# taz.de -- Festival Dok Leipzig: Lob der Struktur | |
> Am Sonntag ging Dok Leipzig zu Ende. Auf dem Festival für Dokumentar- und | |
> Animationsfilm gehören die Krisen der Gegenwart zum Filmprogramm. | |
Bild: Zu sehen war auch Jana Rothes Kurzdokumentarfilm „Clown*esses“ | |
In der Wüste von Utah, etwa 140 Kilometer von Salt Lake City entfernt und | |
in direkter Nachbarschaft zur Skull Valley Indian Reservation, testet die | |
US-Armee auf dem Dugway Proving Ground seit den 1940er Jahren Kampfmittel. | |
Im Mai 2011 ist der Soldat Joseph Bushling in Dugway verschwunden. Die | |
Antworten, die Josephs Vater seither von der US-Armee bekommen hat, | |
widersprechen einander. Die Suche des Vaters nach seinem Sohn ist einer der | |
Ausgangspunkte des Dokumentarfilms „The Gate“ von Jasmin Herold und Michael | |
David Beamish. | |
Josephs ehemaliger Sergeant und seine Frau helfen dem Vater bei der Suche, | |
während sich in der Familie eines ehemaligen Offiziers nun der Sohn | |
anschickt, in die Armee zu gehen. Herold und Beamish folgen ihren | |
Protagonisten in eine Welt, in der fast alle früher oder später bei der | |
Armee waren und unverarbeitete Traumata allgegenwärtig sind. „The Gate“ | |
lief im diesjährigen deutschen Wettbewerb von [1][Dok Leipzig, dem | |
Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm]. Am | |
Sonntag ist das Festival zu Ende gegangen. | |
In diesem Jahr hat das Festival nicht zuletzt in Erinnerung gerufen, wie | |
viel sich mit der richtigen Struktur auch in kurzen Filmformen erzählen | |
lässt. Jana Rothe lotet in dem gerade einmal 20-minütigen | |
Kurzdokumentarfilm „Clown*esses“ das Spiel mit Identitäten beim Clownsein | |
aus. Die beiden Protagonist_innen Gözde und Lokke nutzen dieses Spiel in | |
ihren Auftritten in sehr unterschiedlicher Weise. | |
Der kongolesische Regisseur David Shongo reißt in „Lumene“, ausgehend von | |
Aufnahmen aus dem Fotoarchiv des deutschen Ethnografen Hans Himmelheber, | |
die ganze Bandbreite der Probleme bei der Arbeit mit dem audiovisuellen | |
Erbe des Kolonialismus an. Zu Beginn bringt Shongo einige Aufnahmen | |
Himmelhebers zurück in die Demokratische Republik Kongo. In den Gesprächen, | |
die sich aus dieser Konfrontation ergeben, werden Fragen der Restitution | |
und Reparationen ebenso aufgeworfen wie ethische Fragen im Umgang mit | |
Bildern wie dem einer jungen Frau mit entblößtem Oberkörper, in dem sich | |
Exotismus, Sexualisierung und die Fetischisierung schwarzer Körper durch | |
einen kolonialen Blick beispielhaft verbinden. „Lumene“ ist ein kluger, | |
dichter Film. | |
Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart | |
Der unterdessen in Paris lebende deutsche Dokumentarfilmer Jürgen | |
Ellinghaus verfolgt in „Togoland Projektionen“ einen ähnlichen Ansatz. 1913 | |
reist der Hamburger Filmregisseurs Hans Schomburgk zusammen mit seiner | |
Darstellerin Meg Gehrts durch [2][die damalige deutsche Kolonie Togo.] | |
Ellinghaus nimmt diese Aufnahmen mit auf eine Reise, die die Route von | |
Schomburgk und Gehrts nachvollzieht, und führt die Aufnahmen von damals an | |
ihren Drehorten einem lokalen Publikum vor. So interessant dieser Ansatz | |
ist, so sehr fällt – zumal im Kontrast zu „Lumene“ – das Anekdotische … | |
Publikumsreaktionen ins Auge, über das der Film nur selten hinwegkommt. | |
„Togoland Projektionen“ erstarrt im Laufe seiner Dauer in einer | |
Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart. | |
