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# taz.de -- Oben und unten: Klassenfahrt
> Was passiert, wenn immer mehr Menschen studieren? Und was wird aus denen,
> die das nicht tun? Über zwei Gruppen, die einander fremd werden.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass André Schier, Anfang 40, einen
leichten Spleen mit seinem Doktorgrad hat. Neulich traf er alte Kumpel in
der Gaststätte, ein Freitagabend, man wollte Bier trinken, das erste
Wiedersehen nach Monaten der Pandemie. Schier hatte auf seinen Namen
reserviert – und mit dem Titel, der ihm kraft akademischer Verleihung
voransteht. Der Kellner begrüßte Schier in aller Form, und einer der
Freunde, Fliesenleger von Beruf, verdrehte die Augen: Ja, ja, der Herr
Doktor wieder, so, so. Wir wollen doch nur Karten spielen.
Entspann dich, sagte Schier, freundlich natürlich. So heiße ich nun mal.
Als André Schier die Promotion abgeschlossen hatte, eine Analyse von
Werbemotiven auf 278 Seiten, Untertitel: „Generation und politische Kultur
politische Kultur im Zeichen gewandelter Lebenswelten in Deutschland im
Digitalitätsdiskurs in Werbung“, als er eine Widmung an die Mutter
vorangestellt, die Ergebnisse an der Uni verteidigt und die Urkunde
erhalten hatte, da fragte er einen Freund, Akademikerspross und Doktor der
Gesundheitsökonomie, wie man denn nun mit dem so mühevoll erworbenen Grad
verfahre. Was tut man, wenn man nach Jahren des Bildungsaufstiegs oben
angekommen ist. In seiner Familie gab es niemanden, der sich mit so etwas
auskannte.
Der Doktorgrad, antwortete der Freund, sei für ihn eher wie eine Krawatte,
die man zu besonderen Anlässen trage, vielleicht mal bei schwierigen
Telefonaten mit dem Amt heraushole. Dann kann der Doktor helfen. Ansonsten
verschwinde der in der Schublade. Aufs Klingelschild schrieb der Freund den
Doktor nicht.
André Schier schon. Er ließ ihn im Personalausweis vermerken, das
Impfzertifikat in der Corona-App weist ihn als Doktor aus. Wenn er als
Dozent bei politischen Stiftungen arbeitet, ist er Doktor. Aber er hat sich
auch mit Doktor bei seinem Bäcker in der Liste für die Sonntagsbrötchen
eingetragen und auch beim Kinderturnen seiner Tochter. Wenn jemand es im
Umgang förmlich will, so wie die Erzieherinnen in der Kita, die auf dem Sie
bestehen, weil der Träger es ihnen so vorgibt, dann besteht Schier eben
auch auf seinem Doktor.
„Ich habe zu sehr dafür gekämpft“, sagt Schier. Der Grad ist für ihn so
etwas wie ein Beglaubigungsschein, es geschafft zu haben. Und auch eine
Beschwörungsformel, die es Schier erlaubt, seinen Frieden mit sich zu
machen. Über andere erheben, sagt er, wolle er sich damit nicht.
Wie die Klassen in diesem Land einander sehen, wie unbefangen ihr Blick
ist, und ob die Beteuerungen der jeweils einen Seite, dass er unbefangen
sei, von der anderen so ohne Weiteres geglaubt werden können – das lässt
sich vielleicht an einer Geschichte wie der von André Schier erkunden. In
seiner Biografie fallen die Gegensätze zusammen: Er ist ein Arbeiterkind,
das es zum promovierten Akademiker gebracht hat.
Dass ein solcher Weg unwahrscheinlich ist, ist hinreichend beklagt, die
Zahlen sind bekannt, man kann sie zum Beispiel nachlesen in einer Studie
des Stifterverbands. Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben,
wechseln nach der Grundschule nur 46 aufs Gymnasium oder eine ähnliche zum
Abitur führende Schule. Von diesen 46 wiederum beginnen nur 27 ein Studium.
20 schaffen den Bachelor-, 11 den Masterabschluss. Und gerade einmal 2
Kindern gelingt am Ende die Promotion.
Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien gehen 83 aufs Gymnasium oder eine
vergleichbare Schule, und fast alle von ihnen wechseln im Anschluss an eine
Hochschule. Die große Mehrheit tut, was die Eltern taten: studieren. Nur 21
von 100 Akademikerkindern tun das nicht. Einer von ihnen ist Julian Diaz.
