# taz.de -- Sammelband „Klasse und Kampf“: Raus aus der Fischfabrik | |
> Welche Geschichten werden vom „Rand“ der Gesellschaft erzählt? Unter | |
> anderem Katja Oskamp, Clemens Meyer und Sharon Dodua Otoo schreiben über | |
> ihre prekäre Herkunft. | |
Bild: Satirische 1. Mai Demo im Grunewald unter dem Motto „Wo eine Villa ist,… | |
Die Klasse, ja, ja, die Klasse. Man müsse wieder mehr über | |
Klassenzusammenhänge sprechen, wird immer dort behauptet, wo die | |
„Auswüchse“ (Framing ist alles) der Identitätspolitik zurückgewiesen wer… | |
sollen. Die Klasse ist Kampfbegriff. Die Klasse ist kein Kampfbegriff mehr. | |
Sonst würde die neue Lust an der Klasse nicht auch von liberaler Seite | |
gepriesen. | |
Das Klassenbewusstsein, also das Bewusstsein für das Vorhandensein von | |
Klassen, ist eher Ausweis der Wokeness, auch wenn es nach wie vor | |
Bauchschmerzen bereitet, von der Klasse zu sprechen. Denn wie benennt man | |
„die da unten“? Als Unterschicht? | |
Ein Mann seiner Klasse ist [1][Christian Baron,] gemeinsam mit Maria | |
Barankow hat er einen Sammelband herausgegeben: „Klasse und Kampf“ | |
(Ullstein Verlag, 224 Seiten, 20 Euro). Ah, da ist er wieder, der Kampf. | |
Noch vor Kurzem hing dem Klassenkampf das Odeur von langhaarigen, in | |
K-Gruppen organisierten Mittelschichts- und Altnazikindern an. K für | |
Kader, nicht für Klasse. Seit wann sind die Klassenerzählungen en vogue? | |
## Duft von Echtheit | |
Nicht erst seit dem Bucherfolg „Ein Mann seiner Klasse“, eben von Christian | |
Baron, nicht erst seit [2][Édouard Louis'] gefeiertem „Das Ende von Eddy“. | |
Schon bei Clemens-Meyer-Lesungen (ebenfalls im Band vertreten) vor zehn | |
oder fünfzehn Jahren spürte man den wohligen Grusel der Anwesenden und die | |
Tattoos und die Arbeitswohnungen im harten Leipziger Osten – versprühten | |
sie nicht den Duft von Echtheit? Was war diese Echtheit? Axe-Deo und der | |
Geruch von aufgewärmten Knackwürstchen aus dem Glas? Man sog sie begierig | |
auf, die Erzählungen von Puffs und Pimps. | |
Dann der große, viel bejubelte Erfolg von Katja Oskamps Erzählungen in | |
[3][„Marzahn, mon amour“]. Geschichten von unten, buchstäblich, bei der | |
Fußpflege arglosen Kunden abgelauscht. Auch das ein Aspekt unserer, der | |
schreibenden Klasse: Da wird den anderen verständnisvoll abgehört, was | |
sich abgetippt als Nischenerzählung vermarkten lässt. No offense, das tun | |
wir doch alle. | |
Auch Katja Oskamp kommt im Sammelband zu Wort, sie erzählt von „Lokführer“ | |
Felix, den „Schatzi“ zur Fußpflege schickt. Die Heimeligkeit beginnt schon | |
da, wo die Berliner erwartungsgemäß berlinern. „Uns jeht’s supi! Mach da | |
keene Sorgen. Allet jut! Küsschen, Küsschen!“ | |
Felix, der im Heim groß wurde und erst mit sechs Jahren laufen lernte, hat | |
eine typisch-tragische Biografie. Erst betrügt ihn das Leben um Chancen, | |
dann betrügen ihn die amtlich verordneten Eingliederungsmaßnahmen um einen | |
gerechten Lohn. Die Hilfe ist Ausbeutung, zementiert seinen Status. | |
So zärtlich, wie Oskamp Felix beschreibt, salbt sie ihm auch die Füße: „Um | |
ihn aufzuheitern, gelte ich mit der Fußcreme die schwarzen Haarbüschelchen, | |
die auf den dürren, starren Großzehen sprossen, erst nach vorn, dann | |
entgegen der Wuchsrichtung nach hinten. Zum Schluss scheitelte ich beide | |
Büschelchen akkurat und sagte: ‚Zehenfrisur fertig.‘“ | |
## Gefeiert vom Feuilleton | |
Oskamps Geschichten werden vom Feuilleton regelrecht gefeiert. Das muss uns | |
