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# taz.de -- Musiktheater in Athen: Oper mit Aussicht
> Athen verfügt über spektakuläre Spielstätten für Musiktheater, dank
> schwerreicher Mäzene. Gezeigt wird „Turandot“ oder ein Schubert-Abend mit
> Geflüchteten.
Bild: Die antiken Baumeister verstanden etwas von Akustik: das Odeon Theater am…
„Diese Schuhe müssen Sie aber ausziehen!“, sagt die Dame am Einlass streng
und deutet auf die mit – eigentlich ziemlich bequemen – Absätzen versehenen
Sandalen der ausländischen Besucherin. Ein schneller Blick in die umgebende
Menge belegt, dass offenbar alle anderen Menschen in Sneakers oder
Trekkingsandalen zur abendlichen Opernvorstellung gekommen sind.
„Ich habe schon soo viele Leute diese Stufen hinunterfallen sehen!“, werden
wir denn auch am nächsten Morgen eine Reiseführerin erzählen hören, während
wir von oben auf das steinerne Theater-Halbrund hinunterblicken.
Das Odeon des Herodes Atticus, kurz Herodeon genannt, liegt direkt
unterhalb der Akropolis, und die dekorativ in die Luft ragende, nur
teilweise verfallene Ruine seines Bühnenhauses gehört zur bekannten antiken
Skyline Athens.
## Mäzenatentum vor 2.000 Jahren
Die Tatsache, dass das Bauwerk bis zum heutigen Tag nicht nur intensiv
genutzt wird, sondern die wohl beliebteste Spielstätte der Stadt überhaupt
ist, belegt eindrucksvoll, dass privates Mäzenatentum sich in lang
anhaltendem Nachruhm auszahlen kann. Herodes Atticus, der Stifter dieses
ältesten noch erhaltenen [1][antiken Odeon-Theaters,] starb vor fast 2.000
Jahren, doch noch immer ist sein Name in aller Munde.
Unter anderem ist das Theater des Herodes Atticus Spielort des Athens
Epidaurus Festivals, auf dem alljährlich Weltstars der klassischen
Musikszene auftreten; und stets geht dem Festival eine Produktion der
Griechischen Nationaloper voraus. In diesem Jahr darf Giacomo Puccinis
„Turandot“ in den Mauern des Herodeon ihre Freier in den Tod schicken.
Zwei Jahre lang hat das Kreativteam des Opernhauses die Inszenierung von
Andrei Șerban vorbereitet – eine lange Zeit, die unter anderem gebraucht
wurde, um die aufwendigen Bauten herzustellen. Ein Bühnenvorbau ganz aus
künstlichen Felsquadern ist entstanden, die optisch nicht von den echten
Steinbauten im Hintergrund zu unterscheiden sind.
## Fächern gegen heißen Frühsommerabend
Definitiv echt wiederum ist der Marmor, aus dem das 5.000 Menschen fassende
Auditorium besteht. Tatsächlich erweisen sich die Stufen, die das Publikum
zu erklimmen hat, als steil, glatt und schmal; ein gewisses
Verletzungsrisiko ist nicht von der Hand zu weisen. Unter bloßen Fußsohlen
fühlt sich das von der Tagesglut noch warme Gestein herrlich an. Kühles
Gestein wäre noch schöner, denn kein Lüftchen weht an diesem heißen
Frühsommerabend. Die Menschen tun ihr Bestes, um dem Luftstau mit
mitgeführten Fächern abzuhelfen.
Aber drei Stunden lang aufrecht auf den marmornen Stufen eines antiken
Auditoriums zu sitzen, dicht an dicht zwischen andere, Extrawärme spendende
Körper geschichtet, ist auf jeden Fall physisch herausfordernd. Dennoch
harren alle aus, denn das Bühnengeschehen fesselt; und außerdem haben die
DarstellerInnen es noch deutlich schwerer in ihren opulenten, stoffreichen
Kostümen (Chloé Obolensky), die ein Fest fürs Auge, aber unter diesen
klimatischen Bedingungen sicher nicht ganz leicht zu tragen sind.