„Sind wir nach dem Völkermord jemals zurückgekehrt?“, fragt eine Tochter … | |
einem Dorf in Ruanda ihre Mutter, während sie Erdnüsse aus einer großen | |
Schale vor sich auf dem Boden nehmen und von der Schale befreien. Ohne | |
aufzublicken, antwortet die Mutter: „Wir hatten Angst. In einem Zuhause | |
voller Verlust zu leben, ist schwer, an einem Ort, an dem niemand mehr | |
lebt. Ich habe sogar Angst, wenn ich die Felder bestelle.“ Der | |
Dokumentarfilm „Kumva – Das, was aus der Stille kommt“ der französischen | |
Regisseurin Sarah Mallégol zeigt Familien im Gespräch über einen | |
Völkermord. Erwachsene Kinder befragen ihre Eltern zu den Ereignissen von | |
1994, sie sprechen über Flucht und Überleben, Weiterleben mit dem Trauma – | |
und einige von ihnen auch über Täterschaft. | |
[3][Der österreichische Dokumentarfilmgroßmeister Nikolaus Geyrhalter] hat | |
sich wie so viele seiner Kolleg_innen von der Pandemie zu einem Film | |
verleiten lassen. Angefangen hat der Film, wie er selbst sagt, als Dokument | |
für die Nachwelt, weniger geplant als seine sonstigen, präzise | |
kontrollierten Filme. Geyrhalter dokumentiert die Arbeit der medizinischen | |
Versorgung in Wien und der Stadtpolitik, von kleinen Gewerbetreibenden und | |
einer Lehrerin und ihrer Klasse vom Frühjahr 2020 bis Ende 2021. Trotz | |
einiger großartiger Bilder wie einem Balkonkonzert mit einer auf Wiener | |
Lokalverhältnisse umgedichteten Version des Jazz-Klassikers „St. James | |
Infirmary“ bis zu einer Passagiermaschine, auf deren Sitzen Pakete mit | |
medizinischen Hilfsgütern verzurrt sind, verliert sich der Film über seine | |
Laufzeit etwas im Drang nach Vollständigkeit. | |
Westdeutschland. Die CDU wirbt mit dem Büttenreimmärchen vom | |
Wirtschaftswunderbaum dafür, Ludwig Erhard zu wählen, die Entrechtung der | |
weiblichen Hälfte der Bevölkerung ist Staatsräson. Annika Mayer befragt in | |
„Home Sweet Home“ ihre Großmutter zu deren Ehe mit dem Großvater. | |
Amateurfilme des Familienlebens rufen in Rose Mayer die Vergangenheit | |
wieder in Erinnerung, die Filme sind jedoch Teil der heilen Fassade, hinter | |
der sich [4][ein Alltag voller häusliche Gewalt] abspielte. | |
Hauptpreis für Peter Mettler | |
Den Hauptpreis des Festivals, die Goldene Taube für einen Langfilm aus dem | |
internationalen Wettbewerb, gewann in diesem Jahr der | |
schweizerisch-kanadische Regisseur Peter Mettler mit seinem reflexiven Film | |
„While the Green Grass Grows“. Der Hauptpreis im Deutschen Wettbewerb ging | |
an Jonathan Schörnigs Echtzeitdokumentation einer Seenotrettung im | |
Mittelmeer. Mit mehreren Kameras zeigt Schörning eindrucksvoll die | |
mühselige Rettung von 104 Menschen von einem Gummiboot. „Einhundertvier“ | |
gewann zudem auch noch eine ganze Reihe unabhängiger Preise wie den | |
Filmpreis Leipziger Ring und die Preise des Goethe-Instituts und von Verdi. | |
Auch dieses Jahr spiegelte sich in den Filmen ein Panorama der Gegenwart. | |
Die Krisen (darunter der russische Angriffskrieg, Klima und Kolonialismus) | |
sind in der dokumentarischen Filmproduktion längst Alltag geworden und als | |
solcher zwar auch Teil des Filmprogramms, noch stärker aber der | |
Diskussionsveranstaltungen und Überlegungen aufseiten der Filmindustrie. | |
Dok Leipzig bleibt auch weiterhin unumgänglich in der deutschen | |
Festivallandschaft für alle, die die Augen offen behalten für die | |
Realitäten der Gegenwart. | |
16 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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