# taz.de -- Forscher über Queer Studies: „Queer-Theorie ist transnational“ | |
> Ein Band versammelt erstmals Schlüsseltexte der Queer Studies auf | |
> Deutsch. Herausgeber Ben Trott über Sexualität und Kapitalismus in | |
> queerer Theorie. | |
Bild: Queer-Forschung ist in der deutschen Fachliteratur unterrepräsentiert | |
taz: Der von Ihnen und Mike Laufenberg herausgegebene Band ist eine | |
Intervention in die Rezeption von Queer Theory in Deutschland – und doch | |
heißt er „Queer Studies“. Was ist der Unterschied zwischen Queer Theory und | |
Queer Studies? | |
Ben Trott: Queer Studies sind eine wissenschaftliche Disziplin, die weiter | |
gefasst ist als das, was gemeinhin unter „Theory“ verstanden wird. Dazu | |
gehört auch historische oder empirische sozialwissenschaftliche Forschung. | |
Ich denke da zum Beispiel an George Chaunceys Arbeit zu queerem Leben in | |
New York City zwischen 1890 und 1940 oder etwa an die ethnografische | |
Forschung von Esther Newton, die sich unter anderem Drag Queens in Kansas | |
City und Chicago widmet. Dies sind sehr einflussreiche Werke der Queer | |
Studies, die klassischerweise nicht als „Theorie“ verstanden werden würden. | |
[1][Judith Butlers Konzept der Gender-Performativität] baut übrigens | |
explizit auf Newtons Arbeit zu Drag auf. | |
Sie erwähnen Judith Butler, die normalerweise als Ikone der Gender Studies | |
betrachtet wird. Sind Queer Studies eine Unterkategorie der Gender Studies | |
oder was ganz eigenes? | |
Das lässt sich so oder so sehen. Butlers „Gender Trouble“ und Eve Kosofsky | |
Sedgwicks „Epistemology of the Closet“ sind die zwei Klassiker und | |
Gründungstexte der Queer Studies. Leider ist noch keins von Sedgwicks | |
Büchern vollständig ins Deutsche übersetzt worden. Sie war Feministin, aber | |
sie beschreibt ihr Buch eher als sexualitätszentriert denn als | |
Gender-zentriert und somit versteht sie es tendenziell eher als einen | |
Beitrag zu den Sexuality Studies oder Gay and Lesbian Studies als zu den | |
Gender Studies. Diese Unterscheidung war aber nicht unumstritten. So | |
widersteht Butlers Arbeit etwa einer analytischen Trennung von Gender und | |
Sexualität. | |
Ihr Buch ist ein Versuch diese Lücke zu schließen. Beinah alle Texte im | |
Band sind Erstübersetzungen. Was fehlte ohne sie bisher im deutschen | |
Diskurs? | |
Viele der Autor*innen sind hier in Deutschland bekannt, aber trotzdem | |
sind einige ihrer wichtigsten theoretischen Beiträge nicht auf Deutsch | |
zugänglich. Nicht mal Judith Butlers ganzes Werk ist bisher übersetzt. Es | |
fehlten beispielsweise bis jetzt viele wichtige Arbeiten der | |
Queer-of-Color-Kritik. In den Disability Studies ist Robert McRuers | |
„Zwangsabilität und queere/behinderte Existenz“ ein einflussreicher queerer | |
Text. Auch dieser ist bisher nicht auf Deutsch erschienen. | |
Wir wollten aber nicht nur Lücken füllen, sondern auch zeigen, dass die | |
innovative Arbeit, die in den letzten 30 Jahren in den Queer Studies | |
geleistet wurde, das ganze Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften | |
beeinflusst hat – auch Bereiche, die nicht direkt mit Fragen von Geschlecht | |
und Sexualität zu tun haben. Queere Arbeiten etwa von Sara Ahmed oder Ann | |
Cvetkovich haben beispielsweise das Feld der Affect Studies stark geprägt. | |
Der Sammelband enthält ebenfalls einen Beitrag von Cvetkovich. | |
Die Übersetzungslücken erklären aber die teils verzerrte Wahrnehmung der | |
Queer-Theorie, wie etwa die Annahme mancher Menschen, dass es sich dabei | |
nur um eine poststrukturalistische, dekonstruktive oder vielleicht | |
psychoanalytische Auseinandersetzung mit Geschlecht handelt. Nur wenige der | |
Texte, die zeigen, wie die Queer Studies sich in den letzten Jahrzehnten | |
zunehmend materialistisch orientieren, sind bis dato übersetzt worden. | |
Queer-Theorie und Materialismus gelten gemeinhin als unversöhnliche | |
Gegensätze. Hier Klassenverhältnisse und staubbedeckte Kumpel, dort | |
irgendwas mit Sprache und Aktivist*innen mit blauen Haaren. Wie | |
überbrücken Denker*innen diesen Graben? | |
Dieser Eindruck einer Unvereinbarkeit rührt teils daher, dass die vermehrte | |
Beschäftigung mit queeren Themen in akademischen Settings zeitlich mit dem | |
sogenannten „Ende der Geschichte“ zusammenfiel, als viele | |
Akademiker*innen nach Werkzeugen der Kritik suchten, als marxistische | |
oder materialistische Ansätze, sagen wir, nicht besonders en vogue waren. | |
Ihre Fragestellungen drehten sich anfangs weniger um eine Kritik der | |
politischen Ökonomie. In der Anfangszeit um das Jahr 1990 gab es in der Tat | |
einen viel stärkeren Fokus auf die Dekonstruktion des Textuellen. | |
Aber ab den späten 1990er Jahren und mehr noch nach dem Ausbruch der | |
Finanzkrise 2008 bezogen sich immer mehr queere Theorien auf den | |