misstrauisch stimmen (nicht, weil sie nicht unterhaltsam wären, oder weil | |
man ihnen an der ein oder anderen Stelle den Hang zum Kitsch vorwerfen | |
kann). Bei Oskamp sind die Randständigen immer zufrieden. Vielleicht ist es | |
das, was Unbehagen erzeugen sollte? | |
Der andere Leipziger, Clemens Meyer, zelebriert neben DDR-Ruinenromantik | |
das Bild des Arbeiters als Mann – ehrlich, hart arbeitend, ein echter Kerl | |
eben. „Das Land zerfiel, moralisch und baulich, die einstige große Idee von | |
einem anderen Deutschland war kaputt, die Fassaden waren abgebröckelt, das | |
Mauerwerk war nackt und grau und schwarz, und wir bauten auf, in den | |
Neunzigern, gingen auf die Baustellen, dort schien das Leben rau und wild | |
und hart, dort wollten wir Männer sein…“ | |
Bei Meyer tritt am deutlichsten zutage, was sich in den anderen Texten eher | |
verunklärt: die völlig unterschiedlichen Bilder von Frauen und Männern am | |
Rande – er ist der Malocher, fetischisiert in seiner Körperlichkeit (mal | |
raucht, mal säuft er), sie ist die gute Seele (auch bei Baron). | |
## Seltsame Rollenverteilung für Männer und Frauen | |
Nicht nur in den Texten, auch in der Auswahl der Autor*innen ist eine | |
seltsame Rollenverteilung zu verspüren – die Frauen sind | |
identitätspolitisch (da haben wir’s wieder!) mehrfach verortet, sind Person | |
of color, queer, alleinerziehend, ost- oder westdeutsch, mit | |
Migrationshintergrund; die Männer sind – Männer. | |
Wollte man böse sein (was der Kritikerjob ja voraussetzt), könnte man | |
meinen, hier wurde eine Checkliste abgehakt. Was aber nur zeigt: Auch die | |
Klassenerzählung muss identitätspolitisch aufgeschlüsselt werden. | |
[4][Sharon Dodua Otoo] legt sehr detailliert ihren struggle als | |
alleinerziehende Mutter und PoC auf, die trotz Bucherfolges am finanziellen | |
Limit, eigentlich immer im Minus lebt – überhaupt ist der „Kampf“ im Band | |
eher ein struggle, ein Kampf im und ums Dasein. | |
Otoo fragt, welcher Klasse eine preisgekrönte Autorin, deren Geld nicht zum | |
Leben reicht, nun eigentlich angehört. Oder wie die Paradoxie zu erklären | |
ist, dass ihre Eltern habituell nicht zur Mittelschicht gehören, aber | |
finanziell doch bessergestellt sind als sie, die als Autorin den | |
bürgerlichen Beruf schlechthin ausübt. | |
Dieses prekäre Zwischen-den-Stühlen-Stehen (oder eher zwischen den Klassen) | |
verhindert nicht nur Solidarität, sondern überhaupt die Möglichkeit, sich | |
als Angehörige einer Klasse zu verorten. „Wie soll ich über all das | |
berichten, ohne mich bloßzustellen und mich noch verwundbarer zu machen?“ | |
## Irreal tragisch | |
Nicht nur ihr Text, auch jener von [5][Lucy Fricke] über sich selbst als | |
17-Jährige in einer Fischfabrik, kreist um die Frage, wie sich | |
schambehaftete Themen im Lichte der Öffentlichkeit als „mutige“ Texte | |
etablieren. Auch Frickes Text zielt auf die eigentümliche Diskrepanz | |
zwischen dem symbolischen Kapital der Schreibenden und der Kapitallosigkeit | |
der Herkunft, aber sie geht noch weiter: Ihre Geschichte erscheint irreal | |
tragisch. Kann eine Geschichte so wahr sein, dass sie Klischee wird? | |
Fricke beobachtet in ihrem Text das eigene, jüngere Ich, staunend, | |
befremdet. Von der Schulabbrecherin zur gefeierten Autorin. | |
Meist hintergründig geht es in jeder dieser Geschichten vom „Rand“ um das | |
