# taz.de -- Erster Film von Paul B. Preciado: Jenseits von Geschlechtergrenzen | |
> Der Queer-Theoretiker Paul B. Preciado hat mit „Orlando, meine politische | |
> Biografie“ einen filmischen Essay zu Virginia Woolf verfasst. | |
Bild: Ein Orlando in „Orlando, meine politische Biografie“ | |
Das Poetischste an diesem Film ist die Idee dahinter. Dabei ist der Ansatz | |
von „Orlando, meine politische Biografie“, wie der spanische [1][Philosoph | |
Paul B. Preciado] zu Beginn – nicht ohne ironischen Unterton – erläutert, | |
aus der Not geboren: Jemand habe ihn mal gefragt, warum er nicht seine | |
Biografie schreibe. Darauf entgegnete er, dass „die verfluchte Virginia | |
Woolf“ das schon getan habe, „bereits im Jahr 1928“. | |
In „Orlando“ imaginierte die britische Schriftstellerin einen gleichnamigen | |
jungen Adligen, der ausgehend vom elisabethanischen Zeitalter mehrere | |
Jahrhunderte durchlebt, ohne zu altern, allerdings im Schlaf das Geschlecht | |
wechselt. Für [2][Preciado, einen der bedeutendsten Queer-Theoretiker | |
unserer Zeit,] ist die Erzählung nicht nur eine Utopie über das Ende der | |
binären Geschlechterordnung. Sie eröffnete ihm auch einen | |
Möglichkeitsrahmen, seine eigene Zukunft wurde plötzlich denkbar. | |
[3][Seinen ersten Film] nimmt er zum Anlass, um Virginia Woolf posthum | |
einen Brief zu schreiben. Nachdem sie seine Biografie vor seiner Geburt | |
verfasst hatte, ist eine Replik nach ihrem Tod schließlich nur fair. Er | |
soll eine Würdigung ihres Werkes sein und eine Art literarischer Appendix. | |
Manches habe die Autorin, die ihr Buch nun einmal vor beinahe 100 Jahren | |
verfasste, in Bezug auf Transsein eben nicht ganz richtig dargestellt. | |
Auch das führt Preciado selbstverständlich mit einem Augenzwinkern aus. So | |
habe er sich zwar in vielen Nächten das eigene Bett als schmerzlosen | |
Operationstisch vorgestellt, eine Transition im Schlaf herbeigesehnt, doch | |
die Realität – trans* Menschen riskieren täglich ihr Leben – sieht leider | |
ganz anders aus. | |
## Andere erzählen lassen | |
Das Vorhaben klingt überaus reizvoll, verspricht, Künstlerisches mit | |
politischer Dringlichkeit zu verbinden. Doch das weitere Geschehen in | |
„Orlando, meine politische Biografie“ gestaltet sich anders, als es der | |
Auftakt vermuten lässt. Preciado tritt weitgehend in den Hintergrund und | |
lässt hauptsächlich andere, genauer 25 Personen im Alter zwischen acht und | |
70 Jahren, die sich ebenfalls als trans oder nicht-binär identifizieren, zu | |
Wort kommen. | |
Der Ablauf, mit dem sie sukzessive in die Handlung eingeführt werden, ist | |
immer gleich: Sie tragen in Anlehnung an die literarische Vorlage eine | |
weiße Halskrause, stellen sich mit ihrem Namen vor und ergänzen dazu: „In | |
diesem Film werde ich Orlando von Virginia Woolf sein.“ Das Ansinnen | |
dahinter ist ein Statement: Orlando gibt es wirklich und zahlreich. Sie | |
eint eine kollektive Geschichte, und doch ist ihr Abweichen von tradierten | |
Geschlechternormen immer individuell. | |
Das ist einer der Kerngedanken, die Preciados Film transportiert: Transsein | |
ist nichts Pathologisches, es ist auch nicht immer als der Wunsch nach dem | |
Wechsel vom einen ins andere Geschlecht zu verstehen, sondern kann die | |
Ablehnung einer Einordnung in das binäre Verständnis von Geschlecht | |
bedeuten. | |
Verdeutlicht wird das durch die höchst unterschiedlichen Erlebnisse, von | |