Wenn Diaz, Ende 20, die Arbeitsklamotten weggelegt hat und abends mit
Freunden in Berliner Bars unterwegs ist, kommt irgendwann im Smalltalk die
Frage, die ihn unter all den Germanistinnen, Pädagogen und Ökonominnen
schlagartig zum Exoten macht: „Und was hast du studiert?“
Nix, sagt Diaz dann. Ich arbeite auf dem Bau. Kurze Irritation, das
Gegenüber muss sich oft erst mal fangen, Diaz kennt das. Nee, wirklich?
Dann nimmt das Gespräch, auch das kennt Diaz, einen ganz bestimmten
Verlauf, es kommen Nachfragen, die den Gegensatz, den sie überbrücken
sollen, doch vertiefen. Ob das nicht hart sei, so auf dem Bau? Ist es, sagt
Diaz dann. Dafür sind die Regeln klar, am Ende des Monats kommt das Geld
und du hast Feierabend, wenn Feierabend ist. Die Arbeit bringt vielleicht
keine Selbstverwirklichung, dafür verfolgt sie dich nicht wie ein Schatten
überall hin. Keine E-Mails von der Kollegin am Wochenende, die noch eine
Präsentation fertigstellen will.
Auf der Baustelle musst du zupacken, aber auch präzise sein, so ein Gleis
muss auf den Millimeter genau verlegt werden, damit ein Zug später sicher
darauf fahren kann. Du machst etwas, was anderen nützt, auch wenn du dabei
oft unsichtbar bleibst und nicht das Gefühl hast, deine Persönlichkeit in
ein Werk zu gießen. Früher konntest du dir mit der Arbeit auf dem Bau ein
gutes Mittelschichtsleben ermöglichen, eine Wohnung kaufen, ein Haus bauen,
eine Familie versorgen, heute leider kaum. Mehr Geld wäre gut und eine
kürzere Arbeitszeit, man kann versuchen, dafür zu kämpfen, in der
Gewerkschaft, wie er das ja auch mache.
All das könnte Diaz erklären. Aber viele Studierte, sagt er, scheinen die
Details gar nicht hören zu wollen, sie führen das Gespräch immer wieder auf
den einen Punkt zurück, auf die Härte der Arbeit, so wie es die Kollegen
vom Bau nie täten.
Die Gesprächspartner mit Hochschulsozialisation beginnen mit Mutmaßungen
über die körperlichen Beanspruchungen, über den Rücken, die weiten Fahrten
zu den Baustellen, den schlauchenden Schichtdienst. Ein bisschen, als
sollte mit scheinbar mitfühlenden Fragen eigentlich nur Stoff zum Gruseln
herausgekitzelt werden. Als wollten sie den echten Arbeiter tiefer ins
Elend hineinfragen – weil es für sie so fremd ist. Vielleicht aber auch,
weil es etwas ist, vor dem man aus einem sich wichtig wähnenden Wissensjob
heraus tatsächlich Respekt zeigen kann. Weil man nach Ansatzpunkten für
Achtung sucht in dem Moment, in dem eine Begegnung so unverhofft offenbart
hat, dass sich die Gesellschaft doch in oben und unten teilt.
Eine Studentin, bei der gerade alles um die Bachelorarbeit kreiste, sagte:
So ein körperlicher Job sei doch auch mal was Schönes, man habe den Kopf
frei und könne einfach die Gedanken schweifen lassen. Der Satz ist Diaz
besonders in Erinnerung geblieben: Als wäre er bei der Arbeit nur
Muskelkraft und nicht auch Konzentration, Koordination, Aufmerksamkeit,
Freude, Ärger.
Ein Café am Berliner Hauptbahnhof, Julian Diaz war seit sieben Uhr in der
Früh im Dienst, und während er nun am Nachmittag erzählt, wie er manchmal
das Fremdeln der Akademiker spürt, fühlt man sich kurz ertappt: Hat man
sich selbst nicht eben noch die Mühen auf dem Bau schildern lassen und sie
eifrig im Block notiert? Wie es zum Beispiel ist, wenn man mit der
Stopfmaschine am Gleis steht, um den Schotter unter die Schienen zu
rütteln, wie die Vibrationen des Motors die Durchblutung verschlechtern
und sich Stunden nach der Schicht Beine und Arme taub fühlen. Warum wollte
man das wissen? Um sich seiner eigenen staubfreien Lage bewusst zu werden?
