# taz.de -- Queerer pakistanischer Film „Joyland“: Enge und Sprachlosigkeit | |
> Das Kinodrama „Joyland“ war der erste Beitrag Pakistans beim Filmfest in | |
> Cannes. Saim Sadiq erzählt darin von Transfeindlichkeit in seinem Land. | |
Bild: Selbstbewusst in der U-Bahn fahren: Haider (Ali Junejo) und Biba (Alina K… | |
Der junge Pakistaner Haider (Ali Junejo), ein Mann von vielleicht 25 | |
Jahren, hat das Gefühl, dass ihm nichts Eigenes gehört und sein Leben von | |
anderen bestimmt wird. Saim Sadiqs Film „Joyland“ erzählt davon, wie | |
Haiders Sehnsucht wächst, in eine offenere Lebenswelt auszubrechen. Das | |
„erotische Theater“, das ihn mehr und mehr anzieht und für die | |
unterhaltsame Showseite des Films sorgt, ist der patriarchalen Gewalt | |
jedoch nicht weniger unterworfen. | |
Saim Sadiq schildert den Alltag im spannungsreichen Kosmos der fiktiven | |
Mittelstandsfamilie Rana hinter den Mauern der Altstadt seiner | |
pakistanischen Heimatstadt Lahore. Das letzte Wort hat hier immer der | |
Vater, ein verstrubbelter Herrscher im Rollstuhl (Salmaan Peerzada), dem | |
alle Entscheidungen vorzulegen sind, falls nicht der ältere Sohn in die | |
despotische Rolle schlüpft. | |
Ohne unmittelbaren Bezug zu den religiösen Geboten Pakistans entwickelt | |
Sadiq ein emotionales Drama um Haiders Zerrissenheit zwischen seiner Frau | |
Mumtaz (Rasti Farooq) und der patriarchalisch organisierten Großfamilie | |
einerseits und seiner wachsenden Zuneigung zu der selbstbewussten Transfrau | |
Biba (Alina Khan) andererseits. | |
Saim Sadiqs Neugier auf die verfemte Subkultur der Transmenschen in der | |
Nachbarschaft seines Elternhauses in Lahore brachte den 32-jährigen | |
Regisseur nach der Schulzeit in Kontakt mit einer [1][pakistanischen NGO, | |
die sich für deren Rechte einsetzt]. Schon während seines Filmstudiums an | |
der Columbus University in New York drehte er Kurzfilme zu diesem Thema und | |
arbeitete mit seinem Star Alina Khan zusammen. | |
Versiert in den Drehbuchkniffen des international eingängigen | |
Independent-Kinos setzt Sadiq in „Joyland“ seine vorwärtstreibende Story | |
aus Puzzleteilen der gegensätzlichen Milieus zusammen. Schauplatz des | |
Großfamilienlebens sind zwei ineinander verschachtelte, dunkelwarm | |
ausgeleuchtete Häuser rund um den Innenhof, in dem alle zusammenkommen, | |
aber bei permanent offenen Türen auch unter Kontrolle sind. Enge und | |
Sprachlosigkeit löst der Regisseur oft in vielsagendem Blickwechsel auf und | |
lässt seinen Figuren damit viel Raum. | |
## Schroffheit und Verletzlichkeit | |
Lahore ist nur in einer fernen Horizontlinie, in Fensteraussichten auf enge | |
Gassen und nächtliche Autobahnen zu sehen. Die Gegenwelt des „erotischen | |
Theaters“ ist ein altes Kino, auf dessen Bühne Biba trotz wackliger | |
Stromversorgung eine durchchoreografierte Shownummer mit sechs | |
Backgroundtänzern – darunter der ungelenke Frischling Haider – zu proben | |
beginnt. | |
Sadiqs Schlaglichter auf die homophobe Alltagskultur seines Landes sind | |
etwa Bibas Kampf mit dem Theaterchef, als Transfrau auf dem Poster am | |
Eingang sichtbar zu sein, ebenso wie die Szene, in der sie bei einer Party | |
aggressiver Männer als sich prostituierende Tänzerin jobbt, und eine | |
demütigende Szene in der U-Bahn, wo eine Frau sie auf die Plätze für Männer | |
zu verweisen versucht. Haiders Beziehung zu Biba entsteht aus seinen | |