Schreiben als biografische Pointe: dass diejenigen, die ihre Geschichten | |
erzählen, das Schreiben zur Arbeit erkoren haben. Unabhängig von der Frage, | |
wie viel Geld sie mit diesem Schreiben verdienen, ob es uns prekär oder | |
komfortabel über Wasser hält, erscheint bereits die Berufsbezeichnung | |
„Autor“ als Behauptung gegen die Herkunft. Das Mittelhochdeutsche arbeit | |
meint ja Mühsal; der Schreibende mag sich auch noch so quälen, er ist kein | |
Bandarbeiter. | |
## Muss nicht am Konservendosenband stehen | |
Das versteht auch Martin Becker: „Dagegen habe ich wirklich Glück gehabt. | |
Das weiß ich, weil ich alles gesehen und alles verstanden habe, als kleines | |
Kind schon. Ich habe einen Beruf, der mir qua Herkunft nicht zusteht, ich | |
verdiene mit ihm gutes Geld und muss dafür nicht am Konservendosenband | |
stehen oder in der gleißenden Hitze der Industrieschmiede.“ | |
Eher implizit wird immer auch verhandelt, welche Geschichten wir uns vom | |
Rand erzählen. Mit welchen Bildern und Emotionen wir die Geschichten | |
aufladen und wie das Individuum gegen die Geschichten anerzählen muss. | |
Pınar Karabulut zeigt ihren Vater, der als Gastarbeiter nach Deutschland | |
kam, als gewitzten, klugen Mann, der sich in seiner Community Respekt | |
erarbeitet. Der aber zugleich von der Mehrheitsgesellschaft keineswegs | |
Respekt erhält. | |
Karabulut wird als Migrantin wahrgenommen, ist aber keine, jedenfalls nicht | |
im engeren Sinne: „Ganz abgesehen davon, dass meine größte | |
Migrationserfahrung die ‚Auswanderung‘ von Nordrhein-Westfalen nach Bayern | |
war, bleiben die Kategorisierung und das Kastensystem in den Köpfen der | |
Mehrheitsgesellschaft bestehen.“ | |
Sie wehrt sich gegen das Bild der Quotenmigrantin und gegen die | |
Vorstellung, sie sei eine Kulturfremde: „Besonders interessant finde ich, | |
dass mir jahrelang gesagt wurde, dass ich keine Jobs am Theater bekommen | |
könnte, weil ich migrantisch sei. Seit einiger Zeit muss ich mir anhören, | |
dass ich Jobs am Theater bekäme, nur weil ich migrantisch sei.“ | |
## Stellenweise kämpferisch | |
Karabuluts Text ist einer der wenigen, der stellenweise kämpferisch | |
daherkommt. Viele Texte beschreiben, sind deskriptiv reportagehaft und doch | |
literarisch stark überformt. Mit der Analyse der Verhältnisse halten sie | |
sich eher nicht auf. So kommt es, dass das System, das die Verhältnisse | |
reproduziert, als dunkles Zentrum unterbelichtet ist. Es gibt keinen Kampf | |
aus der Klasse heraus, es gibt keinen Antagonismus; mancher Text läuft | |
Gefahr, den Klassenwiderspruch als Behaglichkeitserzählung literarisch | |
einzuhegen. | |
Was folgt aus diesen Texten, wenn diejenigen, die sie lesen, ihre Kinder | |
weiterhin auf die besseren (migrantenfreien?) Schulen schicken, ihre | |
Wohnungen in den besseren (migrantenfreien?) Vierteln wählen, in ihrer | |
Vierzimmer-Altbauwohnung weder mit altersarmen Witwen noch | |
alleinerziehenden Müttern von vier oder fünf Kindern von unterschiedlichen | |
Vätern konfrontiert werden („so was muss heute ja nicht mehr sein“)? | |
Wie kommt es, dass man nach dem Lesen nicht wütend, sondern melancholisch | |
ist? Weil die Texte zu schön sind, im literarischen Sinne? Fast alle liest | |
man gerührt. Vielleicht ist den Protagonisten vor lauter struggle die Lust | |
am Kämpfen vergangen? | |
18 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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