historischen Materialismus. [2][Die Queer-of-Color-Kritik wie sie von | |
Roderick A. Ferguson] und anderen vertreten wird, ist hier nur ein | |
Beispiel. In Fergusons Arbeit bestehen interessante Echos und | |
Überschneidungen mit Schwarzen marxistischen Analysen zu racial capitalism | |
sowie mit materialistischen Arbeiten aus den British Cultural Studies – | |
dazu zählen etwa die Versuche von Stuart Hall die Art und Weise zu | |
verstehen, wie unterschiedliche Phänomene – Gender, Sexualität, Rassismus �… | |
sich gemeinsam innerhalb einer politischen Ökonomie „artikulieren“. | |
Diese Marxisten würden wahrscheinlich argumentieren, dass sich | |
Materialismus um Klasse und damit einen Widerspruch dreht, während sich | |
Queer Studies nur mit Differenz und skurrilen Minderheiten beschäftigen und | |
darum eher nebensächlich sind. | |
Ich sehe nicht, wie sich eine überzeugende Gesellschaftstheorie – und vor | |
allem eine materialistische – entwickeln lässt, die nicht ernsthaft | |
berücksichtigt, dass ein Großteil dieser Gesellschaft um Geschlecht und | |
Sexualität organisiert ist. Wenn wir uns die Familie, die Institutionen der | |
Heterosexualität oder die geschlechtliche Arbeitsteilung vor Augen führen, | |
dann sehen wir, dass die Art und Weise, wie Verhältnisse von Geschlecht und | |
Sexualität in bestimmten historischen Momenten organisiert sind, zu einem | |
großen Teil mit der Art und Weise der Kapitalakkumulation zusammenhängen. | |
Die geschlechtliche Arbeitsteilung und die rechtliche Regelung darüber, was | |
als Familie gelten darf, sind anders im sogenannten Postfordismus als noch | |
im Zeitalter der fordistischen industriellen Massenproduktion. | |
In den letzten Jahren sind viele Ideen und Begriffe aus der Queer-Theorie | |
populär geworden. In Neukölln oder der Sternschanze beschreiben Menschen | |
ihr Liebesleben mit Begriffen, die aus höchst abstrakten Werken der Queer | |
Theory entlehnt sind. Im Forum des queeren Techno-Festivals Whole | |
debattierte man diesen Sommer sehr lebhaft und mit Theorie-Begriffen um | |
sich werfend alles Mögliche von männlichem Verhalten auf der Tanzfläche bis | |
zur Idee der Queer Community. Verliert Queer Theory damit an Präzision, | |
oder gewinnt sie etwas? | |
Es ist doch super, wenn Menschen Begriffe oder ein Vokabular finden, um | |
über sich selbst und unser Zusammenleben nachzudenken. Es hat schon immer | |
einen Austausch von Ideen und Sprache zwischen aktivistischen Kreisen, | |
Wissenschaftler*innen und Subkulturen gegeben. Butler hat immer | |
klargemacht, dass auch „Gender Trouble“ kein Produkt eines rein | |
wissenschaftlichen Unternehmens war, sondern auch durch die aktive | |
Teilnahme an sozialen Bewegungen und queeren Subkulturen entstanden ist. | |
Kulturproduzent*innen – auch in queeren Subkulturen – setzen sich | |
schon lange mit queeren und anderen wissenschaftlichen Theorien | |
auseinander, und entwickeln daraus immer wieder auch andere Dinge. Aber | |
kulturelle Produktion – auch in subkulturellen Räumen wie queeren Clubs und | |
Festivals – prägen im Gegenzug ebenfalls die Queer-Theorie. Der Text von | |
José Esteban Muñoz zur Queer-of-Color-Performance ist hier ganz explizit: | |
Für ihn kann es keine Theorie geben, wenn nicht die Performance zuerst | |
kommt. | |
Es gibt eine große Tradition queerer Theorie aus Europa, man denke an | |
Monique Wittig, Guy Hocquenghem oder Mario Mieli, um ältere Beispiele zu | |
nennen, in den letzten Jahren etwa Paul Preciado oder Didier Eribon. Doch | |
in dem Sammelband sind nur Texte von amerikanischen oder in den USA | |
ausgebildeten Autor*innen zu finden. Ist dieser Fokus auf die USA nicht | |
etwas eng? | |
Es fehlen in der Tat viele Übersetzungen von europäischen, aber auch | |
nichteuropäischen Theoretiker*innen, obwohl es glücklicherweise immer mehr | |
Übersetzungen von Wittig, Hocquenghem und Eribon gibt. Übersetzungen von | |
Preciados Texten gibt es schon länger. In den anglophonen Queer Studies | |
gibt es zugegebenermaßen eine gewisse Provinzialität, die US-amerikanische | |
Kultur und Politik oftmals als ihr unausgesprochenes Objekt voraussetzt. | |
Dennoch ist dies ist nicht immer der Fall. Das Buch schließt mit einem Text | |
von Petrus Liu über die Bedeutung der [3][Trennung der Volksrepublik China | |
und Republik China auf Taiwan] für das queere Leben in beiden Chinas. Dabei | |
zeigt er auf, wie Queer-Theorie eine transnationale und transkulturelle | |
Praxis ist. Er bezieht sich sowohl auf chinesische als auch andere | |
nichtanglophone akademische Traditionen. Es bedarf aber tatsächlich einer | |
globaleren Form der Queer Studies. | |
26 Sep 2023 | |
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Caspar Shaller | |
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