Weil man ja selbst mal aufgestiegen ist aus einfachen Verhältnissen und
sich seither heimlich dafür schämt, dass man sich so oft nicht mehr
einfühlen möchte in die Welt, aus der man kommt?
Unter Soziologinnen und Soziologen wird seit einiger Zeit diskutiert, ob
Akademiker und Nichtakademiker einander zunehmend fremd gegenüberstehen.
Die Romanistin, die sich freiberuflich als Literaturübersetzerin
durchschlägt, lebt zwar mit ähnlich prekärem Kontostand wie die
Reinigungskraft. Trotzdem kämen beide nicht auf die Idee, zur selben Klasse
zu gehören. Die Mittelschicht von früher gerät kulturell in die Defensive.
Die Steuergehilfen, Facharbeiter und Autohändler merken, dass das Geld für
sie vielleicht noch reicht, aber ihre mittlere Reife den Wert verloren hat.
Seit immer mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse anstreben, hat sich eine
neue akademische Mittelklasse herausgebildet, die nun tonangebend wird. Sie
prägt die Debatten, lebt in der Großstadt, ist in der Welt zuhause,
verwirklicht sich im Beruf und wählt bewusst einen Lebensstil, der
Einzigartigkeit verheißen und bloß nicht gewöhnlich sein soll. Man glaubt,
den eigenen gehobenen sozialen Status durch Klausuren, Zeugnisse und
Abschlussarbeiten verdient zu haben.
Der Aufgestiegene selbst ist dabei das beste Beispiel, dass man es durch
Anstrengung und Fleiß schaffen kann, und gut möglich, dass manch ein
Aufgestiegener sogar noch ein bisschen mehr an Leistung und Eigeninitiative
glaubt, gerade weil ihn trotz allem Erfolg das Gefühl nie loslässt, sich
immerzu beweisen zu müssen.
Und die, die nicht aufsteigen? Welche Deutung können die ihrem Leben geben?
Julian Diaz ist am Bodensee aufgewachsen, die Mutter Lehrerin, der Vater
Ingenieur, akademisches Milieu. Es galt als gesetzt, dass er es ihnen
nachtun würde. Das Grundschulzeugnis fiel gut aus, natürlich sollte es
danach aufs Gymnasium gehen, so schildert er es im Bahnhofscafé.
Diaz entschied sich für eine Schule mit dem Schwerpunkt auf moderne
Fremdsprachen, Französisch ab der 5. Klasse, Englisch ab der 7. Klasse. Auf
den Zeugnissen sammelte er Einser wie andere Sticker im Panini-Album, Eins
in Englisch, Eins in Französisch, Eins in Deutsch. In Mathematik vielleicht
einmal eine Zwei, das waren lange Zeit die größten Ausrutscher.
Am Küchentisch entwarfen sie manchmal die Zukunft, ganz vage. Wie wäre es
mit einem Job in der Botschaft, später. Erst mal das Studium, eine Sprache
vielleicht, dann sieht man schon.
Manchmal erzählte die Mutter von ihrer Zeit an der Uni. Dass sie die
Freiheit des Studentenlebens ein wenig zu sehr genossen hatte, etwas zu oft
feiern ging und es dann, als die Abschlussprüfungen näher rückten, leider
unschön anstrengend geworden sei. Geh das etwas ernster an als deine
Mutter. Dann wird das schon.
Für den Vater hatte das Studium eine besondere Bedeutung, es war sein Weg
aus der Armut gewesen. Er war in Venezuela aufgewachsen, hatte dort schon
mit 10, 11 Jahren auf einer Tabakplantage mithelfen müssen, schleppte nach
dem Unterricht Säcke, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis er schließlich ein
Stipendium bekam, das ihm ein Studium in Deutschland erlaubte.
In Venezuela hätte er sich womöglich nicht einmal die Busfahrt zu einer Uni
leisten können. Und jetzt saß er im Hörsaal in Lübeck, später in Ulm und
Konstanz, musste die Sprache lernen und biss sich durch die Seminare und
Vorlesungen in einer Zeit, als Professoren ihren Erfolg noch an einer hohen
Durchfallquote maßen und ihr Desinteresse an den Studierenden für ein
Qualitätssiegel hielten. Für seinen Vater, so erzählt Diaz, bedeutete das
Studium die Befreiung von harter körperlicher Arbeit. Man verdient
ordentlich, wird geachtet. So sollte es dem Sohn auch ergehen.
