# taz.de -- Queerer Kultroman von Qiu Miaojin: Meine Seele will ewiglich lieben | |
> Endlich ist der letzte Roman von Qiu Miaojin auf Deutsch erhältlich. Er | |
> demonstriert, warum die taiwanische Autorin zur queeren Ikone wurde. | |
Bild: Wurde nach ihrem frühen Tod zur Ikone: Autorin Qiu Miaojin | |
Dass ein Roman eine solche Kraft hat, den Sprachgebrauch zu verändern, | |
passiert selten. Der taiwanischen Autorin Qiu Miaojin ist genau das mit | |
ihrem Debütroman „Aufzeichnungen eines Krokodils“ aus dem Jahr 1994 | |
gelungen. Der Name ihrer Protagonistin Lazi wird im chinesischen | |
Sprachgebrauch bis heute als Synonym für „Lesbe“ genutzt und ist aus der | |
LGBTQ*-Szene nicht wegzudenken. | |
Qiu wurde 1969 geboren, schrieb ihr Erstlingswerk im Alter von nur 23 | |
Jahren und thematisierte in dem stark autobiografisch geprägten Roman das | |
Gefühl des Andersseins und sexuelle Beziehungen zu Frauen. | |
So richtig bekannt wurde die Autorin tragischerweise aber erst nach der | |
Veröffentlichung, als sie ihrem Leben mit 26 Jahren ein Ende setzte. Ihr | |
Suizid erschütterte die Szene und ließ sie endgültig zu einer queeren Ikone | |
werden, deren Popularität heute durch späte Übersetzungen weltweit immer | |
größer wird. | |
Und das nicht ohne Grund, auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung – die erste | |
deutsche Übersetzung kam 2020 heraus – wirken Qius Werke modern und | |
zeitgenössisch. Das beweist auch die deutsche Erstveröffentlichung ihres | |
letzten Buchs, „Letzte Worte vom Montmartre“, die nun erschien. | |
Der Roman besteht aus 20 Briefen, die man laut der Autorin in beliebiger | |
Reihenfolge lesen kann. Die Erzählerin heißt Zoë, sie schreibt die Briefe | |
an ihre entfremdete Liebe Xu, in ihnen bittet sie um einen Neuanfang und | |
analysiert die Beziehung. Mit einer Mischung aus Fiktion und | |
autobiografischem Schreiben bewegt sich Qiu dabei fließend zwischen den | |
Gattungen Briefroman, Tagebuch und Autobiografie. | |
## Der Abschied vom Leben | |
Autobiografische Bezüge sind in dem Roman ständig gegeben, doch bestimmte | |
Gegebenheiten veränderte Qiu auch subtil. Zum Beispiel befindet sich die | |
Protagonistin Zoë im Roman zum Zeitpunkt des Schreibens für ein Studium in | |
Paris. Auch Qiu zog, nachdem sie in Taipeh studierte, für ein | |
weiterführendes Studium der klinischen Psychologie und Gender Studies 1994 | |
in die französische Hauptstadt. Kurz zuvor hatte sie ihr Debüt fertigstellt | |
und beim Wochenmagazin Der Journalist gearbeitet. Ihr Aufenthalt in Paris | |
betrug in der Realität allerdings nur ein Jahr und nicht drei Jahre, wie in | |
den Briefen angedeutet wird. | |
Dass Zoës Selbstmordgedanken und somit der Abschied vom Leben das große | |
Thema des Romans ist, deckt sich wiederum mit der Realität. Schon auf den | |
ersten Seiten heißt es: „Gewidmet dem gestorbenen Häschen und mir selbst, | |
die unlängst gestorben sein wird.“ Dieser Hintergrund macht den Roman auch | |
zu einem herausfordernden Buch, das trotz seiner literarischen Stärken | |
nicht immer einfach zu lesen ist. | |
Schon der Anfang ist turbulent. Der erste Brief ist gleich ein emotionaler | |
Strudel. Zoë befindet sich dort im absoluten Trennungsschmerz über ihre | |
große Liebe und versucht zu ihr mit pathetischen Sätzen vorzudringen wie: | |