denen die Orlandos berichten. Im Film treten sie jedoch nicht schlicht als | |
Interviewte auf, sondern sind zugleich Schauspieler*innen, die vor einem | |
zum Inhalt des jeweiligen Textabschnitts passenden Hintergrund einzelne | |
Passagen aus Virginia Woolfs Werk vortragen. | |
## Vermischte Genres | |
Die persönlichen Ausführungen verschwimmen dabei mit der Literatur. Dass | |
Autobiografisches und Fiktion nicht immer voneinander zu unterscheiden | |
sind, lässt sich ebenso als Meta-Aussage über das Überwinden von Grenzen | |
lesen wie die Tatsache, dass auch der Film selbst die Grenze zwischen | |
Dokumentar- und Spielfilm durchbricht. | |
Das ist wahrscheinlich die größte Schwäche von „Orlando, meine politische | |
Biografie“: Paul B. Preciado richtet sein Hauptaugenmerk auf eine verkopft | |
wirkende Stilisierung in der Inszenierung seines Films und erzielt in der | |
Absicht, Freiräume abseits eingespielter Sehgewohnheiten zu schaffen, das | |
genaue Gegenteil. | |
Die Form seines essayistischen Films wirkt nicht experimentell offen, | |
sondern einengend. Sie verhindert das Eintauchen in die Erfahrungen seiner | |
Protagonist*innen, indem ihre Geschichten auf die Größe eines Vehikels | |
geschrumpft werden, um das übergeordnete Statement zu unterstreichen. | |
Das Potenzial, wirklich Substanzielles auszusagen, muss sich immer wieder | |
dem Willen zur Dekonstruktion etablierter filmischer Erzählformen zugunsten | |
vermeintlich spielerischer Darbietungen unterordnen. In einer Sequenz etwa | |
betritt ein Orlando in Fragmenten einer Ritterrüstung ein Waffengeschäft, | |
um dort ein „Kennzeichen der Männlichkeit“ zu erwerben. | |
## Entwaffnete Frauen | |
Er verlässt den Laden schließlich mit einer AK-47 – die Einsicht, was es | |
bedeutet, in einer patriarchalischen Gesellschaft ein Mann zu sein, erklärt | |
Preciado aus dem Off: „Nicht nur das Recht, Gewalt auszuüben, sondern eher | |
die Verpflichtung zu haben, dies zu tun.“ Kurz darauf betritt eine weitere | |
Orlando dasselbe Geschäft, um ein Kampfgerät abzugeben. Der | |
Erkenntnisgewinn: „Eine Frau zu werden, heißt entwaffnet zu werden.“ | |
Andere Szenen setzen sich mit der Schwierigkeit auseinander, in einem | |
restriktiven Gesundheitssystem an Hormone zu gelangen, oder aber mit | |
Diskriminierungserfahrungen durch das Angewiesensein auf amtliche | |
Dokumente, die nur binäre Zuschreibungen vorsehen, die sich obendrein bloß | |
durch einen langwierigen Prozess verändern lassen. | |
„Orlando, meine politische Biografie“ zeigt somit auf, was Zuschauer*innen, | |
die am Rande mit queeren Themen vertraut sind, bereits bekannt sein dürfte. | |
Illustriert dies aber auf eine Weise, die zu unzugänglich für ein Publikum | |
sein dürfte, das sich noch nicht damit auseinandergesetzt hat. | |
Anstatt sich die Frage zu stellen, an wen sich dieser Film richtet, sollte | |
man ihn wohl als das verstehen, was er vermutlich auch in erster Linie sein | |
soll: eine emanzipatorische Selbstbehauptung, die keinerlei Wert darauf | |
legt zu gefallen. Und wahrscheinlich genau dadurch Gefallen erregt. | |
17 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Im-Bett-mit-der-Corona-Erkrankung/!5679539 | |
[2] /Rotierende-Betten-und-mehr/!5102074 | |
[3] https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202314130.html | |
## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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