beiläufigen kleinen Interventionen, über die er sich, mehr und mehr von | |
ihrer Schroffheit und Verletzlichkeit fasziniert, auf ihre verführerische | |
Ausstrahlung einlässt. | |
Widersprüchlicher als die stereotype Geschlechterdichotomie beschreibt | |
Sadiq die Binnenwelt der Ranas. Haider ist bis zu seinem Engagement bei | |
Biba als Hausmann verpflichtet. Weil er sonst keinen Job hat, lässt ihn der | |
erstgeborene Bruder seine Verachtung für die Frauenrolle spüren. Haider ist | |
die Nanny seiner Nichten, kocht das beste Linsengericht für die Großfamilie | |
und bügelt die Hemden des arroganten Bruders. | |
Seine Frau Mumtaz arbeitet als Kosmetikerin, möchte lieber auf eine | |
Klimaanlage sparen, als ein Kind zu bekommen, und packt mutiger als er bei | |
der Schlachtung der Ziege zu, die zur Feier der Geburt der vierten Nichte | |
im Innenhof geopfert wird. | |
## Die einzige emanzipierte Frau | |
Die Moderne ist längst gegenwärtig, wenn zum Beispiel Mumtaz’ Schwägerin | |
Nucchi (Sarwat Gilani) in den sozialen Medien surft und mit einem weinenden | |
Auge von ihrem [2][Diplom als Innenarchitektin] spricht, das sie auf Geheiß | |
ihres Mannes nach der Heirat aufgeben musste. Der Vater schließlich nimmt | |
Haiders anrüchigen Job stillschweigend in Kauf, weil die Familie das Geld | |
braucht. | |
Haiders Drama eskaliert, als er seine auf Augenhöhe gegründete Beziehung zu | |
Mumtaz vernachlässigt und sie sogar verrät, als Vater und Bruder sie mit | |
Beginn seines Tänzerjobs zur verantwortlichen Hausfrau bestimmen. Ihre | |
Schwangerschaft nimmt er zu spät und zu halbherzig zur Kenntnis, was | |
Mumtaz, die einzige emanzipierte Frau neben Biba, zu einer radikalen Lösung | |
zwingt. | |
Trotz der Spuren größerer Diversität in Sadiqs Film, mit dem er als erster | |
Pakistaner zu den [3][Filmfestspielen in Cannes 2022] eingeladen war und | |
den Jurypreis und die Queer Palm gewann, bleiben die tradierten | |
Machtverhältnisses in „Joyland“ verfestigt, erscheinen nur am Ende durch | |
kleine Gesten auflösbar. | |
9 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Hasskampagne-gegen-transgender-Community/!5932069 | |
[2] /Star-Oekoarchitektin-Yasmeen-Lari/!5926049 | |
[3] /Abschluss-der-Filmfestspiele-Cannes-2022/!5854862 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
## TAGS | |
Spielfilm | |
Pakistan | |
Transgender | |
Transfeindlichkeit | |
Homophobie | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
Filmfestival | |
Queer | |
Italien | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmfestival in Thessaloniki: Beleidigt, bespuckt und beworfen | |
Das Dokumentarfilmfest in Thessaloniki setzte einen Schwerpunkt auf queere | |
Themen. In Griechenland ist Homophobie jedoch weit verbreitet. | |
Erster Film von Paul B. Preciado: Jenseits von Geschlechtergrenzen | |
Der Queer-Theoretiker Paul B. Preciado hat mit „Orlando, meine politische | |
Biografie“ einen filmischen Essay zu Virginia Woolf verfasst. | |
Neuer Spielfilm von Emanuele Crialese: Verzweifelte Anrufe ins All | |
Der Film „L’immensità“ des italienischen Regisseurs Emanuele Crialese mit | |
Penélope Cruz erzählt von einer dysfunktionalen Familie. | |
Regisseurin über Gender Transition: „Kinder wissen genau, wer sie sind“ | |
Die baskische Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren spricht über Gender | |
Transition bei Kindern. „20.000 Arten von Bienen“ ist ihr Regiedebüt. |