„Meine Seele hat vor, dir ewiglich zu gehören, dich ewiglich zu lieben und | |
nie aufzuhören, zu dir zu sprechen.“ | |
Zu diesem Zeitpunkt lebt ihre Ex-Freundin Xu wieder in Taipeh. Zoë befindet | |
sich allein in Paris und der in der Beziehung gemeinsam gekaufte Hase ist | |
gerade gestorben. Ihre intensiven Gefühle von Trauer und Leid versucht sie | |
in Worte zu fassen, doch die Protagonistin ist so emotional, dass ihre | |
Gedanken zu kreisen beginnen und in Wiederholungen abrutschen. | |
## Passen sie überhaupt zusammen? | |
Es scheint, als brenne sie so vor Liebe, dass sie nicht weiß, wohin mit | |
ihren Gefühlen. Allerdings ändert sich der literarische Ton mitunter | |
schnell, schon der Brief am nächsten Tag wirkt gefasster. Hier beschreibt | |
Zoë ihren Tag mit dem toten „Häschen“, das sie letztendlich beerdigt. | |
Nach und nach erfährt man mehr über die Situation der beiden Frauen, etwa | |
dass Xu Zoë betrogen haben soll und beide drei Jahre zusammen waren. Oder | |
dass Zoë sich als psychisch labil bezeichnet und in der Vergangenheit | |
depressiv war. Sie reflektiert außerdem, dass sie und Xu eigentlich nicht | |
zusammengepasst hätten, weil sie sich zu oft ungewollt verletzten. | |
Zoë analysiert das in einem klaren Moment: „Ich fiel in einen krankhaften | |
Zustand blindwütiger Tobsucht, du versankst in den krankhaften Zustand | |
einer langanhaltenden, geistigen Verschlossenheit. […] Dadurch ging bei mir | |
erst recht alles in die Hose.“ An anderen Stellen ist Zoë sich sicher, dass | |
die beiden eine Zukunft hätten. Mit ihrer emotional schwankenden | |
Protagonistin vermittelt Qiu einem beim Lesen ein unsicheres Gefühl. Man | |
weiß nie genau, welche Aussagen von Zoë verlässlich sind. | |
Nach dem anfänglichen Gefühlsausbruch fächert Qiu das Leben ihrer | |
Protagonistin immer mehr auf. Hat man zuerst den Eindruck, man liest einen | |
zu privaten Briefaustausch, erkennt man später, wie geschickt sie ihr Werk | |
konstruiert hat. Der Roman weitet sich zur psychologischen Studie Zoës, | |
driftet in seinem Lauf auch in die Vergangenheit ab und lässt friedvolle | |
Momente aus der Beziehung der beiden Frauen aufleben. Auch auf Zoës Kontakt | |
zu Freundinnen und verflossenen Liebschaften geht der Text jetzt ein. Qiu | |
macht das so sensibel und portioniert, dass die Briefe Stück für Stück ein | |
komplexes Konstrukt von Zoës [1][Leben in Paris] aufbauen. | |
## Offen über Sex schreiben | |
Dass Qiu bis heute in der queeren Szene verehrt wird, liegt besonders an | |
den Passagen, die offen ihre Gefühle über Gender, Sexualität und darüber, | |
was es bedeutet, queer zu sein, beschreiben. Als Vorreiterin in der | |
chinesischsprachigen Literatur schildert Qiu sexuelles Verlangen, | |
Geschlechtsorgane und körperliche Leidenschaft zwischen Frauen. | |
Auch in „Letzte Worte vom Montmartre“ tut sie das. In einer Erinnerung an | |
eine frühere Affäre reflektiert Zoë ihr Begehren von Frauen. Ihre Begegnung | |
mit Laurence, die sie auf einer Party kennenlernt, macht den 16. Brief des | |
Romans aus, er analysiert das sexuelle Erwachen der Protagonistin. Als | |
Laurence sich beim gemeinsamen Spaziergang nach einer Feier an der Seine | |
plötzlich auszieht und in den Fluss springt, überkommt Zoë das erste Mal | |
ein brennendes „Fleischesverlangen“: „als sie sich nackt zu mir drehte, w… | |
