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# taz.de -- Filmfestival in Thessaloniki: Beleidigt, bespuckt und beworfen
> Das Dokumentarfilmfest in Thessaloniki setzte einen Schwerpunkt auf
> queere Themen. In Griechenland ist Homophobie jedoch weit verbreitet.
Bild: Szene aus „Avant-Drag!“
Willkommen in Athen, der Stadt der Touristen und Faschisten, heißt es zu
Beginn von „Avant-Drag!“, einem Dokumentarfilm über zehn
Dragkünstler*innen in Athen, die kreativ, schräg und vor allem
kämpferisch und hochpolitisch ihren Missmut über die prekäre und oft
gefährliche Situation für queere und andere marginalisierte Menschen in
Griechenland auf die Bühne und die Straße bringen.
Und dabei trotz queerer Punkattitüde auf eine lange Tradition
zurückblicken. Drag hat schließlich seinen Ursprung im klassischen
griechischen Theater.
„Avant-Drag!“ war einer der herausragenden Beiträge des Internationalen
Dokumentarfilmfests in Thessaloniki, dessen 26. Ausgabe vom 7. bis 17. März
stattfand. Und einer von zahlreichen, die sich mit [1][queeren Themen]
auseinandersetzten. Die Retrospektive mit dem Titel „Citizen Queer“ war
gleich ganz Dokumentarfilmen mit LGBTQ+-Themen gewidmet.
33 Beiträge aus der Zeit von 1968 bis heute, darunter Raritäten wie der
explizite Experimentaldokfilm „The Homosexual Century“ von Lionel Soukaz
und dem französischen Queertheoretiker Guy Hocquenghem aus dem Jahr 1979.
## Transitionsprozess nach Ende der Militärdiktatur
Aus dem selben Jahr stammt auch einer der griechischen Beiträge, der
hybride Kurzfilm „Betty“ von Dimitris Stavrakas, dem Porträt der Transfrau
Betty Vakalidou und zugleich des ganzen Landes, das sieben Jahre nach dem
Ende der Militärdiktatur selbst einen Transitionsprozess durchmachte.
„AKOE/AMFI: The Story of a Revolution“ zeichnet die Ära der ersten
Generation der 1977 entstandenen LGBTQ-Bewegung in Griechenland nach.
Mit dem Goldenen Alexander für sein Lebenswerk wurde der griechische
Filmemacher Panayotis Evangelidis geehrt, der einen Großteil seiner
Dokumentarfilme mit geringen Mitteln ohne jede Förderung außerhalb seiner
Heimat drehte. Zur Preisverleihung wurde „Tilos Wedding“ gezeigt, den er
vor zwei Jahren während der Pandemie fertigstellte, aus Material, das er
selbst 2008 gefilmt hatte.
Aktivist*innen der LGBTQ+ Bewegung fanden im Bürgermeister der Insel
Tilos einen rührigen Mitstreiter, der sich bereiterklärte, zwei
gleichgeschlechtliche Paare, ein lesbisches und ein schwules, zu trauen,
und damit schnell kirchliche und staatliche Autoritäten gegen sich
aufbrachte.
Der Film erweist sich nun als historische Zeitkapsel, die eine Etappe auf
dem Weg zur Legalisierung dokumentiert. Auf die Frage, inwieweit die Aktion
und der Film zum politischen Umschwung beigetragen haben, gibt sich
Evangelidis allerdings bescheiden. „Es war vor allem Europa, das mit seinen
Vorgaben unsere Regierung zum Handeln gezwungen hat.“
Ein denkwürdiger Abend im Olympicon Theater, an dem Weggefährt*innen
Evangelidis die Ehre erwiesen. Die Laudatio hielt der queere Regisseur
Panos H. Koutras, zu dessen Spielfilmen wie dem Transdrama „Strella“ oder
dem frühen Kulttrashfilm „Der Angriff der Riesenmoussaka“ Evangelidis die
Drehbücher geschrieben hatte.
## Filmischer Blick auf die Insel Lesbos
Im Publikum war auch die lesbische Aktivistin Maria Katsikadakou, die als
Maria Cyber seit Jahrzehnten für Gleichberechtigung kämpft. Zwei ihrer
Kurzfilme liefen auf dem Festival, „Dildo Riot“ sowie „10 Years Athens
Pride“, in dem Teilnehmer*innen der Parade schildern, wie sich die
Situation verändert hat, darunter auch Zak Kostopoulos, der da noch an eine
bessere Zukunft glaubt. Vier Jahre vor seiner Ermordung.
[2][Queere Themen und Ästhetiken] fanden sich über das ganze Festival
verstreut. Tzeli Hadjidimitriou wirft in „Lesvia“ einen Blick auf die
griechische Insel Lesbos und ihre Vergangenheit und Gegenwart als Ort
lesbischer Selbstbestimmung und die Konflikte zwischen den Generationen.
