# taz.de -- Roman über lesbische Selbstfindung: Bruch mit jeglicher Bürgerlic… | |
> Die lesbische Frau tritt auf als einsamer Cowboy. „Love Me Tender“ von | |
> Constance Debré ist ein beeindruckend kämpferisches Stück | |
> Selbstfindungsprosa. | |
Bild: Raspelkurze Haare und Tattoos: Constance Debré sieht aus wie ihre Erzäh… | |
In ihrem ersten Leben ist Constance Debré Anwältin. Sie ist verheiratet, | |
hat einen Sohn. Der Familienclan, aus dem sie stammt, ist so illuster wie | |
bürgerlich. Der Großvater war französischer Premierminister, der Vater | |
Journalist, die Mutter ein adeliges Model. Doch dann, mit 43 Jahren, | |
kündigt Debré ihren Job, trennt sich von ihrem Ehemann, zieht aus der | |
gemeinsamen Wohnung. Sie outet sich als lesbisch und wird Schriftstellerin. | |
„Love Me Tender“ ist eines der vier Bücher, die sie seitdem veröffentlicht | |
hat, und das erste ihrer autofiktionalen Werke, das ins Deutsche übersetzt | |
wurde. Die Erzählerin darin teilt Debrés Biografie und ihr Aussehen. | |
Raspelkurze Haare, Männerhemd, Tattoos. Und auch sie hat den unbedingten | |
Willen, die Welt, in der sie aufgewachsen ist, zu verlassen. | |
Zu Beginn lebt sie noch in einer Einzimmerwohnung mit Papptellern. Später | |
gibt sie auch diese auf und wohnt zur Untermiete. Ihren Besitz gibt sie | |
weg, Lebensmittel klaut sie. Ein Sicherheitsnetz soll es nicht geben: | |
keinen Job, keine Community, keine Wahlverwandtschaften. Alles wird | |
aufgekündigt. Eine Selbstenteignung – so radikal wie möglich: „Ein | |
komfortables Leben mit vollem Kühlschrank, lieber sterbe ich.“ | |
Wie es ist, weiblich und „klassenflüchtig“ zu sein, darüber schreibt | |
aktuell wahrscheinlich niemand so prominent wie die [1][französische | |
Autorin Annie Ernaux]. Literarisch erforscht sie ihre Herkunft aus einer | |
Arbeiterfamilie und ihren Weg ins privilegierte Dasein einer | |
Intellektuellen. Constance Debré macht die Rolle rückwärts. | |
Was soll das, fragt man sich, performt hier jemand Armut, um sich dem Leben | |
wieder nah zu fühlen? Versucht man sich vorzustellen, wie einflussreich die | |
im Buch anskizzierte – und Debrés wirkliche – Familie in Frankreich sein | |
dürfte, und welche weitreichenden Privilegien mit diesem sozialen Status | |
verbunden sind, dann gibt es aus diesem Leben vielleicht keine softe | |
Exitstrategie. | |
## Sex statt Nähe | |
In rauem Ton und protokollarischem Stil erzählt das weibliche Ich über | |
einen Alltag befreit von Lohn- und Sorgearbeit: „Meine Arbeit besteht | |
darin, zu warten, zu schwimmen und Frauen zu ficken.“ Ihre Eroberungen sind | |
zahlreich. Ihr geht es um Sex, nicht um emotionale Nähe, und darum, eine | |
mit Männlichkeit assoziierte Härte und Isolation zu pflegen – die lesbische | |
Frau als einsamer Cowboy. Ein Bruch mit jeglicher Bürgerlichkeit soll es | |
sein, auch einer homosexuellen, und eine Lebensweise quer zur Norm. | |
Warten, das muss die Erzählerin auf ihren achtjährigen Sohn Paul. Vom | |
Ehemann Laurent lebt sie schon drei Jahre getrennt, als sie ihm eröffnet: | |
„Ich hab jetzt was mit Frauen.“ Darauf bricht er den Kontakt ab und lässt | |
die Erzählerin nicht mehr zu Paul. Als sie einen Anwalt einschaltet, | |
beantragt Laurent das alleinige Sorgerecht und beschuldigt sie des Inzests | |
und der Pädophilie. Es beginnt der Kampf um Besuchszeiten und | |