Dem aber kam mit 15, 16 Jahren plötzlich die Lust abhanden. Julian Diaz
ging lieber zur Antifa-Gruppe, stellte sich Naziaufmärschen entgegen,
besuchte Punkkonzerte und las Marx, statt weiter gute Noten für die Zukunft
zu sammeln. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in meiner Freizeit mit
wichtigeren Dingen beschäftige als in der Schule“, sagt er.
Es gab eine Mahnung, die sie manchmal in der Familie aussprachen. Julian
Diaz hatte früher als kleiner Junge, wenn sie zu den Verwandten nach
Venezuela reisten, immer mit kindlicher Faszination am Frankfurter
Flughafen den Mann beobachtet, der draußen auf dem Rollfeld den Wagen mit
all dem Gepäck zur Maschine fuhr. Wenn das mit dem Abitur nicht klappt,
hieß es nun, musst du Koffer fahren.
Das war ein Scherz, aus der sozialen Halbdistanz einer Familie, die sich
Kontinentalflüge leisten kann. Aber mit der Zeit wurde daraus eher ein
leiser Verzweiflungsschrei.
Die Eltern buchten Nachhilfe, und Diaz ging nach der zweiten Sitzung nicht
mehr hin. Mit 18, endlich volljährig, schrieb er die Entschuldigungen für
die Schule selbst und fehlte bald fast die Hälfte der Zeit. Er setzte in
der 12. Klasse aus, jobbte ein paar Monate bei einem
Veranstaltungstechniker in Berlin, Auf- und Abbauen bei Konzerten, um nach
den Sommerferien einen neuen Anlauf zu nehmen. Er nahm sich vor
aufzupassen, aber die Formeln und Gleichungssysteme da vorne an der Tafel
wollten einfach keinen Sinn ergeben.
Und dann kam „dieser krasse Tag“, wie Diaz sagt. Er war wieder nicht in der
Schule gewesen, als der Rektor zu Hause anrief und Julian Diaz mit dessen
Mutter zu sich bestellte. Da saßen sie nun, und der Schulleiter sagte,
nicht böse, eher bedauernd: Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder du gehst
jetzt freiwillig oder wir müssen dich von der Schule werfen.
André Schier steigt die Stufen zum Eingang hinauf, ein
Sechziger-Jahre-Funktionsbau mit Flachdach, Bildungsexpansionsbeton. Es
sind Ferien, und die leeren Fahrradständer stehen auf dem Schulhof wie
Gerippe in der Wüste. Vor der Glastür verweist Schier auf die Platte, die
hier direkt im Pflaster eingelassen ist: ein hellroter marmorner Stern wie
auf dem Walk of Fame in Hollywood, in goldenen Buchstaben steht darin: „Abi
2000“. Sein Jahrgang.
Jeden Sommer verewigen sich die Abiturientinnen und Abiturienten auf dem
Schulhof, meistens mit kleinen Plaketten. Das Denkmal der 2000er fiel
besonders groß aus und besonders teuer. Vielleicht 4.000 Mark habe der
Stern damals gekostet, sagt Schier. In der Stufe war umstritten, ob man so
viel ausgeben sollte, und bei den Versammlungen war André Schier einer
derjenigen, die besonders vehement dafür warben. „Weil es mir wichtig war,
der Schule einen Stempel aufzudrücken“, sagt er. Hier sind wir. Hier bin
auch ich. Der Erste in meiner Familie, der das Abitur geschafft hat.
## Großvater in der Papierfabrik, Großmutter Haushälterin
Seine Mutter hatte ihn früh bekommen, mit 17, da machte sie ihre Bürolehre.
Schier wuchs bei den Großeltern auf, mit dem Großvater, der in einer
Papierfabrik arbeitete, mit der Großmutter, die Haushälterin war, mit den
beiden jüngeren Brüdern seiner Mutter, seinen Onkeln, die wie größere
Brüder für ihn waren. Zu ihnen blickte er auf.