mein Unterleib so feucht, dass er triefte“, beschreibt sie die Situation, | |
später geht sie auf den gemeinsamen, explosiven Sex der beiden ein. | |
In diesem Brief denkt Zoë auch über den inneren Konflikt nach, den sie in | |
früheren Beziehungen zu Männern spürte. Beim Sex mit Männern stellte sie | |
sich Frauenkörper vor, ihre Sexualität rechtfertigte sie damals vor ihren | |
männlichen Partnern mit einer psychologischen Lust. Die Liebe sei „ein | |
Geheimnis der Seele, nicht des Körpers“, sagte sie und dachte insgeheim, | |
dass ein wirkliches körperliches Verlangen bei ihr nur von einer Frau | |
ausgelöst werden könne. | |
In den Beziehungen zu Männern sorgte das für hitzige Diskussionen. Ein | |
Exfreund sagte ihr, dass sie „doch viel zu früh aufgegeben hätte, die | |
Ästhetik der männlichen Psyche begehrenswert zu finden“, und meinte, sie | |
hätte „Vorurteile gegenüber dem Männlichen“. Durch Laurence erkennt die | |
Protagonistin aber, dass diese für sie neue Art von sexueller Leidenschaft | |
für sie nicht nur tatsächlich existiert, sondern zudem auch noch | |
geschlechtlich nicht festgelegt ist: „Das hatte damit, ob Mann oder Frau, | |
nichts zu tun“, schreibt sie. | |
Diese Art von offener Debatte um eine fluide Sexualität einer Frau war in | |
der chinesischsprachigen Literatur der 90er Jahre einzigartig. Zwar wurden | |
queere Beziehungen in Taiwan gesetzlich keineswegs verboten, sie waren | |
jedoch auch nicht explizit im Gesetz erwähnt und [2][somit ein Tabu.] | |
Obwohl die taiwanische LGBTQ*-Bewegung in den 90er Jahren aktiv zu werden | |
begann und schon in den 80er Jahren mit Pai Hsien-yungs „Treffpunkt | |
Lotusse“ ein erster zeitgenössischer Roman über die queere Subkultur in | |
Taipeh erschien, waren öffentliche Bekenntnisse und [3][Diskussionen | |
gleichgeschlechtlicher Beziehungen] und Sex eine Seltenheit. | |
## Details weiblicher Schönheit | |
In ihrem Debüt „Aufzeichnungen eines Krokodils“ ging Qiu auch auf die | |
gesellschaftlichen Reaktionen auf Queerness ein, und sie thematisierte die | |
Schuldgefühle der lesbischen Protagonistin. Diese Ebene erfährt bei „Letzte | |
Worte vom Montmartre“ bis auf die Kommentare ihrer männlichen | |
Geschlechtspartner wenig Aufmerksamkeit. | |
Vielmehr werden Zoës männliche Gegenüber wie ihr Exfreund Yuan Yan vor | |
vollendete Tatsachen gestellt, mit Sätzen wie: „Ich kann männliche | |
Schönheit sehr wohl genießen, aber vielleicht habe ich mehr Talent, mich | |
von den Details weiblicher Schönheit berauschen zu lassen, Yuan Yan, so ist | |
das nun mal.“ Wichtiger ist der Autorin hier die Entwicklung von Zoës | |
sexueller Identität, nachdem sich diese mit verschiedenen Partnerinnen | |
ändert und die Erfahrungen ihr neue Denkanstöße geben. | |
Doch nicht nur der thematisch immer noch aktuelle Diskurs über Gender und | |
Sexualität lassen „Letzte Worte vom Montmartre“ modern erscheinen. Es ist | |
vor allem die persönlichen Tiefe der Abschiedsbriefe, die auch 30 Jahre | |
nach der ersten Veröffentlichung in der Reflexion und emotionalen Wucht der | |
Autorin zeitlos und roh herüberkommt und ihren letzten Roman zu einem | |
Meisterwerk macht, das lange nach dem Lesen nachwirkt. | |
12 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lorina Speder | |
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