# taz.de -- Neuer Spielfilm von Emanuele Crialese: Verzweifelte Anrufe ins All | |
> Der Film „L’immensità“ des italienischen Regisseurs Emanuele Crialese … | |
> Penélope Cruz erzählt von einer dysfunktionalen Familie. | |
Bild: Clara (Penélope Cruz) und Adri (Luana Giuliani), etwas verknäult | |
Emanuele Crialeses Œuvre ist schmal. Gerade einmal fünf Langfilme und ein | |
Kurzfilm sind seit 1994 entstanden; zwischen seiner letzten Arbeit, | |
„Terraferma“ (2011), und dem nun erscheinenden „L’immensità“ (zu Deu… | |
„Die Unermesslichkeit“ oder „Die Unendlichkeit“) liegen ganze zehn Jahr… | |
Eine Dekade, die Crialese benötigt hat, um sich filmisch der eigenen | |
Familiengeschichte sowie der Beleuchtung seiner sexuellen Identität | |
anzunehmen. | |
Dabei wirkte vieles, das nun in „L’immensità“ aufscheint, bereits in | |
vergangenen Erzählungen. Allen voran vielleicht in „Lampedusa“ (2002), der | |
auf Italienisch den Titel „Respiro“, also „Atem“, trägt: Im Zentrum st… | |
eine Mutter, Grazia, gespielt von Valeria Golino, die in ihrer insularen | |
Dorfgemeinschaft eine Sonderstellung einnimmt: Sie ist den Kindern näher | |
als den Erwachsenen und soll, pendelnd zwischen Euphorie und Depression, in | |
ein Sanatorium verlegt werden. Ihr unstetes Gemüt stört die festen, | |
sicheren Rhythmen einer Welt, in der die Männer den Ton angeben, die Fische | |
verlässlich aus dem Meer gezerrt werden. | |
In einem Interview zu „L’immensità“, der Wettbewerbsbeitrag bei den | |
Filmfestspielen von Venedig war, spricht Crialese von seinem besonderen | |
Zugang zur Kindheit und einer Veränderung, die er auszumachen meint: | |
Seinerzeit seien die Kinder noch Kinder gewesen und weniger an den | |
Erwachsenen orientiert, sie bewohnten ihr eigenes Universum und befanden | |
sich mit den Eltern ausdrücklich nicht auf Augenhöhe, hatten kein | |
Mitspracherecht. | |
Schläge sind sowohl in „L’immensità“ als auch in „Lampedusa“ und | |
„Terraferma“ zu sehen, herrische Väter, hilflose Wut. Und darin immer | |
wieder eine explizite und dennoch heimlich anmutende Bindung zwischen einer | |
Mutter und ihren Söhnen, die Pasquale oder Filippo heißen. | |
## Wie ein Außerirdischer | |
Nun ist es Adri (Luana Giuliani), auf dessen Geburtsurkunde zwar der Name | |
Adriana steht, der sich Fremden aber als Andrea vorstellt und sich im Rom | |
der Siebzigerjahre fühlt wie ein Außerirdischer. | |
Und so ist auch dies die erste Szene des Films: Adri steht auf dem Dach des | |
schicken Neubaukomplexes, in den die Familie gezogen ist, und sendet | |
zwischen Antennen einen verzweifelten Anruf ins All. Er wird nicht gehört. | |
Dafür rückt bald Mutter Clara (Penélope Cruz) ins Bild, eine wunderschöne | |
Halbtote, die dank italienischer Schlager, farbenprächtiger Garderobe und | |
der Liebe zu ihren drei Sprösslingen verlässlich aufschimmert und die | |
Aufmerksamkeit der Handlung auf sich zieht. Von Adri ist sie längst als | |
Unglückliche durchschaut, als vom Vater Felice (Vincenzo Amato) Betrogene | |
und Gedemütigte. | |
Ein Klinikaufenthalt blüht auch ihr. „L’immensità“ ist eine sehr locker | |
arrangierte Studie familiärer Dysfunktion. Hier essen manche sehr viel und | |
andere sehr wenig, kackt einer buchstäblich hinter die Tür, und sollte es | |
so etwas geben wie Freiheit, dann existiert diese ganz sicher fernab der so | |
dunklen wie geräumigen Wohnung. | |
## Zwischen Moderne und Katholizismus | |
Einen fesselnden Erzählfaden lässt Crialese dabei vermissen, Situationen | |
und Schauplätze dienen vielmehr wie Schlaglichter einer Erinnerung. Und | |
Adri, gelegentlich von durchaus einnehmender Präsenz, bewegt sich | |
konzentriert und zugleich paralysiert durch ein Rom, das gespalten scheint | |
zwischen Moderne, Katholizismus und den exzentrischen Fernsehauftritten von | |
Patty Pravo und Raffaella Carrà. | |
Die Einladung, in dieses emotional-ambivalente Gefüge einzutreten, gelingt | |
nur bedingt, die vielen gesetzten Tupfen verbinden sich schwerlich zu einem | |
konzisen Eindruck. Adris Transidentität behandelt Crialese indes | |
selbstverständlich und unaufgeregt. Was für Adri selbst eine große, | |
zugleich irgendwie nebulöse und dann doch sehr eindeutige Sache ist, wird | |
nie unangenehm ausgewalzt. Vielmehr muss man an die gleichnamige Single | |
„L’immensità“ von Johnny Dorelli aus dem Jahr 1967 denken: „Si io lo s… | |
tutta la vita sempre solo non sarò.“ „Ja, ich weiß es, das ganze Leben | |
allein, das wird nicht sein.“ | |
26 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
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