße Frau als Begleitung. Hier | |
| gibt es Liegen und Sonnenschirme. Hier kommt nur rein, wer zahlt. Damit die | |
| Trennung der Klassen nicht auffällt, wechseln sich die Abschnitte ab. Es | |
| erinnert mich ein wenig an die Gentrifizierung von sogenannten Brennpunkten | |
| in Berlin, denke ich, und finde mich dabei selbst anstrengend, weil ich | |
| mich doch eigentlich entspannen will. | |
| Ich entscheide mich im Lucky 13 Beach für die teuerste Strandliege. Sie | |
| kostet umgerechnet 20 Euro pro Tag. Ich muss an meinen türkischen | |
| Expat-Freund Kaan denken, der einmal sagte: „In Deutschland seid ihr | |
| Deutschländer Ghetto und in der Türkei seid ihr High Class.“ Meine Liege | |
| ist der Beweis. Sie befindet sich in der ersten Reihe, hat einen weichen | |
| gelben Bezug und einen Abstelltisch. Und während ich da so rumliege | |
| zwischen all den anderen Liegen und Sonnenschirmen, muss ich an die | |
| Nachbarin in Bucak denken. Bei jedem Besuch lerne ich ein neues Wort oder | |
| eine neue Phrase von ihr. Dieses Mal hat sie mir beigebracht, dass man sich | |
| „innerhalb und außerhalb des Schirms befinden“ kann. Jetzt verstehe ich, | |
| was sie meint. Die Verkäufer am Strand, immer die Sonnengebräuntesten, sind | |
| außerhalb der Schirme. Sie sprechen das ländliche Türkisch, wie meine | |
| Mutter und ich. Sie sagen kararmak (dunkel werden) statt bronslaşmak (sich | |
| bräunen). Aber sie werden ungeschützt dunkler und ich bleibe geschützt | |
| blass. Weil ich Sonnencreme aufgetragen habe, LSF 50. Ich bin mit einem | |
| deutschen Personalausweis eingereist. Ich habe ein deutschsprachiges Buch | |
| dabei. Und meine Mutter, die die wenigen Male, die wir in meiner Kindheit | |
| und Jugend am Strand waren, mit ihrer Kleidung ins Wasser ging, trägt | |
| diesmal einen Burkini. | |
| Die Verkäufer haben Sesamringe, süße Halka und Miesmuscheln dabei. Bei | |
| deren Anblick erinnere ich mich an die Schüler*innen der | |
| Willkommensklasse, die ich zuletzt geleitet habe. Sie fragten mich, ob ich | |
| die reisgefüllten Miesmuscheln aus der Türkei schon mal gegessen hatte und | |
| legten mir nahe, sie unbedingt zu probieren. Ich rede mir ein: Wenn ich | |
| hier Miesmuscheln kaufe, unterstütze ich die Arbeit eines armen Mannes. | |
| Damit argumentiere ich wie all jene, die in Deutschland eine | |
| Reinigungskraft einstellen. Es ist lächerlich, denke ich, und meine Laune | |
| droht zu kippen. Trotzdem winke ich den Miesmuschelverkäufer schüchtern zu | |
| mir. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden zu mir gewunken, keinen | |
| Kellner, kein Taxi. Ich lächle ihn an, grüße und kaufe zwei Miesmuscheln | |
| für nicht mal einen Euro. Zum Probieren und um mein schlechtes Gewissen zu | |
| beruhigen, ob der sozialen Kluft zwischen ihm und mir. | |
| Mutter kommt aus dem Wasser und stellt sich zu dem Verkäufer unter den | |
| Schirm. Sie fragt, was das Schwarze in meinen Händen sei, probieren möchte | |
| sie nicht. Ein Meerestier. Sie erwidert verwirrt: „Wo ist da bitte ein | |
| Tier?“. Ich weiß, dass man das kognitive Dissonanz nennt, aber wie man | |
| Meeresfrüchte auf Türkisch bezeichnet, weiß ich nicht. Selbst wenn ich es | |
| wüsste – Mutter könnte damit nicht viel anfangen. Ich lasse mir Zitrone auf | |
| die Muscheln pressen. Und dann schlucke ich sie eher, als dass ich sie | |
| kaue. | |
| Der Verkäufer und Mutter bleiben noch eine Weile unter dem Schirm. Ich muss | |
| an eine Stelle im Buch „Keine Aufstiegsgeschichte“ von Olivier David | |
| denken. Er schreibt: „Wenn ich ins Museum gehe, betrachte ich die Werke aus | |
| den Augen der Maler und Lackierer […]. Ich sehe die Welt mit ihren Augen | |
| und stellvertretend für sie fühle ich mich überall fremd. Inzwischen […] | |
| auch in meinem Herkunftsmilieu.“ Ich stelle mir eine romantische Beziehung | |
| mit dem Verkäufer vor. Wir haben eine kleine Wohnung im Erdgeschoss, mit | |
| Schimmel an der Wand, Wasser tropft durch die Decke. Wir leben mit wenig, | |
| aber glücklich. Ich möchte dem Muschelverkäufer sagen, eigentlich gehöre | |
| ich zu dir, zu euch. Gleichzeitig denke ich: Ich wollte da weg und jetzt wo | |
| ich da weg bin, möchte ich zurück. Aber das kann ich nicht. Ich komme mir | |
| lächerlich vor. Der Verkäufer fragt mich, ob es mir schmeckt. Mutter und er | |
| schauen mich gespannt an. Ich bin froh, dass ich eine Sonnenbrille trage | |
| und ihnen nicht in die Augen blicken muss. Ich finde die Miesmuscheln | |
| ungenießbar. Ich nicke brav und wünsche dem Mann einen schönen Tag. | |
| 21 Aug 2022 | |
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