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# taz.de -- Doku „Anhell69“ über Jugend in Kolumbien: Queere Geisterbeschw…
> Mit der Doku „Anhell69“ zeigt Regisseur Theo Montaya seine kolumbianische
> Heimatstadt Medellín als Ort voller Wut, Schmerz und Nihilismus.
Bild: Queers, Punks und Straßenkids erzählen in „Anhell69“ von ihren Trä…
Ein Leichenwagen fährt auf nächtlichem Highway. Darin ein offener Sarg mit
einem Mann. „Ich habe mich nicht entschieden, geboren zu werden“, sagt eine
männliche Stimme. „Ich wurde nie gefragt. Ich wurde in die Welt
hineingeworfen.“
Es ist der Tote selbst, der hier seine Lebensgeschichte erzählt und gleich
zu Beginn den Ton des Films setzt. Dazu Nachrichtenbilder von Unruhen,
brennenden Autos, Toten auf offener Straße. Einst Reich von Pablo Escobar
und eine der gefährlichsten Städte der Welt, hat sich Medellín in Kolumbien
zwar in den vergangenen Jahren verändert, Guerillakämpfe, Drogen und Gewalt
gehören aber dennoch zum Alltag. Der Erzähler aus dem Jenseits nennt diesen
Moloch einen Friedhof, „eine Geisterstadt, die sich in den Bergen
verliert“. Von hier gibt es kein Entkommen, außer man stirbt.
Da ist es nur konsequent, dass sich der [1][junge Regisseur Theo Montoya],
der mit „Anhell69“ seinen ersten Langfilm inszeniert, selbst in den Sarg
legt und als Stimme aus dem Jenseits von seinem Leben und dem seiner
Freunde erzählt.
Geboren 1992, wächst Montoya ohne Vater auf. Mit 13 wird er exkommuniziert,
weil er dem Priester beichtet, beim Masturbieren an Jesus zu denken. Er
lernt das Leben auf der Straße kennen, nimmt mit 14 zum ersten Mal Drogen.
Die Tage verbringt er danach am liebsten kiffend und Filme schauend, nur so
habe er weinen können.
## Queers, Punks und Straßenkids
2017 trommelt er schließlich seine Freund*innen zusammen, um selbst einen
Spielfilm zu drehen, eine düstere Parabel soll es werden, mit ihnen als
Darsteller. Diese Videointerviews, in denen er sie über ihr Leben und
Einstellungen befragt, sind in „Anhell69“ zu sehen. Queers, Punks und
Straßenkids, zwischen 19 und Mitte Zwanzig, die ihren Platz noch nicht
gefunden haben, manche erzählen offen von ihren Träumen und Traumata, von
Gewalt in der Familie und der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, andere
wollen nicht einmal ihren Namen nennen. Einige sind orientierungslos,
andere experimentieren mit Mode und Drag.
Einer dieser Freunde ist der damals 21-jährige Grafikdesignstudent Camilo
Najar, der sich auf Instagram Anhell69 nennt, ein Wortspiel aus Engel und
Hölle, das Montoya so gut gefällt, dass er seinen Spielfilm danach benennen
will und den zarten Jungen mit den schwarzen Locken und dem
Spaghettiträgertop als Protagonisten. Camilo wird von den Plänen nichts
erfahren. Eine Woche nach dem Casting ist der junge Mann tot. Eine
Überdosis Heroin.
In den Monaten danach sterben weitere Freund*innen, an Drogen, durch Suizid
oder werden ermordet, bloß weil sie queer sind. Montoya zählt sie mit Namen
auf und zeigt ihre Gesichter. „Ich ging zu mehr Beerdigungen als
Geburtstagen“, sagt er. „Meine sozialen Medien begannen, sich in einen
Friedhof zu verwandeln.“ Und aus dem geplanten Spielfilm wird durch das
Sterben ein Film ohne Grenzen, ein „Transfilm“, wie Montoya es nennt. Ein
dokumentarisches Essay mit fiktionalen Elementen, ein Hybrid, das sich
einer eindeutigen Zuordnung entzieht und von einer queeren Jugend erzählt,
deren Leben zu Ende ist, bevor es richtig begonnen hat.
Das B-Movie, das Montoya ursprünglich plante, inszeniert er nun zum Teil
als Film im Film. Es ist eine düster schillernde Geschichte von Untoten,
die aus Platzmangel auf den überfüllten Friedhöfen Mendellíns nun weiter
unter den Lebenden bleiben müssen. Ein dystopischer B-Movie über Geister,
den Montoya als Metapher versteht für die Welt, in der er und seine
Freund*innen leben, und eine Hommage an die kolumbianischen Genrefilme,
mit denen er aufgewachsen ist.
## Sexuelle Anziehung zu Geistern
Eine Geschichte über Spektrophilie hätte es werden sollen, die sexuelle
Anziehung zu Geistern, die sich unter den Jugendlichen dieses
Fantasie-Medellíns wie ein Virus ausbreitet. Über geheime Partys, bei denen
sich Lebende und Untote der Lust hingeben und einem repressiven Staat, der
das Militär einsetzt, um das unerwünschte Sozialverhalten zu unterbinden
und die transgressive Jugend auszulöschen.
Montoya verbindet dabei die Interviews mit den inszenierten Szenen des
Geisterfilms, Tanzszenen aus Dragclubs, Nachrichtenbildern von
Straßenprotesten 2021, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden
und Drohnenaufnahmen des nächtlichen Medellíns zu einem Porträt voller Wut,
Schmerz und Nihilismus.
„Anhell69“ ist keine gesellschaftspolitische Analyse, eher eine
Geisterbeschwörung und ein Blick ins Herz der Finsternis einer verlorenen
Generation, die an keine Zukunft glaubt, weil sie mit dem Tod aufgewachsen
ist. [2][Ein Kino der Ausgegrenzten und Marginalisierten], die trotz allem
solidarisch weiterkämpfen und rauschhaft weiterfeiern, weil ihnen gar
nichts anderes übrigbleibt. Am Ende des Films, weiß auf schwarz, stehen die
Namen der acht Freund*innen, die zwischen 2017 und 2021 gestorben sind.
„Anhell69“ entreißt sie dem Vergessen.
28 Sep 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Film
Dokumentarfilm
Queer cinema
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