Der renommierte Choreograf Dimitris Papaioannou präsentierte seine
pansexuelle Videoinstallation „Inside“ sowie zwei Kurzfilme zu
Tanzstücken, in denen er sich mit Identität und Sichtbarkeit
auseinandersetzt. Und bei einer Podiumsveranstaltung sprachen
Vertreter*innen aus unterschiedlichen Bereichen der Filmbranche über
die Situation queerer Filmemacher*innen und wie Festivals und andere
Institutionen für mehr Inklusion und Diversität sorgen können.
Wie wichtig die Basisarbeit der LGBTQ+-Aktivist*innen und die
Initiative des Festivals sind, wurde gleich am ersten Wochenende
schmerzlich klar. Am Samstagabend wurde ein nonbinäres Paar auf dem
populären Aristotelesplatz im Herzen der Stadt und unmittelbar vor dem
historischen Olympion-Theater, dem Premierenkino des Festivals, von rund
200 Jugendlichen beleidigt, bespuckt und mit Flaschen beworfen. Die beiden
Personen konnten, körperlich unverletzt, in ein Schnellrestaurant flüchten,
bis die Polizei eintraf.
Rund zwei Dutzend Angreifer wurden festgenommen, darunter auch zehn
Volljährige. Für den 22. März ist eine erste Verhandlung angesetzt.
## Reaktionäre Vorfälle
Wie viele andere aus der Community hat der Mobangriff auch Maria Cyber
schockiert und wütend gemacht. „Avant-Drag!“-Regisseur Fil Ieropoulos
glaubt nicht, dass sich die Gesellschaft so bald ändern wird. „Das ist die
Realität für queere Menschen in Griechenland.“ Die Festivalleitung hat in
einem Statement die „homophobe und rassistische Gewalttat“ aufs Schärfste
verurteilt, ebenso Bürgermeister Stelio Angeloudis.
Der queerphobe Übergriff blieb nicht der einzige reaktionäre Vorfall
während des Festivals. In „Stray Women“ setzt sich Elia Psykou anhand
dreier Frauen mit Abtreibung, künstlicher Befruchtung und gestütztem Suizid
auseinander, die für Teile der Gesellschaft noch immer tabu sind.
Ein mutiger, ganz unreißerischer Film, dessen Plakat bereits vorab für
Wirbel sorgte. Es zeigt eine schwangere Frau mit blanker Brust und
Lendenschurz, in Jesuspose ans Kreuz genagelt. Für die Kirche und rechte
Gruppierungen Provokation genug, gegen den Films zu mobilisieren. Zur
Premiere kam es vor dem Kino zu massiven Protesten, die Vorstellung konnte
aber stattfinden.
Die Stimmung ist aufgeheizt in Thessaloniki, der nach Athen zweitgrößten
Stadt Griechenlands, dabei deutlich konservativer und stärker von der
Kirche dominiert. Im Februar hatte Griechenland als erstes orthodoxes Land
die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Nach jahrzehntelangem Kampf
gegen die Kirche und die Rechte, die beide großen Einfluss haben und noch
immer auf breite Unterstützung in der Bevölkerung bauen können.
Dass es ausgerechnet die amtierende konservative Regierung war, die das
Gesetz nun durchbrachte, gegen die Stimmen der kommunistischen Partei,
gehört zu den Widersprüchen der Gesellschaft.
## Gespaltene Stadt
Für Yorgos Krassakopoulos, Leiter des internationalen Festivalprogramms,
ist es mehr als nur ein Dekret von oben: „Gesetze ändern Haltungen“, sagt
er, wenn auch nur sehr mühsam. Das Festival positioniert sich bereits seit
Langem klar für Diversität und Offenheit und hat damit einen Nerv
getroffen. Die Kinos und Veranstaltungsorte waren gut besucht, der
Austausch rege.
So gespalten die Stadt zwischen reaktionären und progressiven Lagern ist,
gibt es auch Zeichen der Hoffnung. Einen Tag nach dem Angriff auf das
queere Paar gab es eine spontane Solidaritätsdemo, zu der über 1.000
Menschen kamen, Festivalgäste und Aktivist*innen, aber auch reguläre
Einheimische.
Und im Juni findet in der Stadt der Europride statt, zum ersten Mal in
einem christlich-orthodoxen Land. Neun Tage volles Programm mit Konzerten,
Workshops, Menschenrechtskonferenz und Parade, zu der mehrere Zehntausend
Menschen erwartet werden. Und die nun vermutlich noch politischer wird.
Filomeni Liatsa, Sprecherin der NGO Thessaloniki Pride, nennt vor allem die
fehlende sexuelle Aufklärung an Schulen als Problem und hofft, mit vielen
Ehrenamtlichen und trotz fehlender staatlicher Unterstützung ein Event zu
organisieren, das europaweit große Aufmerksamkeit bekommt, aber auch in der
Bevölkerung etwas bewegt. Es gibt noch viel zu tun.
18 Mar 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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