psychologische Gutachten, gegen Verleumdung, Vorurteile und Entfremdung. | |
Dieser zermürbende Sorgerechtsstreit ist der eigentliche erzählerische | |
Rahmen von „Love Me Tender“. Wie liebt man seinen Sohn aus der Ferne? Wie | |
liebt man ihn, wenn man es liebt, allein zu sein? Wie sieht Mutterschaft | |
aus, wenn man sich von keiner sozialen Beziehung definieren lassen will und | |
gleichzeitig der Kontakt zum eigenen Kind von der französischen Justiz | |
diktiert wird? Im Schreiben über diese Zerrissenheit und diesen Schmerz ist | |
„Love Me Tender“ besonders stark. | |
## Wut auf feministische und queere Bewegungen | |
Doch wenn die Erzählerin mit Wut über Familie und gesellschaftliche | |
Erwartungen schreibt, stolpert man vor allem in den ersten beiden Teilen | |
des Texts über manch einen ihrer Sätze. „Wer möchte schon Mutter sein?“, | |
liest man da zum Beispiel. „Außer Leute, die alles falsch gemacht haben im | |
Leben. Die in allen Angelegenheiten dermaßen gescheitert sind, dass sie | |
sich nur so, durch ihre Mutterschaft, an der Welt rächen können.“ Oder wenn | |
es um [2][feministische und queere Bewegungen] geht: „Draußen in der Welt | |
geht es nur um MeToo und Ehe für alle, aber das ist nur Zirkus.“ | |
Aus feministischer Perspektive wirft man einer anderen Frau nur mit | |
Unbehagen vor, mit ihrer Wut sei irgendetwas nicht in Ordnung. Wenn wütende | |
Frauen als unangenehm gelten, sind Rants über Mutterschaft vielleicht | |
gerade ein Zeugnis für ein unangepasstes und der eigenen Autonomie | |
verpflichtetes weibliches Ich. Ein Ich, das durch den Versuch, sich aus | |
geerbten Macht- und Familienstrukturen zu lösen, auf sich selbst | |
zurückgeworfen wird. | |
Diese absolute Konzentration auf sich stößt aber gerade durch einen Mann, | |
nämlich Laurent, und den Sorgerechtsstreit an seine Grenzen. Hier schränken | |
Staat und diskriminierende Vorwürfe die persönliche Freiheit ein. Wut als | |
emotionale Reaktion darauf ist nachvollziehbar, steht einer Analyse dieses | |
politischen Kontexts auf literarischer Ebene allerdings im Weg. Trotzdem | |
liest sich „Love Me Tender“ als beeindruckender Versuch einer Frau, zu sich | |
selbst und zur Welt in ein neues Verhältnis zu treten. | |
6 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Annie-Ernaux-Familienleben-im-Film/!5901571 | |
[2] /Regisseurin-ueber-queere-Biker-im-Banlieue/!5943717 | |
## AUTOREN | |
Hanna Kopp | |
## TAGS | |
Französische Literatur | |
Literatur | |
Schwerpunkt LGBTQIA-Community | |
lesbisch | |
Selbstfindung | |
GNS | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Literatur | |
Ex-Jugoslawien | |
Schwerpunkt #metoo | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Queerer Kultroman von Qiu Miaojin: Meine Seele will ewiglich lieben | |
Endlich ist der letzte Roman von Qiu Miaojin auf Deutsch erhältlich. Er | |
demonstriert, warum die taiwanische Autorin zur queeren Ikone wurde. | |
Roman „Hunde und andere“ auf Deutsch: Eine Erweiterung von Freiheit | |
Biljana Jovanovićs Roman „Hunde und andere“ brach 1980 sowohl | |
gesellschaftliche als auch literarische Tabus. Er ist nun auf Deutsch | |
erschienen. | |
Lauren Groffs Roman „Matrix“: Nonnen, Gärten und Sex | |
„Matrix“ heißt Lauren Groffs neuer Roman. Er handelt von einem Nonnenleben | |
im 12. Jahrhundert und aktuellen Debatten über MeToo und Priesterinnen. |