# taz.de -- Debütroman von Christian Baron: Gegen die Wand | |
> Wie wird ein Mensch zum Monster? Christian Baron versucht dies in „Ein | |
> Mann seiner Klasse“ zu erklären. Das Buch handelt von seinem prügelnden | |
> Vater. | |
Bild: Hat den Klassenstolz verinnerlicht: Christian Baron | |
Zwei kleine Jungs von acht und neun Jahren liegen verängstigt im Etagenbett | |
ihres Kinderzimmers und hören ein dumpfes Geräusch aus dem Schlafzimmer der | |
Eltern. Es ist der Kopf der Mutter, den der Vater an die Wand donnert. Sie | |
fürchten sich vor dem Geräusch, weil sie es kennen und weil sie wissen, was | |
es ankündigt: als nächstes sind sie selbst dran. | |
Ist der Vater – ein tätowierter, rassistischer Möbelpacker, der seine | |
Schwägerin „Bumsklumpen“ nennt – besoffen, dann verprügelt er, was sich… | |
seiner Wohnung gerade anbietet. So viel ist sicher. Alles andere im Leben | |
dieser Jungs nicht. | |
Einer der beiden ist der Journalist Christian Baron. In seinem Schulzeugnis | |
aus der 1. Klasse steht: „Mit viel Fleiß und Ausdauer hat er den Anschluss | |
an die Klasse erreicht.“ Ein Zeugnis, das man dem 1985 in Kaiserslautern | |
geborenen Baron auch 28 Jahre später im gleichen Wortlaut ausstellen | |
könnte. Er gehört einer in Deutschland äußerst seltenen [1][Spezies des | |
„Bildungsaufsteigers“] an. | |
Keiner aus Barons Familie hat je ein Gymnasium besucht, geschweige denn | |
Abitur gemacht. Aus Christian wurde der erste Baron mit | |
Universitätsabschluss. Und das trotz seiner wirklich heftigen Geschichte, | |
deren tragischen Höhepunkt er bereits mit zehn Jahren durchleben muss: | |
Seine Mutter, eine Hausfrau, die heimlich Gedichte schreibt und die der | |
Sohn sehr liebt, stirbt 1995 im Alter von 32 Jahren an Krebs. | |
Der Vater lebt zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr bei der Familie. Eine | |
Tante wird Christian und seine drei Geschwister bei sich aufnehmen. Der | |
Vater stirbt acht Jahre später. Christian wird ihn bis dahin nur noch | |
zweimal sehen: einmal vor Gericht und einmal, als er seine Kinder besoffen | |
besucht und seine kleine Tochter „Lena“ nennt, obwohl sie Laura heißt. | |
## Er hungerte zwei Wochen | |
Die Nachbarn, die Lehrer, der Beamte im Jugendamt, der eigene Vater – alle, | |
von denen Baron erzählt, hätten wohl nicht im Traum daran gedacht, dass der | |
Junge aus der Pfalz einmal Redakteur einer überregionalen Wochenzeitung | |
(des Freitag) wird. Und keiner hätte es für möglich gehalten, dass dieser | |
Junge, der angeblich mal Schimmel von der Tapete abgekratzt und gegessen | |
hat, weil er schon seit zwei Wochen hungerte, ein Buch über seinen Vater | |
schreiben würde: „Ein Mann seiner Klasse“. | |
Dieser Vater gibt seinem Sohn nur einen einzigen Rat fürs Leben: Er könne | |
machen und werden, was er wolle, aber eines niemals tun: seinen Stolz | |
verlieren. | |
Baron scheint ihn zu beherzigen. Mit Klassenstolz guckt er auf all die | |
Menschen herab, „die nie hungerten. Deren Mutter lebte. Die wussten, wie | |
Urlaub ging. Die schwimmen konnten. In deren Garage zwei Autos parkten.“ | |
Der eigene Vater ist für ihn das Ergebnis „einer ihn nicht auffangenden | |
Gesellschaft“. Ein Mann, der „zu dem werden musste, der er nun mal war.“ | |
Selbst wenn man sich mit dieser Erklärung für die Monsterwerdung eines | |
Menschen zufrieden gibt – unzufrieden macht „Ein Mann seiner Klasse“ leid… | |
