# taz.de -- Clemens Meyer „Nacht im Bioskop“: Im Hintergrund das Ungeheuerl… | |
> In seinem Roman „Nacht im Bioskop“ nähert sich Clemens Meyer dem Massaker | |
> von Novi Sad. Alles Atmosphärische in der Erzählung ist toll. | |
Bild: „Was genau hat er gesehen, damals? (…) Chaplin, der dem Führer so ä… | |
Es ist bitterkalt im Januar 1942 in Novi Sad, mehr als zwanzig Grad unter | |
null, die Donau ist gefroren. Ein Mann kehrt zurück in die Stadt, die die | |
Ungarn besetzt halten; er ist schon einige Male hier gewesen, vor dem | |
Krieg. Er stromert durch die Straßen, blickt hinüber zu den Soldaten, die | |
auf ihren Posten stehen, und er entdeckt das kleine Kino, in dem er Jahre | |
zuvor gewesen war. | |
„Was genau hat er gesehen, damals? Er versucht sich zu erinnern, während er | |
immer noch die Soldaten beobachtet. (…) Chaplin, der dem Führer so ähnlich | |
sieht? Nein. Der Mann mit dem weißen Gesicht? Nein. Der Mann, der an den | |
Zeigern einer Uhr hing, oben an einem riesigen Turm? King Kong? Der junge | |
John Wayne? Nein. Die kamen doch erst später. (…) Der Fuhrmann des Todes?“ | |
Dieser Kinoliebhaber, der als Mitglied der faschistischen Ustaša eingeführt | |
wird und der in vielem anderen eine schemenhafte Figur bleibt, ist der | |
Protagonist der neuen Erzählung von [1][Clemens Meyer]. „Nacht im Bioskop“ | |
heißt das 100-Seiten-Bändchen, die Geschichte spielt in den Tagen des | |
Massakers von Novi Sad während des Zweiten Weltkriegs. | |
## Das Bioskop in Novi Sad | |
Das Bioskop – der Begriff wurde in den frühen Tagen der Filmkunst synonym | |
für „Kino“ verwendet – ist ein zentraler Handlungsort darin, der | |
Protagonist wird eine Frau kennenlernen und mit ihr in dieses Bioskop, | |
eines der ältesten Kinos überhaupt, gehen. Sie sehen, ausgerechnet, den | |
Karl-May-Film „Durch die Wüste“, während sich das Grauen andeutet. | |
Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer war im Jahr 2015 im Rahmen eines | |
Stipendiums und danach noch mehrere Male in Serbien und Novi Sad. Seine | |
Recherchen sollen in ein größeres Romanprojekt einfließen, an dem er seit | |
vielen Jahren arbeitet und das frühestens im Herbst 2022 erscheinen soll | |
(„Die Projektoren“). | |
Das 1942er Massaker ist ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingebrannt: | |
Die ungarischen Einheiten, Verbündete der Nazis (ebenso wie die Ustaša), | |
töteten zwischen dem 21. und 23. Januar mehr als 1.200 Menschen, vor allem | |
Juden, Serben und Roma. Die Leichen versenkten sie in einem Eisloch in der | |
Donau. In der Literatur haben sich unter anderem der jugoslawische Autor | |
Danilo Kiš und der [2][serbische Schriftsteller Ivan Ivanji] mit Novi Sad | |
und den Säuberungen beschäftigt, beide lebten seinerzeit dort. | |
## Alltagseindrücke des Krieges | |
Auf einer ersten Ebene folgt Meyer in „Nacht im Bioskop“ dem mysteriösen | |
Mann durch die Stadt und schildert szenisch die Alltagseindrücke im Krieg: | |
Passkontrollen, Bahnhofsszenen, Schwarzmarktkäufe. Das Ungeheuerliche, das | |
geschehen soll, scheint als Hintergrundrauschen schon präsent zu sein; | |
bereits im kurzen Prolog liegt eine Leiche unter dem Eis. | |
Auf der zweiten Ebene handelt die Erzählung vom Kino als Flucht- und | |
Sehnsuchtsort. Meyer beschreibt minutiös das Funktionieren der Projektoren, | |
den Filmgenuss und die Rituale im Lichtspielhaus, er huldigt der | |
Stummfilm-Ära. | |
Alles Atmosphärische in dieser Erzählung ist toll. Meyer schreibt teils mit | |
assoziativer, collagierter Erzähltechnik, manchmal an Döblin erinnernd. | |
„Sie sieht die stanica sich weiten, (…) eine Kathedrale, still und leer | |
trotz all der Menschen in ihr, weit und hoch, bevor sich Wände und Decke | |
wieder verengen, die Menge, die wartet und geteilt wird in Menschen mit | |
Papieren und Menschen ohne Papiere, wird zusammengeschoben im kleiner | |
werdenden Raum, und draußen, auf dem Bahnhofsvorplatz, stoßen die wartenden | |
Lastkraftwagen Verbrennungsgase aus, still auch dieser Vorgang, die Motoren | |
müssen laufen (…)“. | |
## Historische Postkarten aus Novi Sad | |
Seine Sätze werden zur Kamera, die kurz an die Decke des Bahnhofsgebäudes | |
schwenkt, dann hinunter auf die Menschen, schließlich nach draußen. Auf | |
ähnliche Weise bewegt man sich durch die Handlung, Schritt für Schritt, | |
Satz für Satz, im Rhythmus der Parataxe. Die historischen Postkarten von | |
Novi Sad, mit denen der Band bebildert ist, lassen die Erzählung noch | |
lebendiger wirken. | |
Während das Bild der Stadt in jeder Hinsicht scharf gezeichnet ist, bleibt | |
die Hauptfigur in Teilen ein Rätsel. Ob der Mann überhaupt wirklich bei der | |
Ustaša ist, warum er handelt, wie er handelt, bis hin zum Plot, das lässt | |
Meyer im Ungewissen. | |
Das Trauma von Novi Sad bekommt man in dieser Kurzgeschichte sehr | |
eindrücklich geschildert; um das große Ganze zu fassen, würde man diese | |
Episode tatsächlich gern noch einmal eingebunden in ein Romangeschehen | |
lesen. | |
7 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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