| # taz.de -- Berlinale-Film aus Costa Rica: Der geschlechtslose Körper | |
| > Sexualität und Wechseljahre: Der Film „Memorias de un cuerpo que arde“ | |
| > schildert, worüber in Costa Rica nicht gesprochen werden darf. | |
| Bild: Sol Carballo in „Memorias de un cuerpo que arde“ | |
| „Dieser Film ist das Gespräch, das ich nie mit meinen Großmüttern führen | |
| konnte“, schickt die italienisch-costa-ricanische Regisseurin Antonella | |
| Sudasassi Furniss gleich am Anfang ihrem Film voraus. Sie hat drei Frauen | |
| im reifen Alter interviewt, die lieber anonym bleiben möchten, um offener | |
| reden zu können. | |
| Sie sprechen sehr ungeniert über Themen, die bis heute tabuisiert sind, und | |
| nicht nur in Costa Rica, wo der Film spielt: [1][Sexualität im Alter], | |
| Gewalt in der Ehe, Jungfräulichkeit, Wechseljahre, Selbstbefriedigung. Es | |
| ist viel die Rede von mangelnder Aufklärung, strikt katholischer Erziehung, | |
| Schuldgefühlen, Strafe. | |
| Auf der Leinwand werden die drei Frauen von drei Schauspielerinnen in | |
| verschiedenen Lebensphasen verkörpert, im Abspann lediglich „Frau“, „jun… | |
| Frau“ und „Mädchen“ benannt. Die verschiedenen Geschichten verschmelzen … | |
| der einer einzigen namenlosen weiblichen Figur. Sudasassi bringt ihr Spiel | |
| zwischen Wirklichkeit und Fiktion schon in den ersten Einstellungen | |
| deutlich zum Ausdruck. Wir sind auf dem Filmset, die Schauspielerin | |
| (souverän unaufgeregt: Sol Carballo) wird noch schnell geschminkt, die | |
| Szene vorbereitet. Sudasassi schlägt die Filmklappe, die Fiktion beginnt. | |
| Das Haus wird zum Zentrum von Raum und Zeit, links und rechts des langen, | |
| schmalen Flurs öffnen sich Türen und dahinter ganze Welten. Während wir | |
| weiter aus dem Off die Stimmen der echten Frauen hören, werden auf der | |
| Leinwand ihre Geschichten von Sudasassi virtuos in Bilder übersetzt. Die | |
| erzählten Situationen sind oft in langen, ununterbrochenen Sequenzen | |
| gefilmt, verschiedene Zeitpunkte manchmal simultan in derselben Einstellung | |
| dargestellt. | |
| ## Nicht vergessen | |
| Wir beobachten, wie die Frau aufräumt, alte Zierstücke abstaubt, Fotoalben | |
| und eingerahmte Bilder in die Hand nimmt. Die Erinnerungen haben einen | |
| Körper, sie sind Objekte, die man anfassen, umstellen und sogar | |
| manipulieren kann, was eine Versuchung, aber auch ein Risiko darstellt: | |
| Manches darf man einfach nicht vergessen. | |
| 17 Jahre lang musste eine der Frauen [2][die häuslichen Vergewaltigungen] | |
| des Ehemannes über sich ergehen lassen. Scheidung war zunächst keine | |
| Option. Während die junge Frau noch im Krankenhaus liegt, beschließt ihr | |
| Vater, das sei jetzt ihr Kreuz, sie müsse es ertragen, er habe ja schon | |
| längst gewusst, dass sie nicht den richtigen Mann geheiratet habe. Man | |
| fragt sich, wie diese Frauen solche nicht nur körperliche Brutalität | |
| überleben konnten. Und trotzdem, sie taten es. | |
| Was Sudasassi brillant gelingt, ist die dokumentarische und die | |
| Spielfilmebene in Einklang zu bringen. Rückgrat des Films sind die Stimmen | |
| der drei Frauen, ihre wahren, ineinander verflochtenen Geschichten | |
| strukturieren die fiktionale Inszenierung. Dadurch entsteht eine Mischung | |
| aus tiefer Nähe zu den Protagonistinnen, aber gleichzeitig eine Art | |
| „Sicherheitsabstand“, vor allem, wenn die erzählten Erfahrungen fast | |
| unerträglich werden. | |
| Als Kontrast zu diesen schweren Erlebnissen ist eine platonische Liebe, die | |
| mit 11 Jahren begann und noch 7 Jahre lang dauern sollte, zärtlich | |
| inszeniert: der erste Kuss, verkleidet in einem in Papier gewickelten | |
| abgelutschten Bonbon, lässt ein Junge dem Mädchen heimlich zukommen. Sobald | |
| sie es aufgeregt in den Mund steckt, ist es, als hätte sie seine Lippen zum | |
| ersten Mal berührt. | |
| Sudasassi zeigt den weiblichen Körper mit seiner Sexualität und deren Höhen | |
| und Tiefen auf der Leinwand mit Natürlichkeit und Würde, bis sich die | |
| Grenzen des Geschlechts auflösen. Eine der Frauen fasst ihre im Alter | |
| endlich erlebte Befreiung zusammen: Im Tiefsten sei sie keine Frau, sondern | |
| einfach eine Person, ihr Herz und ihre Augen ohne Alter und geschlechtslos. | |
| Frei von allen Nötigungen, die Frauen sowie Männer gezwungenermaßen | |
| akzeptieren müssen. Diese mutigen Frauen filmt Sudasassi nur vorsichtig, | |
| mit dem Rücken zur Kamera gewandt. Was ihre kraftvolle Botschaft aber | |
| keineswegs schwächt, sondern noch stärker und universeller macht. | |
| 23 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Keine-Anfeindungen-keine-bloeden-Fragen/!5984905 | |
| [2] /Feminismus-Buch-von-Stefanie-Lohaus/!5965872 | |
| ## AUTOREN | |
| Sara Piazza | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Film | |
| Costa Rica | |
| Altern | |
| Weiblichkeit | |
| Gewalt gegen Frauen | |
| häusliche Gewalt | |
| Wechseljahre | |
| Sexualität | |
| Selbstbefriedigung | |
| Bildende Kunst | |
| Literatur | |
| Barock | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Meredith Monk in München: Sprache als Form | |
| Meredith Monk ist Grenzgängerin der Künste seit den 1960er Jahren. Das Haus | |
| der Kunst widmet der 81-jährigen New Yorkerin nun eine große Werkschau. | |
| Queerer Kultroman von Qiu Miaojin: Meine Seele will ewiglich lieben | |
| Endlich ist der letzte Roman von Qiu Miaojin auf Deutsch erhältlich. Er | |
| demonstriert, warum die taiwanische Autorin zur queeren Ikone wurde. | |
| Brisante Artemisia-Gentileschi-Biografie: Pin-up-Girls des 17. Jahrhunderts | |
| Kunsthistorikerin Susanna Partsch stellt das populäre Narrativ der | |
| Barockmalerin Artemisia Gentileschi als sich emanzipierendes Opfer triftig | |
| infrage. |