Und jetzt plötzlich: Sollte er aufs Gymnasium, ausgerechnet er, obwohl sie
alle nur die Hauptschule besucht hatten? Er ist halt anders, sagte die
Mutter zu ihren Brüdern. Er ist halt anders, fanden auch die Studienräte,
die ihn da plötzlich in ihrer Klasse entdeckten. Ein Junge mit Klamotten
vom Aldi unter lauter Markenkleidungsträgern. Ein dickes, stotterndes Kind
mit Kassengestell auf der Nase und Gläsern, die ihre neun Dioptrien nicht
im Geringsten zu verbergen versuchten.
Der Klassenlehrer, ein Bildungsbürger mit der Fächerkombination
Altgriechisch und Latein, erklärte der Mutter, wenn er sie in die Schule
bestellte, dass ihr Sohn hier nicht hingehöre. Die Mutter, eine junge Frau,
noch keine 30 und allein deswegen so anders als die Erziehungsberechtigten
der wohlbehüteten Häuser, ließ sich nicht beirren, woher auch immer sie die
Entschlossenheit nahm.
Sind seine Noten denn schlecht? Nein? Dann bleibt er selbstverständlich.
Spürt man, dass man ein Außenseiter ist, dann ist die naheliegende
Reaktion: sich unsichtbar machen, versinken vor lauter Herkunftsscham,
abgehen, die Realschule ist ja keine Schande. Oder man ergreift die Flucht
nach vorn, man kämpft, und wahrscheinlich ist es oft nur eine Frage von
Zufällen und Feinheiten der Situation, welchen Weg man wählt.
André Schier verfasste ein Pamphlet für die Schülerzeitung, in dem er den
Druck unter den Jugendlichen anprangerte, mit teurer Markenkleidung in den
Unterricht kommen zu müssen. Die Mitschüler triezten ihn, aber er
kandidierte als ihr Klassensprecher, später sogar als Schülersprecher,
trotzdem. Oder deswegen. „Ich habe mich in der Achtung der anderen
emporarbeiten müssen“, sagt er. „Du musst einen viel stärkeren Willen
haben, wenn du aus einer bildungsfernen Schicht kommst.“
Als er ein Schulpraktikum bei einem Gas- und Wasserinstallateur machte,
einem Bekannten der Familie, sagte die Großmutter am Mittagstisch: Ist das
nicht schön? Da könntest du doch nächstes Jahr deine Ausbildung anfangen.
Ich mache aber Abi, sagte Schier. Es braucht Kraft, wenn man als
Arbeiterkind einen Bildungsweg einschlägt, der so nicht vorgesehen war. Und
es braucht wohl ebenso eine bestimmte Art von Kraft, wenn man als
Akademikerkind heute das Abitur hinwirft. Man muss seinen Stolz wahren,
wenn die Hälfte eines Altersjahrgangs die Schule mit der Hochschulreife
verlässt und man selbst nicht. Wenn immer mehr junge Menschen studieren,
zuletzt waren 2,7 Millionen an den Hochschulen eingeschrieben. Wenn schon
die eigenen Eltern die Uni besucht haben.
Eine Baustelle in einem U-Bahn-Schacht. Man hört auf dem Bahnsteig dumpf
den Maschinenlärm, der herüberwabernde Staub macht die Luft diesig. Man
muss hinter die Gitter, dort wo gerade ein neues Abstellgleis verlegt wird,
auf dem die Bahn nachts parken kann. Schotterberge, wackelige
Holzschwellen, unterbrochene Schienen, Männer mit orangfarbenen Warnwesten
und Helmen aus weißem Hartschalenplastik. Ganz am Ende des Tunnels steht
Julian Diaz, über ihm, in 10 Metern Höhe, ein langes rechteckiges Loch im
dicken Dachbeton. Man sieht den grauen Himmel und schräg hineinragend einen
gelben Kran.
„Julian, bitte melden.“ Der Kranführer. Diaz zieht das Funkgerät aus der
Tasche am linken Oberschenkel. Das ist hier seine Aufgabe:
Herunternavigieren, was auf der Baustelle benötigt wird. Heraufnavigieren,
was weg muss. Vor, zurück, links, rechts. Neues Material rein, altes
Material raus. 200 verschiedene Einzelteile brauchen sie hier unten. Die
Schienen sind besonders knifflig: 16 Meter misst eine, sie schaukelt,
dreht, schwenkt aus, wenn sie am Kran hängt. 16,5 Meter misst die Dachluke,
durch die sie muss. Was noch hindurch muss: Container mit Schotter,
verschiedene Schrauben, Muttern, Betonblöcke. An diesem Vormittag lotste
Julian Diaz 18 Holzschwellen, 2 Weichenschienen und außerdem Diesel für den
Bagger nach unten.