trotzdem. Baron liefert viel zu wenig Material über die Gesellschaft, die | |
den Vater angeblich auf dem Gewissen hat. Und hatte der wirklich alles | |
getan, was möglich ist, um einem vorgezeichneten Schicksal zu entgehen? Wie | |
viel Chancen hat er liegen lassen? | |
## Leerstelle Ich-Erzähler | |
Will man einen solchen Vater verstehen, dann muss man ihn womöglich noch | |
viel näher kommen, als es einem lieb ist. Sicher, der Autor kann seinen | |
Vater nicht mehr fragen, was in seinem Kopf wirklich vorging, ob er sich | |
Vorwürfe machte, sich wenigstens heimlich schämte. Umso mehr aber müsste | |
sich in diesem Fall das Ich des Erzählers angreifbar machen. Es müsste | |
ehrlicher zu sich selbst sein und nicht nur von den Diskriminierungen | |
erzählen, die ihm andere zugefügt haben. | |
Es gibt in diesem Buch viele großartige Beobachtungen, aber leider schenkt | |
der Autor ihnen viel zu wenig Beachtung. [2][Zum Beispiel die Unfähigkeit | |
der Geschwister über die eigene Familie zu sprechen.] Zum Beispiel, dass | |
die Wirtin die Spiegel in Vaters Stammkneipe abgehängt hat, weil die | |
Bierbrüder es nicht mehr ertragen hätten, ihre Spiegelbilder zu sehen. | |
Fast alle literarischen Bilder wie jenes, dass seine Familie die erste | |
rot-grüne Koalition von 1998 vorweggenommen habe, versanden im Nichts. Die | |
größte Leerstelle aber ist der Ich-Erzähler selbst. Obwohl er fast nur von | |
sich spricht, gibt er nicht preis, wie stark die eigene Wahrnehmung von | |
Menschen, Gesellschaft und Leben unfreiwillig und vielleicht auch | |
unrevidierbar geprägt ist durch die Verhältnisse, in denen er groß wurde. | |
Baron erzählt vor allem von der männlichen Gewalt. Dass der Alltag einer | |
Familie, die große Fernseher statt große Bücherregale in die Wand gedübelt | |
hat, aber auch einfach nur genauso trist sein kann wie der Alltag einer | |
Familie mit Opern- und Zeit-Abonnement, das ist das kleine Geheimnis, aus | |
dem noch viele große Erzählungen entstehen sollten. | |
3 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Buch-Zeige-deine-Klasse/!5537455 | |
[2] /Klassengesellschaft-in-Deutschland/!5368011/ | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
## TAGS | |
Literatur | |
soziale Klassen | |
Klassengesellschaft | |
Didier Eribon | |
Bildungschancen | |
Klassengesellschaft | |
Kolumne Wirtschaftsweisen | |
Literatur | |
Roman | |
Neapel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sammelband „Klasse und Kampf“: Raus aus der Fischfabrik | |
Welche Geschichten werden vom „Rand“ der Gesellschaft erzählt? Unter | |
anderem Katja Oskamp, Clemens Meyer und Sharon Dodua Otoo schreiben über | |
ihre prekäre Herkunft. | |
Wirtschaftsweisen: Selbstheilung der Unterlegenen | |
Die soziale Klasse wird zunehmend Literaturthema – verbunden damit ist eine | |
Renaissance des Männerwitzes. | |
Schriftsteller über nomadische Literatur: „Ich lebe aus dem Koffer“ | |
Der Autor Eduardo Halfon über seinen jüngsten Roman „Duell“, seine Kindhe… | |
in Guatemala und das überholte Konzept einer Nationalliteratur. | |
Buch „GRM“ von Sibylle Berg: Mehr Brainfuck als Roman | |
Es wird alles immer schlimmer werden: Sibylle Berg hämmert uns in ihrem | |
schonungslosen Buch „GRM“ die Krisen der Gegenwart ein. | |
Neapel-Saga von Elena Ferrante: Europa vor nicht allzu langer Zeit | |
Elena Ferrantes Jahrhundertepos „Meine geniale Freundin“ handelt von Liebe, | |
Emanzipation und der italienischen Klassengesellschaft. |