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# taz.de -- Roman „Hunde und andere“ auf Deutsch: Eine Erweiterung von Frei…
> Biljana Jovanovićs Roman „Hunde und andere“ brach 1980 sowohl
> gesellschaftliche als auch literarische Tabus. Er ist nun auf Deutsch
> erschienen.
Bild: Biljana Jovanovićs Roman „Hunde und andere“ bricht noch heute Tabus
Von einem „riesigen Wirrwarr“ in ihrem Kopf spricht die etwa 30-jährige
Ich-Erzählerin in Biljana Jovanovićs Roman „Hunde und andere“ gleich zu
Beginn. Sie legt die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerungen offen, auf eine
radikalere Weise als wir es als erfahrene Leser*innen natürlich längst
gewohnt sind. Sie schießt alle als eigene geglaubten Erinnerungen in den
Wind, erklärt sie zu Manipulationen durch die Familie – und fühlt sich
frei: „Wie dankbar doch diese Leere ist! Dort hinein (in diese Leere, in
das breiteste Loch der Welt) konnte ich alles stopfen: […] Ich fing also
an, mir meine eigene Kindheit auszudenken.“
Die Lesenden wissen also gleich, woran sie sind – oder eben gar nicht.
Wahrscheinlich fällt hier schon die Entscheidung, dranzubleiben oder
auszusteigen. Dem rasanten Fluss von Jovanovićs Sprache zu folgen, ihren
assoziativen Sprüngen, ihrer Negierung einer gewohnten Erzählform, ist
nicht immer ganz leicht – aber zu entdecken ist eine eigenwillige und in
den Ländern Ex-Jugoslawiens einflussreiche Autorin.
Biljana Jovanović, 1953 in Belgrad geboren, starb 1996 im Alter von nur 43
Jahren. Sie veröffentlichte Romane, Gedichte, Theaterstücke und engagierte
sich Anfang der 90er Jahre in der serbischen Friedensbewegung. „Hunde und
andere“ erschien 1980 und griff gleich mehrere Themen auf, die in der
extrem patriarchalen serbischen Gesellschaft tabuisiert waren:
Homosexualität, Gewalt gegen Kinder und Frauen, psychische Erkrankung.
Das alles verdichtet sich in der Figur der Erzählerin Lidija und ihrer
Familie. Mit ihrem Bruder Danilo und ihrer Großmutter Jaglika lebt sie in
einer kleinen Wohnung. Diese spiegelt die Enge der Verhältnisse für eine
junge Frau, die sich mit den Konventionen nicht arrangieren kann und will.
Die Mutter Marina lebt im Ausland. Das Verhältnis zwischen ihr und der
Tochter ist zerrüttet. Der Vater beging Selbstmord als Lidija klein war,
und wird dafür von Marina und Jaglika verachtet.
## Erinnerungen an Gewalt in rotziger Sprache
In mit „Bild aus der Kindheit“ überschriebenen Passagen – wir glauben sie
der Erzählerin meist doch – zoomt sie auf alltägliche Szenen, die sich
plötzlich mit Gewalt aufladen. Einer Gewalt der Erwachsenen, der Lidija und
Danilo ausgesetzt sind. Erstere reagiert mit Wut, Verachtung, scharfem
Verstand, darunter liegen die Verletzungen. Die Autorin verleiht ihr dafür
eine rotzige, überbordende Sprache.
Das Leben erscheint Lidija, die als Bibliothekarin arbeitet, meist öde.
Aber Milena kann sie nicht widerstehen, nicht ihrer schillernden, weichen
Haut. Mit den expliziten Schilderungen lesbischer Sexualität wagte
Jovanović damals einen unerhörten Tabubruch in einem Land, in dem queere
Menschen bis heute oft mit einer ihnen feindlich gesinnten Stimmung
konfrontiert sind. Mit galligem Witz karikiert sie Männlichkeitsbilder,
thematisiert sexuelle Übergriffigkeit.
Insbesondere in der Figur Danilos greift sie auch den Umgang mit
intellektueller Beeinträchtigung und psychischer Erkrankung auf. Sein
übersprühendes Verhalten stößt auf Ablehnung, das „Monster“ gehört
weggesperrt. In der Ausgestaltung der ambivalenten Geschwisterbeziehung
offenbart sie ihr Können auch in leisen Tönen, manchmal komisch-absurd und
herzzerreißend zugleich.
In Biljana Jovanovićs literarische Konventionen sprengender Form und
Sprache liegt eine Erweiterung von Freiheit, die die gesellschaftliche
Realität nicht gewährt.
Biljana Jovanović: „Hunde und andere“. Aus dem Serbischen von Marie
Alpermann und Tijana Matijević. eta Verlag, Berlin 2023. 184 Seiten, 21,90
Euro
11 Jul 2023
## AUTOREN
Carola Ebeling
## TAGS
Ex-Jugoslawien
Literatur
häusliche Gewalt
Serbien
Homosexualität
Patriarchat
Tabu
Queer
Französische Literatur
Buch
Lesestück Recherche und Reportage
Literatur
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