## Mittlere Reife, und die Noten auch allenfalls mittel
Aus dem Funkgerät berlinert der Kranführer. „Is heut noch wat oder kann ick
absteigen?“ „Sind durch“, spricht Diaz ins Gerät. „Mach dich mal
schleunigst auf die Socken. Sehen wir uns morgen?“ „Hab morgen einen
Arzttermin. Is auch nich so lustig.“
Der Schulleiter hatte Julian Diaz damals ein Abgangszeugnis gegeben,
Mittlere Reife, die Noten auch allenfalls mittel, und Diaz war lange
ratlos, was er damit anfangen sollte. Er wollte vor allem weg vom Bodensee,
sagt er, weg von dem Gefühl des Misserfolgs. Er ging nach Berlin, probierte
es erst mit einer Ausbildung als Rettungsassistent und schaute schließlich
nach Lehren bei den Verkehrsbetrieben: Kfz-Mechatroniker, Bürokaufmann,
Elektroniker, das Übliche. Aber dann gab es da noch etwas: Gleisbauer.
Wenn schon kein Allerweltsdiplom von der Uni in Jura oder Medizin oder
Betriebswirtschaftslehre, warum dann nicht einen möglichst speziellen
Lehrberuf? Das Schöne an dem Job sei ja, sagt Julian Diaz, dass er so
unbekannt ist. Und damit etwas, was einem auch als Arbeiter, wenn man so
will, einen Distinktionsgewinn verschafft, ein Stückchen von der
Einzigartigkeit, mit der doch sonst vor allem die neue Akademikerklasse ihr
Leben zu dekorieren versucht.
Für sein Selbstwertgefühl, sagt Diaz, sei das jedenfalls wichtig gewesen.
Arbeiter ist nichts Unehrenhaftes, so liest man es ja auch bei Marx, und du
stehst damit definitiv auf der richtigen Seite. Und trotzdem blieb das
Gefühl, fremd zu sein. Etwa als er feststellte, dass die neuen
Klassenbrüder oft gar nicht so kämpferisch sind, wie er sich das ausgemalt
hatte, sondern sich vor allem Ärger vom Hals halten wollen. Oder wenn einer
in der Frühstückspause vom Urlaub schwärmt. Pauschalreise, Mallorca, all
inclusive, Ballermann-Musik, Hotelbüfett und Sangria mit den Kumpels, und
Julian Diaz stumm dabeisitzt und denkt: Aber vom Land hast du nichts
gesehen – warum verstehst du nicht, dass es viel schöner ist, auf eigene
Faust zu reisen?
Er verspüre dann, sagt Diaz, tatsächlich so einen leichten Anflug von
Arroganz bei sich: dass die Art, wie er zu reisen und zu leben gelernt hat,
die irgendwie bessere ist. „Das ist ein Zwiespalt, und der wird
wahrscheinlich auch nie weggehen.“
In den vergangenen Jahren haben sich Initiativen gebildet, die
Arbeiterkindern an den Unis Mut machen wollen, Stiftungen investieren ihr
Geld in die Bildungsförderung benachteiligter Gruppen, und
[1][autobiografisch geprägte Erzählungen] haben die Buchläden geflutet, die
[2][vom Aufstieg aus einfachen Verhältnissen berichten].
Nur 27 von 100 Nichtakademikerkinder schaffen es an die Hochschulen, aber
weil es immer noch so viel Nichtakademikereltern gibt, sind die Aufsteiger
längst zu einer stimmgewaltigen Gruppe geworden. Der Weg durch die
Bildungsinstitutionen hat sie mit den Mitteln und Begriffen ausgestattet,
ihre Geschichte zu erzählen. Sie erzählen dann Heldenreisen mit Hürden, in
denen die Herkunft trotz allem am Ende kein Schicksal bleibt.Für jede und
jeden Einzelnen sind das wunderbare Erfolge, für die Gesellschaft sind all
die Aufsteigergeschichte wie gemacht dafür, sie mit der in ihr klaffenden
Ungleichheit zu versöhnen, ohne dass die unangenehme Tatsache dafür eigens
angesprochen werden müsste.