Den Tänzerinnen und Tänzern steht die Erleichterung ins Gesicht
geschrieben, als sie zum Schlussapplaus wenigstens ihre Masken abnehmen
können. Ihrer Performance hatte die Bürde der mehrfachen Kleidungsschichten
nichts anhaben können, und auch die SängerInnen sind ausgezeichnet
disponiert.
Catherine Foster als Turandot und Riccardo Massi als Prinz Calaf
beeindrucken mit Stimmstärke, die junge Sopranistin Maria Kosovitsa als
Sklavin Liu aber berührt mit der größten lyrischen Gestaltungskraft. Das
Herodeon selbst beweist mit der Wand seiner halb verfallenen Skene, von der
die Klänge klar und deutlich in den Trichter des Zuschauerraums
hinaufgeschickt werden, dass die antiken Baumeister viel von Akustik
verstanden.
## Multikulturelles jugendliches Ensemble
Szenenwechsel. Am folgenden Abend wuseln, im Süden der Metropole,
Jugendliche und ihre Familien durchs Foyer des Hauses der Griechischen
Nationaloper. „(Another) Winter Journey“ („Ένα (άλλο) χειμων…
nennt sich die Aufführung, die gleich stattfinden soll und für die ein
multikulturelles jugendliches Ensemble lange geprobt hat. Wohlbehütete
Athener Teenager gehören ebenso dazu wie minderjährige Geflüchtete.
Franz Schuberts „Winterreise“ hat als Grundlage gedient für ein vom
Komponisten Panos Iliopoulos erstelltes Medley aus Ensemble- und wenigen
Solonummern, in dem es um die Reise des Lebens geht, die für manche der
Jugendlichen schon so schwer gewesen ist.
Leitmotivisch zieht sich Schuberts Leierkastenmelodie durch die Partitur.
Ein interkultureller Erwachsenenchor intoniert Schubertsche und andere
Weisen, die Jugendlichen tanzen, singen und sprechen, stellen sich immer
wieder hintereinander auf, reichen das Mikro durch, sagen in vielen
Sprachen existenzielle Dinge.
## Jugendliche und ihre Fluchtgeschichten
Das Schlimmste in seinem Leben sei die [2][„Zeit auf dem Schiff“] gewesen,
sagt ein Junge, ein anderer spricht von Depression. Ein junger Afrikaner
artikuliert so glasklar, dass deutlich wird, wie dringend er verstanden
werden will: „You beautiful people of Greece, you are the best thing in my
life.“ Es ist sehr berührend, ebenso die Tatsache, dass eine junge Frau am
Bühnenrand steht und die komplette Vorstellung in Gebärdensprache
dolmetscht.
Das Finale besteht in einer mitreißend rhythmisierten, ins Optimistische
verfremdeten Version von Schuberts todessehnsüchtigem „Der Wegweiser“,
hier kraftvoll und lebensbejahend vertanzt. Am Ende klatscht, johlt und
pfeift das begeisterte Publikum heftig, aber (angenehm) kurz, genau wie das
Publikum des Vorabends bei der stets ausverkauften „Turandot“. Andere
Länder, andere Sitten.
Das Mittelmeer, über das manche der „Winter Journey“-Jugendlichen
Griechenland erreicht haben dürften, liegt nur wenige hundert Meter
entfernt, man sieht es vom Dach der Oper aus. Dieses Dach ist ein
besonderer Ort, denn das Operngebäude stellt nur einen Teil eines größeren
Ganzen dar. [3][Star-Architekt Renzo Piano] hat auf dem einstigen Gelände
einer Pferderennbahn in den Jahren 2008 bis 2016 ein Gebäudeensemble
geschaffen, das außer der Griechischen Nationaloper – die das einzige
Opernhaus des Landes ist – auch die Nationalbibliothek beherbergt.
## Schenkung der Stavros-Niarchos-Stiftung
Beide Häuser, äußerlich durch Komplettverglasung kulturelle Transparenz
signalisierend, sind baulich miteinander verbunden, teilen sich das große
begehbare Dach und sind integriert in ein weitläufiges Parkgelände.
„Stavros Niarchos Foundation Cultural Center“ nennt sich das Ensemble. Es
ist eine gigantische Einzelschenkung an den griechischen Staat, eine Spende
der Stavros-Niarchos-Stiftung, deren Stifter und Namensgeber, ein
schwerreicher Reeder, 1996 starb.
Der Stadtteil, in dem Kulturzentrum und Park liegen, heißt Kallithea, das
bedeutet „schöne Aussicht“. Davon war allerdings nichts zu sehen, als Renzo
Piano das Projekt übernahm. Eine große innerstädtische Magistrale trennt an
dieser Stelle Athen vom Meer. Also schickte Piano sich an, die Aussicht
wiederherzustellen und die Stadt zumindest visuell wieder mit dem Wasser zu
verbinden.
Der höchste, dem Meer am nächsten gelegene Punkt des Ensembles liegt
nunmehr genau über dem Opernhaus: eine riesige Aussichtsterrasse, die
„Faros“ genannt wird, Leuchtturm. Sie ist für alle, die den schnellen
Aufstieg wollen, erreichbar über einen gläsernen Fahrstuhl beim „Agora“
getauften Platz zwischen Oper und Bibliothek. Unter anderem gibt es auf der
Dachterrasse einen großen verglasten (klimatisierten) Pavillon, in dem
Sessel stehen, Bücher und ein Klavier zum spontanen Gebrauch.
Außerhalb des Pavillons aber wird man hier oben, dem schönen Meeresblick
zum Trotz, brutal mit den Bausünden der Vergangenheit konfrontiert. Die
mehrspurige Stadtautobahn, die zwischen Kulturzentrum und Meer liegt, ist
nicht zu übersehen und erst recht nicht zu überhören.
## Aussichtsterrasse mit Straßenlärm
Die visuell formidable Architektenidee, den „Leuchtturm“ mit einem
gigantischen freischwebenden Dach zu krönen, wirkt sich akustisch fatal
aus, da die große waagerechte Fläche, darin der Skene des antiken Theaters
vergleichbar, den Straßenlärm einfängt und auf die unter dem Dach liegende
Aussichtsterrasse reflektiert, somit verdoppelt.
Um so schöner ist es, wenn das Getöse beim Abstieg allmählich immer leiser
wird. Denn das Dach ist nicht nur begehbar, sondern auch nahtlos und
fußläufig mit dem leicht ansteigend angelegten Park verbunden. Dort spenden
Büsche und Bäume viel Schatten, hier und da kann Kunst betrachtet werden,
zahlreiche Spielflächen gibt es, zahllose Sitzgelegenheiten, und im Café
kann entspannt ein Nach-Opern-Getränk nehmen, wer es für einen Sundowner
auf dem Dach zu laut fand. Auf dem langen Wasserbecken, das an Park und
Kulturzentrum angrenzt, wird Kajak gefahren.
Kein Tycoon, tot oder lebendig, hätte seine Reichtümer menschenfreundlicher
anlegen können. Ob Stavros Niarchos in fernerer Zukunft ein Nachruhm zuteil
wird, der es mit dem des Herodes Atticus an Dauerhaftigkeit aufnehmen kann,
ist allerdings zweifelhaft. Jedenfalls ist nur schwer vorstellbar, dass
unsere heutigen Glas-und-Stahlbeton-Bauten auch in 2.000 Jahren noch
bespielbar sein werden.
Die Recherche für diesen Artikel wurde von der Griechischen Nationaloper
unterstützt.
13 Jul 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Granzin
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