Manchmal fällt zwar ein Schatten auf die Heldenerzählungen, sie handeln
dann vom Schmerz, ein altes Umfeld verloren zu haben und sich im neuen
nicht so richtig zugehörig zu fühlen. Und trotzdem hinterfragen die
Geschichten selten ihre Voraussetzungen: dass schon im Begriff des
Aufstiegs immer die Abwertung mitschwingt für das, was zurückgelassen wird.
Dass man für das, was nicht Aufstieg ist, ein Wort in den Mund nehmen
müsste, das eigentlich zu brutal ist, um es Leuten an den Kopf zu werfen.
Dass es ein Geltungsgefälle gibt, das sich nicht einfach mit gutem Willen
und beiderseitigem Wohlwollen auflösen lässt.
Oben und unten bleiben oben und unten, auch wenn man versucht,
verständnisvoller aufeinander zu blicken.
## Bergisch Gladbach, die alte Siedlung für Arbeiter
Bergisch Gladbach, die alte Siedlung für die Arbeiter der Papierfabrik,
grau-weiß verputzte Häuser. André Schier steht mit seiner Mutter vor der
Nummer 14, dem Haus der Großeltern, in dem er geblieben ist, als sie
auszog. „Wann war das?“, fragt André Schier. „Als ich die Ausbildung
gemacht habe“, sagt die Mutter. „Nicht erst später, als du den Lottoladen
übernommen hast?“
Die Mutter erzählt, wie es dann für sie war, als Jahre später der Sohn
auszog und sie zum Helfen kam. Sie standen hier und haben die Sachen ins
Auto gepackt. Ein Jurastudium in Gießen also. So unbegreiflich weit weg von
der kleinen Kleinstadtwelt, man hätte es sich nicht träumen lassen. „Wir
standen hier und haben Rotz und Wasser geheult“, sagt sie.
Der Bruder der Mutter, Werkzeugmacher, sagte: Jura? Na ja, dann wirst du
immerhin Anwalt, machst Kohle und kannst mich als deinen Fahrer einstellen.
So erinnert sich Schier an seine Worte.
Nach einem Semester wechselte er dann. Politik, Geschichte, Philosophie und
keine Aussicht mehr auf eine Kanzlei. Die Großmutter gab André Schier eine
Stellenanzeige vom Finanzamt, das gerade Azubis suchte. Und der Bruder, so
erzählt es die Mutter, verstand überhaupt nicht: Was man anfängt, macht man
zu Ende, er hatte seine Lehre ja auch durchgezogen, vielleicht hat der
André sich einfach übernommen. Und was arbeitet man eigentlich mit diesen
Fächern?
Nach dem Abschluss, als er in der Erwachsenenbildung arbeitete, umgeben von
dem ein oder anderen Doktor, rang Schier mit sich, ob er promovieren
sollte, ein Jahr, zwei Jahre, mehrere Jahre brauchte er für das
Eingeständnis, dass er es wollte.
Und der Bruder der Mutter wird vermutlich gedacht haben: Jetzt ist er
völlig übergeschnappt. Der Kontakt wurde mit den Jahren loser, die Mutter
erzählt, ihr Bruder habe hin und wieder mal bei Familienfeiern nachgefragt,
wie es denn beim André gerade laufe. Ob er immer noch an der Doktorarbeit
sitze. Vielleicht in der stillen Hoffnung, dass irgendwann sein Scheitern
bekundet wurde.
Zur Geburt seiner Tochter, erzählt André Schier, habe der Bruder
gratuliert, ein kleines Präsent inklusive. Zur erfolgreich verteidigten
Dissertation kein Wort. Vermutlich, so schildern Schier und seine Mutter
es, denkt der Bruder: Wir sind zusammen groß geworden, und jetzt hält der
sich für was Besseres. Ist einer von denen da oben.
Die Anstrengungen, die Mühen, die Zweifel, die für die Doktorarbeit
abgerungenen Gedanken stoßen bei einem Menschen, der mir wichtig ist, auf
völliges Desinteresse. So empfindet André Schier es. Seinen Onkel kann man
dazu nicht befragen. Seit Jahren haben sie nicht mehr miteinander geredet.
Es gab wohl, sagt Schier, zu viele Missverständnisse. Auf beiden Seiten.
21 Feb 2022
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## AUTOREN
Bernd Kramer
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